Ideologie und Verbrechen. Nationalsozialismus und Kommunismus im Vergleich

Ideologie und Verbrechen. Nationalsozialismus und Kommunismus im Vergleich

Organisatoren
Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens, Passau; Hanns-Seidel-Stiftung, München
Ort
Passau
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.11.2010 - 20.11.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Munke, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität, Chemnitz

Die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts waren ideologisch begründete Systeme. Nationalsozialismus und Kommunismus forderten Menschenopfer bisher nicht gekannten Ausmaßes. Doch wie hängen ideologische Theorie und verbrecherische Praxis zusammen? Im Fall des Nationalsozialismus wird das Verbrechen als programmatisch verstanden. Gleichwohl werden dessen theoretische Grundlagen gemeinhin als so dürftig betrachtet, dass sie als Fundament für das System nicht getaugt hätten. Im Fall des Kommunismus werden die Verbrechen oft als eher machtpolitisch begründet oder historisch zufällig zustande gekommen gedeutet. Ein notwendiger Zusammenhang mit der zugrunde liegenden Ideologie, dem Marxismus, wird damit negiert. Obwohl sich beide Systeme also dadurch auszeichneten, dass in ihnen eine Weltanschauung in praktische Politik transformiert werden sollte, wird die Bedeutung dieser Weltanschauung seitens der Forschung massiv relativiert. Die Verbrechen finden letztlich so keine Erklärung, obwohl sie in ihrer durchgeführten Form als Klassenmord und als Rassenmord wohl kaum anders denn als ideologisch motiviert verstanden werden können. Dieses Paradoxon wurde jetzt von der interdisziplinär angelegten Jahrestagung der Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens (DGEPD) – durchgeführt in Kooperation mit der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung – thematisiert, die politologische, historische, philosophische, soziologische und juristische Perspektiven miteinander verband.

Dass überhaupt ein genuiner Zusammenhang zwischen Ideologie und Verbrechen hergestellt werden kann, ist in der Forschung nicht unumstritten. Sei gerade im Bezug auf den Nationalsozialismus nicht vielmehr von einer „Eigendynamik der Gewalt“ auszugehen? Ein psychologischer Ansatz allein würde jedoch zu kurz greifen, um die durch totalitäre Systeme verübten Untaten zu erklären zu versuchen, führte BARBARA ZEHNPFENNIG (Passau) einleitend aus. Daher versuchte die Tagung in drei aufeinander aufbauenden Sektionen, umfassendere Erklärungsmuster zu entwickeln. Im ersten Themenblock unter der Überschrift „Ideologisches Denken“ widmete sich ROLF ZIMMERMANN (Konstanz) dem titelgebenden Spannungsverhältnis aus moralphilosophischer Perspektive. Die NS-Ideologie mit ihrer genozidalen Mentalität habe als normative Grundlage für Verbrechen eine eigene Moral begründet und vorherige moralische Traditionen verworfen. Sie stelle damit angesichts des „Gattungsversagens“ der herkömmlichen Moralvorstellungen einen „moralischen Gattungsbruch“ dar. Im Bolschewismus seien demgegenüber eine „soziozidale“ Tendenz und damit eine „Gattungszersplitterung“ erkennbar. Der universalistische Anspruch dieser Ideologie müssen daher zurückgewiesen werden. Beide Systeme wiesen als „Erlösungsmoralen“ einen gemeinsamen Grundzug auf, der auf eine „Erlösung des Menschen im Diesseits“ abziele.

HENDRIK HANSEN (Regensburg/Passau) versuchte in diesem Zusammenhang die Frage zu beantworten, ob Karl Marx als Ideologe bezeichnet werden könne. Zwar werde eine solche Zuschreibung meist zurückgewissen, da Marx ja eben gerade für wissenschaftliche Objektivität stehe. Nach Hansen seien allerdings in „Marx totaler Theorie bereits alle Merkmale einer totalitären Ideologie erfüllt“. Auch nach seinem eigenen Verständnis des Begriffs müsse der Autor als Ideologe verstanden werden, der seine Theorie gegen jede Kritik immunisiert und damit von der Wirklichkeit entkoppelt habe. Etwaige Einwände gegen eine solche Charakterisierung – beispielsweise anhand des Marx’schen Menschenbildes oder der Behauptung, er sei „nur“ Theoretiker gewesen – seien mit Blick auf die Veröffentlichungen von Marx widerlegbar. Hier werde der Wille deutlich, Andersdenkenden die eigenen Vorstellungen radikal aufzuzwingen, wobei alle entsprechenden Maßnahmen bis hin zur Gewaltanwendung als ethisch geboten erscheinen würden. Auch der Übergang vom „Klassenkampf“ hin zum „Rassenkampf“ sei mit Blick auf die slawischen Völker hier bereits angelegt.

