Biohistorical Anthropology: DNA and Bones in Cultures of Remembrance

Biohistorical Anthropology: DNA and Bones in Cultures of Remembrance

Organisatoren
Marianne Sommer, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Historisches Seminar, Universität Zürich / Gesine Krüger, Historisches Seminar, Universität Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
08.10.2010 - 09.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Sandra Vera Nicolodi, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Historisches Seminar, Universität Zürich

In einer angenehmen Workshop-Atmosphäre diskutierten Teilnehmer/innen aus verschiedenen Disziplinen und mit unterschiedlich regionaler Schwerpunktsetzung lebhaft über ähnliche Problemfelder. Wie MARIANNE SOMMER (Zürich) in ihrer Begrüssung und Einleitung an Hand von Beispielen aus ihrer eigenen Forschung zur „Geschichte im Körper“ veranschaulichte, zielte die Konferenz auf Fragen danach, wie Körpersubstanzen, insbesondere Gene und Knochen, als Geschichtsträger in lokal und historisch spezifischen Erinnerungskulturen wirken. Gerade vor dem Hintergrund der so genannten „genetischen Revolution“, Projekten wie dem „Human Genome Diversity Project“ und „Genographic Project“ sowie nicht zuletzt eines sich nun auch in Europa allmählich etablierenden Marktes für kommerzielle Ancestry Tracing Anbieter stelle sich die Frage nach den „biohistories“ neu. Wie Marianne Sommer betonte, sind DNA und Knochen nicht nur epistemische Objekte, sondern auch politische, die in verschieden Kontexten mannigfaltige Wirkungen entfalten. Was bedeutet es, wenn, wie GESINE KRÜGER (Zürich) unterstrich, wir selbst als historische Dokumente gelesen werden? Ihr Projekt zu „Material Restitution, Politics of Identity and the Desire for Historical Completeness“ zeigt auf, dass Knochen gerade im Rahmen jüngerer Restitutionsforderungen und einer Neo-Ethnisierung ihre fundierende Kraft nicht verloren haben. Die Bedeutungen von DNA und Knochen sind immer auch umkämpft und polyvalent.

Den Konferenztagen waren zwei thematische Blöcke zugeordnet, dem ersten „DNA and Cultures of Remembrance“ und dem zweiten Knochen „Bones, Bodies, and Cultures of Remembrance“. In vielen der vorgestellten Fallbeispiele kamen jedoch „DNA“ und „Knochen/Körper“ zusammen, so dass sich produktive Überschneidungsbereiche der Tagungsteile auftaten. Besonders eindrücklich zeigte sich das Zusammenspiel von anonymen Gräbern und Genetic Ancestry Projekten im Beitrag von ALONDRA NELSON (New York). Ihr Fallbeispiel stellte der „African Burial Ground“. Community-Debatten begleiteten den Fund menschlicher Überreste auf einer Baustelle in New York City – ein vermuteter Sklavenfriedhof des 17. Jahrhunderts. Diese Debatten mündeten unter anderem im „African Burial Ground Project“ (ABG) und der Errichtung des „Heritage Sites“. Das ABG-Team um Michael Blakey rekrutierte sich ausschließlich aus afroamerikanischen Wissenschaftler/innen, die eine „biocultural interdisciplinary research strategy“ verfolgten: Neben Geschichte und Archäologie sollten auch Zahnmorphologie, „phänotypische Merkmale“, Kranometrie und Molekulargenetik in die Forschung einbezogen werden. Doch das ABG diente nicht nur als Fundament für mit DNA-Analysen operierende African Ancestry Projekte, sondern stellte auch den Ausgangspunkt für eine Reihe von Versöhnungsprojekten dar. So verschiebt sich in Sklaverei-Restitutionsprozessen die Anwendung der Forensik vom Bereich des Strafrechts in den Zivilbereich. Die Frage von „Citizenship“ müsse ebenfalls neu überdacht werden, wie das Beispiel eines US-Bürgers zeigt, der unter anderem aufgrund einer DNA-Analyse die Staatsbürgerschaft Sierra Leones erhalten hat. „DNA does social work“, so das Fazit und Plädoyer der Referentin, denn es bestehe dringender Bedarf einer „social theory of DNA“.