Einem praktischen Beispiel der Vermittlung von Ideologie widmete sich HANS-CHRISTOF KRAUS (Passau) in seiner Betrachtung der pädagogischen Umsetzung des nationalsozialistischen „Kampf ums Dasein“-Konzepts. Politische Erziehung und Indoktrination hätten eine Grundlage für die spätere Verübung von Verbrechen gebildet. Ein wichtiges Element dabei seien sozialdarwinistische Auffassungen gewesen, die in bewusst vergröberter Übertragung der Darwin’schen Prinzipien die „Erhaltung des rassischen Daseins“ zum Zweck gehabt hätten. Zur Erziehung der Jugend sollte diese organisatorisch vollkommen erfasst werden. Die Vermittlung der ideologischen Inhalte geschah beispielsweise mit Hilfe von Leseblättern, die durch naturalistische, anthropologische und moralische Reduktionen eindeutige Feindbilder konstruierten.

Entgegen der weitverbreiteten Auffassung, bei Adolf Hitlers „Mein Kampf“ handle es sich um widersprüchliches und verworrenes Machwerk, deutete BARBARA ZEHNPFENNIG (Passau) die darin niedergelegte Weltanschauung des Diktators als ein geschlossenes, monistisches, bewusst gegen den Bolschewismus konstruiertes System. Es besäße auf einem scheinbar „irrationalen Untergrund“ einen „rationalen Kern“. Ihre Genese hätte diese Anschauung in den Wiener Jahren Hitlers erfahren. Die von ihm als antideutsch empfundenen, nationalen und sozialen Spannungen der späten k.u.k. Monarchie wären seiner Ansicht nach planmäßig durch „marxistisch-jüdische Umtriebe“ geschürt worden. Angesichts dieser Bedrohung stünde ein „Endkampf“ bevor, in dem sich die arische Rasse als „schöpferische Kraft“ gegen die „zerstörerische Kraft“ des durch Juden geführten Marxismus behaupten müsse. Die Vernichtung der Juden stellte demnach ideologisch das primäre Ziel Hitlers dar – alle anderen Ziele waren diesem unterzuordnen.

Damit wurde auf die zweite Sektion der Tagung übergeleitet, in der die praktischen Auswirkungen dieser ideologischen Äußerungen thematisiert wurden. FRANK-LOTHAR KROLL (Chemnitz) befasste sich mit eben jenem antisemitischen Kern der nationalsozialistischen Ideologie, der den Boden für die „Endlösung“ bereitet habe. Auf der Basis antisemitischer Tendenzen des späten 19. Jahrhunderts – die eine Neuerung im Vergleich zum „klassischen“ Antijudaismus darstellten – und befördert durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, hätten sich unterschiedliche Ausprägungen des „paranoiden Antisemitismus“ der Nationalsozialisten entwickelt, die jedoch alle auf den Untergang des Judentums abzielten. Bei Adolf Hitler sei ein rassischer Antisemitismus nachzuweisen, der die Notwendigkeit der „Ausrottung“ der Juden betone. Joseph Goebbels hätte demgegenüber einen mit antibürgerlichen und antikapitalistischen Elementen verbundenen sozial-ökonomischen Antisemitismus propagiert. Bei Alfred Rosenberg wiederum hätte eine an den „klassischen“ Antijudaismus anknüpfende religiöse Konzeption vorgeherrscht.

MICHAEL STOLLEIS (Frankfurt am Main) thematisierte den Zusammenhang von Ideologie und Verbrechen am Beispiel des Öffentlichen Rechts in der DDR. Ab 1949 wurden im Rahmen des Aufbaus einer „sozialistischen Gesetzlichkeit“ mehr als 80 Prozent des in diesem Feld wirkenden Personals ausgetauscht, die Universitäten und Bibliotheken „ideologiekritisch“ gereinigt, die Protagonisten unter massiven staatlichen Druck gesetzt. Eine wichtige Zäsur bildete die „Babelsberger Konferenz“ vom April 1958, mit der jede Autonomie der Rechtswissenschaften beseitigt und die Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgeschaltet werden sollte. Eine „Entstalinisierung“ des Rechtswesens wie in anderen Ländern des Ostblocks hätte in der DDR nicht stattgefunden, erst nach dem Bau der Mauer sei es zu gewissen Lockerungen gekommen. Zwar hätte es einige „ideologieferne“ Refugien wie die Rechtsgeschichte gegeben, doch auch hier sei weitgehend eine „ideologisch korrekte“ Arbeit erfolgt.

Die dritte Sektion der Tagung fragte nach ideologietheoretischen und -praktischen Analogien zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus. FRIEDRICH POHLMANN (Freiburg im Breisgau) schilderte beide Ideologien als Produkte des Ersten Weltkriegs, als dogmatische Weltanschauungssysteme auf pseudowissenschaftlichem Grund, die manichäische Freund-Feind-Verhältnisse herausgebildet hätten. Aus der Marx’schen totalen Theorie als „philosophischem Gedankengebäude ohne empirische Grundlage“ hätten sich der Leninismus und der Stalinismus als totalitäre Ausformungen in Verbindung mit religiösen Kultelementen entwickelt. Auch im Nationalsozialismus als radikalste Ausprägung der faschistischen Bewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seien solche Elemente einer „anthropozentrischen religiösen Religion“ nachweisbar. Die jeweils andere Ideologie sei dabei mitentscheidend für die konkrete eigene Ausprägung gewesen. Beide bildeten Aktionsprogramme mit utopischen Zielen, die Elemente der Moderne und traditioneller Konzepte verbanden.

MANUEL BECKER (Bonn) untersuchte Ähnlichkeiten und Unterschiede beider Ideologien am Beispiel der Instrumentalisierung ihrer jeweiligen Feindbilder. Für den Nationalsozialismus diagnostizierte er vier zentrale Bilder, die konkurrierende Gegengewichte gebildet und sich in der daraus resultierenden, konkreten Ausgrenzungspolitik unterschieden hätten: das Judentum, den Bolschewismus, das Christentum sowie die „Ideen von 1789“. In der DDR hätte gegenüber diesem „Konglomerat“ von Feindbildern der Kampfbegriff des „Antifaschismus“ als Gründungsmythos, Staatsdoktrin und praktikables Herrschaftsinstrument ein zentrales Phänomen gestanden. Als Unterschiede arbeitete Becker die unterschiedliche Mobilisierungskraft (auch in zeitlicher Hinsicht) der Feindbilder sowie den Gegensatz von „metaphysischer Geschichtsdogmatik“ und „konkret-pragmatischer Geschichtspolitik“ heraus. Ähnlichkeiten hätten im Rekurs auf historisch begründete, teilweise identische Feindbilder, in einer drastischen Komplexitätsreduktion sowie einem ausgeprägten Manichäismus gestanden.

Den praktischen Auswirkungen der Ideologie auf die staatlichen Beziehungen zwischen „Drittem Reich“ und Sowjetunion widmete sich BOGDAN MUSIAL (Warschau). Beide Systeme hatten eine territoriale Expansion in ähnlichen Räumen vorgesehen, die unweigerlich zum Krieg führen musste. Bis dahin seien jedoch zahlreiche kooperative Elemente vor allem auf wirtschaftlicher Ebene festzustellen, die bis ins Jahr 1940 hinein auch die Lieferung kriegswichtiger Güter umfassten. Die Modernisierung der „Roten Armee“ sei maßgeblich auf die Verwendung deutscher Technologien zurückzuführen. Auch der deutsche Angriff auf Polen sei ohne die vertragliche Einigung mit der Sowjetunion undenkbar gewesen. Das Verhältnis beider Seiten sei weiterhin durch zahlreiche Fehleinschätzungen geprägt. Stalin hätte die antibolschewistische Propaganda des NS-Regimes als „Maskerade“ für einen eigentlich geplanten Konflikt mit den westeuropäischen Staaten abgetan und einen deutschen Angriff auf die Sowjetunion für unmöglich gehalten, da Hitler – wie in „Mein Kampf“ niedergelegt – niemals einem Zweifrontenkrieg zugestimmt hätte. Hitler wiederum hätte die die Kapazitäten der „Roten Armee“ entscheidend unterschätzt.