Fragen und Spannungsfelder der Biologisierung kollektiver Erinnerung zeigte auch YULIA EGOROVA (Durham) auf. Sie präsentierte ihre Fallstudien zum Einsatz von genetischen Analysen in der (Neu-)Verhandlung der Geschichte der jüdischen Diaspora und des indischen Kastenwesens, konkret das Beispiel der indisch-jüdischen Gemeinschaften von Bene Ephraim und Bene Israel. Beides sind Gemeinschaften, die für den Nachweis ihrer jüdischen Identität nicht auf historische und kulturelle Artefakte zurückgreifen können. Die DNA-Analyse sollte diese Funktion einnehmen. DNA-Tests sollten zwar Authentizität stiften und gewissermassen das „letzte Wort“ in einer historischen Debatte sprechen, doch wie sich in den Interviews, die Yulia Egorova zusammen mit Shahid Perwez führte, zeigte, gilt dies nicht für „negative“ Test-Resultate: „the community would be very unlikely to accept them.“ Die DNA-Analyse wird zu einem rhetorischen Mittel, um eine jüdische Identität zu affirmieren, wobei, so Yulia Egorova, sich die Frage stelle, ob hierin vielleicht nicht auch ein Potential für Agency stecke, da sowohl die Genetiker/innen, die Sponsoren und dahinter stehenden Institutionen, als auch die getesteten Gemeinschaften ihre eigenen Erinnerungskulturen gestalten.

Insbesondere GÍSLI PÁLSSON (Reykjavik) als auch CIRAJ RASSOOL (Kapstadt) plädieren dafür, das Vermächtnis der Rassenanthropologie im Auge zu behalten. Ciraj Rassool war wenig optimistisch, dass es gelingen könne, sich von diesem Erbe zu befreien, obwohl er in seinem Beitrag genau einen Schritt in diese Richtung aufzeigte: Im Post-Apartheid Südafrika fordern die verschwundenen Körper politischer Gefangener eine Re-Individualisierung, Identifizierung und nicht zuletzt Bestattung der Ermordeten; womit sich eine physische Anthropologie – nun forensische Anthropologie – gerade im Rahmen einer „Transnational Justice“ neu legitimiert. Den zweiten Teil seines Beitrages widmete der Referent menschlichen Überresten, die im Zuge von Rudolfs Pöchs Sammeltätigkeiten in Wiener Museumsdepots landeten und auf welche der Referent gemeinsam mit Martin Legassick aufmerksam macht. Ciraj Rassool setzt sich für deren Überführung und Bestattung in Südafrika ein. Jedoch stelle sich auch bei diesen Restitutionsforderung die unauflösbare Frage, unter welchen Identitäten dies geschieht bzw. geschehen soll.

Nicht um rezente Knochen, sondern um über 780.000 Jahre alte Fossilien, ging es in OLIVER HOCHADELs (Barcelona/Zürich) Beitrag. Hochadel zeigte, wie sich Atapuerca in den 1990er-Jahren innerhalb weniger Jahre von einer kaum bekannten Fundstätte in Nordspanien zu einem Imaginationszentrum für den Neubeginn spanischer Geschichte wandelte. Für Oliver Hochadel stellte dies ein exemplarisches Beispiel der Interaktion zwischen der Paläoanthropologie bzw. ihrer Forscher, dem Mediensystem und der Konstruktion nationaler Identitäten dar. Da hier durchaus fluide Identitäten zu Tage treten, frage sich mit welcher Form von Nationalismus man es zu tun habe: So stünden der Homo antecessor bzw. die Atapuerca-Funde einmal für den ersten Spanier, dann aber auch für den ersten Europäer, oder gar für den ersten Menschen. Bezeichnend sei auch die Kommodifizierung der Funde, welche in der Diskussion zur Äußerung des Verdachtes führte, man habe es mit einem „nationalism enterprised-up“ (Marianne Sommer) zu tun.