JOCHEN STAADT (Berlin) knüpfte abschließend an den Vortrag von Manuel Becker an und befasste sich mit dem Phänomen des Antifaschismus als Legitimationsinstrument der SED-Diktatur. Das Konzept sei propagandistisch ausgenutzt worden, um die DDR als „besseren deutschen Staat“ darzustellen. Beispiel dafür seien zahlreiche Schauprozesse in Abwesenheit gegen westdeutsche Akteure, womit die Kontinuität der Eliten im „Dritten Reich“ und der Bundesrepublik aufgezeigt werden sollte. In der DDR galten die NS-Funktionäre offiziell als „verschwunden“. Inoffiziell jedoch waren auf zahlreichen Ebenen personelle Kontinuitäten nachweisbar, die in der Staatsführung auch bekannt gewesen seien. Aufgrund dieser „Nicht-Auseinandersetzung“ mit der Vergangenheit hätten Denkmuster der nationalsozialistischen Ideologie überleben können, sichtbar etwa an antiisraelischen Positionen in der Außenpolitik oder der Aussage des SED-Funktionärs Anton Ackermann (1905-1973): „Wir sind die wahren nationalen Sozialisten“. Auch die Verharmlosung von antisemitischen Zwischenfällen als „importierter Faschismus“ hätte eine wirkliche Problematisierung verhindert und zumindest teilweise den Boden für die heutige starke Verwurzelung neonazistischer Denkpositionen in Teilen Ostdeutschlands bereitet.

Im Tagungsverlauf wurde deutlich, dass der Kommunismus in seiner praktischen Ausprägung als genuin verbrecherisches System in der öffentlichen Wahrnehmung weit weniger präsent ist als der Nationalsozialismus. Dabei erscheint gerade die Ideologie als Trennlinie. Hier würden noch zahlreiche „Bewältigungsrückstände“ bestehen, wie es JOACHIM RÜCKERT (Frankfurt am Main) formulierte. Dies werde laut Bogdan Musial auch an der (internationalen) Vertreibungsdebatte deutlich, in der der Einfluss der Sowjetunion häufig keine oder nur eine nachgeordnete Rolle spiele. Weiterhin wurde festgestellt, dass neben den für beide Systeme zentralen, häufig thematisierten Begriffen der „Gleichheit“ und „Ungleichheit“ auch das Konzept der „Freiheit“ neu problematisiert werden müsse – eine Frage, die gerade für demokratische Staaten von hoher Relevanz ist. Als sehr fruchtbar erwies sich der interdisziplinäre Ansatz, der – jenseits mancher begrifflicher Unterschiede – einander ergänzende Perspektiven auf die untersuchten Phänomene zu vereinen vermochte und zahlreiche neue Denkanstöße bot, die in der Zukunft weiter verfolgt werden sollten.

Konferenzübersicht:

Walter Schweitzer (Passau): Grußwort

Gerhard Hirscher (München), Barbara Zehnpfennig (Passau): Einführung

Rolf Zimmermann (Konstanz): Totalitäre Ideologie und Praxis als Problem der Moralphilosophie

Hendrik Hansen (Regensburg / Passau): Karl Marx – ein Ideologe?

Hans-Christof Kraus (Passau): Erziehung zur Amoralität. Bemerkungen zur pädagogischen Umsetzung der nationalsozialistischen „Kampf ums Dasein“-Ideologie

Barbara Zehnpfennig (Passau): Hitlers Weltanschauung

Eckhard Jesse (Chemnitz): Der Zusammenhang von Ideologie und Verbrechen in Totalitarismustheorien

Gerd Koenen (Freiburg im Breisgau): Ideologie und Terror im Kommunismus – eine Hinterfragung

Frank-Lothar Kroll (Chemnitz): Der Weg in den Holocaust. Rassismus und Antisemitismus in der Ideologie der Nationalsozialisten

Michael Stolleis (Frankfurt am Main): Sozialistische Gesetzlichkeit. Das Öffentliche Recht der DDR

Friedrich Pohlmann (Freiberg im Breisgau): Der Zusammenhang der Ideologien

Manuel Becker (Bonn): Der totale Feind. Geschichtsdogmatik und Ausgrenzungspolitik im Nationalsozialismus und im SED-Staat

Bogdan Musial (Warschau): Kooperation und Kampf. Das Verhältnis von Sowjetunion und NS-Staat

Jochen Staadt (Berlin): Anti-Faschismus als Gründungsmythos und Legitimation der SED-Diktatur


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