Auf einen Nationalismus anderer Art, eher einen „long distance nationalism“ (Gilck Schiller) kam GÍSLI PÁLSSON (Reykjavik) zu sprechen. Das zusammen mit Sigurður Örn Guðbjörnsson verfasste Paper skizzierte einen Bogen isländischer anthropologischer Forschung von Sagas und Knochen bis hin zu DNA, deren Spuren die Autoren an Hand von isländischen Anthropologen und über Institutionen wie das Peabody Museum, die University of Iceland bis hin zum kommerziellen Anbieter „deCODE genetics“ verfolgten. Der Diskurs von Isolation, Homogenität und Einzigartigkeit der „Isländer/innen“, der während der dänischen Kolonialzeit vorherrschte, verschob sich nach der Unabhängigkeit, so dass neu Vernetzung, Hybridität und Wandel betont wurden. Dennoch zeigten sich erstaunliche Persistenzen in der Gestalt der Forschung, beispielsweise einerseits im Bezug auf die Abgrenzung von den „Inuits“ wie anderseits in der Inklusion von „Isländer/innen“ jenseits des Staatsgebietes (etwa isländischer Communites in Manitoba, Kanada), wobei es noch abzuwarten gelte, ob und wie neuere Entwicklungen – gerade auch die Epigenetik – diese Lesearten beeinflussen werden.

Ohne Narrative und ohne Performanz schweigen sowohl DNA als auch Knochen. Den Performance-Aspekt am stärksten gewichtete DAVID HESSE (Edinburgh). Es ging in seinem Beitrag weder direkt um Knochen noch um DNA, doch illustrierte er gerade deshalb, dass „Heritage“ auch performativ hergestellt wird. Während oft stillschweigend davon ausgegangen wird, dass Gruppen auf ihre „eigene“ Vergangenheit zurückgreifen, untersuchte David Hesse Kontinentaleuropäer/innen, die regelmäßig Schotten/innen spielen. Dieses Playacting lässt sich als Form von Erinnerungskultur begreifen, die jedoch nicht zwingend biologisch rückgebunden wird. Die „Scottish Dreamscape“, wie David Hesse es auch nannte, erweist sich damit als relativ durchlässiges System der Zugehörigkeit. Die These des Referenten zur bemerkenswerten Popularität des Schottentums ist, dass schottische Geschichte – oder Mythen schottischer Geschichte – als eine Art Ersatzgeschichte jenseits und diesseits des Atlantiks fungiert.

Wiederholt wurde in der Konferenz betont, es gehe nicht nur um Narrative, sondern auch um Materialitäten. Am deutlichten ausgearbeitet fand sich dies im Vortrag von JOOST FONTEIN (Edinburgh). Seine Analyse fokussierte auf die affektive Präsenz („affective presence“) und emotionale Materialität („emotive materiality“), auf die Agency von Knochen und „versehrten Körpern“ in Zimbabwes postkolonialem Kontext. Joost Fontein stützte sich für seine Analyse einerseits auf Konzepte von Alfred Gell und Bruno Latour, und plädierte andererseits mit Tim Ingold dafür Materialität in ihren Eigenschaften und Transformationsflüssen einzubeziehen. Eine zentrale Frage sei: „How do broken bodies become bones?“ Was geschieht, wenn die Transformation zum Vorfahren misslingt, wenn keine Beerdigung – als wichtiges Ritual in diesem Transformationsprozess – stattfinden kann, stattfinden darf oder diese gestört wird, wenn „leaking bodies“ – als auch gefährlich entgrenzte Körper – in ihrer materiellen Transformation zu trockenen Knochen nicht die komplexen sozialen, symbolischen und politischen Transformationen vom Lebendigen zum Toten durchlaufen?

Die Konferenz vermochte sehr unterschiedliche Kontexte zueinander in Beziehung zu setzen, – nicht nur in den Diskussionen – die Vorträge schienen buchstäblich aufeinander zu antworten. Immer wieder ging es um Zugehörigkeit, Sprechpositionen und um Anerkennung, und es wurde festgestellt, dass sowohl Narrative, Performance wie auch Materialitäten Teil der Erinnerungsarbeit sind. Darüber hinaus zeigte sich in der Resonanz der Problemstellungen über die geographischen Räume hinweg, dass wir es mit einer globalen Fragestellung zu tun haben. Es war eine inspirierende Konferenz, weshalb die nachfolgenden Gedanken als Anschlussfragen zu lesen sind, die auch in der Abschlussdiskussion als solche artikuliert wurden. Folgende Punkte würden sich lohnen weiterzuverfolgen: Ein Spinn-Off der Konferenz könnte Marianne Sommers Schlusswort aufnehmen, einen noch stärkeren Fokus auf die jeweilige Performanz wie auch die Materialitäten zu legen, sowie die Zirkulation von Objekten und von Narrativen und insbesondere deren Transformationen in den Blick zu nehmen. Die in der Diskussion aufgeworfene Frage Joost Fonteins danach „how bones and bodies matter?“ ließe sich gerade in einer vergleichenden Perspektive noch stärker akzentuieren. Es ging in der Konferenz immer wieder um Sprechpositionen: Wer erhält eine Stimme? Wann beispielsweise sind Identitäten flexibel, wann nicht – und für wen? Das Re-Enactment schottischer Clans oder ein durchkommerzialisiertes Heritage-Center in Burgos scheinen flexiblere Spielwiesen der Identitäten; ganz anders gestaltet sich dies, wenn es um nicht-identifizierte Körper von potentiellen Opfern geht und um deren Transformation zu Vorfahren. Auf die Verschränkungen verschiedener Ebenen von Individuen und Kollektiven hat insbesondere die Organisatorinnen in ihren Einleitungen hingewiesen: Marianne Sommer durch Beispiele aus der genetischen Geschichte und Gesine Krüger mit ihrer Beobachtung bei einem Interviewpartner aus Kapstadt, dass ein Ancestry-Testing auch mit dem Niederschrieben der eigenen Erinnerungen einhergeht; auch dies hätte sich als durchgehender Faden geeignet. Zudem gehen Ancestry Tracing Projekte, bzw. die Samplesammlung hierfür, häufig mit Gesundheitsprojekten einher und umgekehrt. Es wird also nicht nur nach inkorporierter Vergangenheit gesucht (und Gegenwartspolitik betrieben), sondern bisweilen auch nach einer inhärenten Zukunft und zukünftigen Risiken gefahndet.

Konferenzübersicht:

DNA and Cultures of Remembrance

Marianne Sommer (Universität Zürich) und Gesine Krüger (Universität Zürich): Einleitung

Yulia Egorova (Durham University): On DNA, Authenticity and Historical Memory

Alondra Nelson (Columbia University): Ground Work: Foundations of African Ancestry and the Social Life of DNA

Gísli Pálsson (University of Iceland): Make no Bones about it: Human Variation in Iceland, Scandinavia, and the Arctic

David Hesse (University of Edinburgh): To Join a Clan: Expressing Scottish Ancestry and Affinity

Bones, Bodies, and Cultures of Remembrance

Joost Fontein (University of Edinburgh): Between Tortured Bodies and Resurfacing Bones: The Politics of the Dead in Zimbabwe

Ciraj Rassool (University of the Western Cape): Bone Memory: Human Remains, Heritage and Transitional Justice in South Africa

Oliver Hochadel (Universitat Autònoma de Barcelona / Universität Zürich): The Making of a Magic Mountain: The Fossils of Atapuerca and the New Beginning of Spanish History