Repräsentation, Wissen und Öffentlichkeit. Bibliotheken zwischen Barock und Aufklärung

Repräsentation, Wissen und Öffentlichkeit. Bibliotheken zwischen Barock und Aufklärung

Organisatoren
DFG-Projekt „Die Fürstenbibliothek Arolsen als Kultur- und Wissensraum vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert und ihre Einflüsse auf Genese, Formung und Identität des Fürstenstaats“, Universität Kassel; Museum Bad Arolsen
Ort
Bad Arolsen
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2010 - 01.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Cristina Fossaluzza, DFG-Projekt Fürstlich Waldecksche Hofbibliothek Arolsen, Universität Kassel

Um 1795, unter der Regentschaft des aufgeklärten Fürsten Friedrich und wenige Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution, wird in der Hofbibliothek der Fürsten zu Waldeck und Pyrmont „jedermann zu lesen gnädigst erlaubet“ (Staatsarchiv Marburg, Bestand 118d, Generalia I,1). Damit wird diese Fürstenbibliothek, deren Ursprünge bis ins Mittelalter zurückreichen und die in der Frühen Neuzeit zu einer prachtvollen Sammlung von Büchern und Kunstobjekten zusammenwächst, für eine breite Öffentlichkeit zugänglich. Dies legen alte Ausleihlisten und Kataloge unmissverständlich dar. Wer waren aber die Nutzer dieser und anderer Bibliotheken im Aufklärungsjahrhundert? Welche Bücher und Archivalien wurden gesammelt, gelesen oder erforscht? In welchem Maße und auf welche Art fanden das „Schöne“ und das „Nützliche“ in Bibliotheken dieser Zeit zueinander? Ausgehend von diesen Themenkomplexen fokussierte der Workshop das Spannungsverhältnis von Repräsentation, Wissen und Öffentlichkeit in (Hof)bibliotheken der Zeit zwischen Barock und Aufklärung und ging der Frage nach, wie diese drei Aspekte in der Entwicklung von der Raritätenkammer zur „modernen“ Bibliothek sich zueinander verhalten und gegenseitig beeinflussen.

Nach der Begrüßung durch die Projektleiter, CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE (Kassel) und JÜRGEN WOLF (Berlin/Marburg), gab die wissenschaftliche Koordinatorin des DFG-Projekts, CRISTINA FOSSALUZZA, einen Einblick in die Geschichte der Arolser Büchersammlungen und führte in den thematischen Rahmen des Workshops ein.

Im ersten Vortrag der Sektion „Fürstliche Bibliotheken“ erläuterte JILLIAN BEPLER (Wolfenbüttel), wie weibliche Netzwerke und Verflechtungen im Familienverband durch das Verhältnis der Frauen zu ihren Büchern sichtbar werden. Sie zeigte, dass Inventare Hinweise auf die Rolle von Büchern als Behauptung dynastischer, meist konfessioneller, Interessen und auf die Verbreitung von spezifischen Texten durch Frauennetzwerke geben. Vergleiche der Bücherinventare von Fürstinnen in verschiedenen Lebensaltern unter Berücksichtigung der verschiedenen Rollenzuweisungen (Prinzessin, Fürstengattin, Regentin, Witwe, unverheirateter Fürstin) erlauben Rückschlüsse auf die jeweils changierende Funktion ihrer Büchersammlungen. Als Quellengrundlage dienten Beispiele aus den adeligen Häusern Braunschweig-Lüneburg, Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt sowie Württemberg und Anhalt.

Im zweiten Vortrag dieser Sektion stellte GÜNTER TIGGESBÄUMKER (Paderborn) die Geschichte der Fürstlichen Bibliothek Corvey, einer der größten deutschen Privatbibliotheken, vor und zeigte, dass die herausragende Bedeutung dieser Bibliothek in einer einzigartigen Sammlung an Pracht- und Ansichtenwerken aus verschiedenen Sachgebieten liege, welche diese Bibliothek mit Goethes Worten nicht nur zu einer „Vorratskammer“ oder „unnützen Gerümpelkammer“ für das „Anhäufen von Druckschriften“ machte, sondern – im Innern wie im Äußeren – zu einer „wahren Schatzkammer“ der Kultur.

Die nächste Sektion nahm den Themenkomplex „Hof und Aufklärung“ und den Aspekt der Öffentlichkeit genauer unter die Lupe. Der Beitrag von HOLGER BÖNING (Bremen) stellte die Bedeutung dreier unterschiedlicher Gattungen periodischer Literatur – Kalender, Zeitungen, Zeitschriften (und besonders Intelligenzblätter) – für die Vorbereitung, Entstehung und Verbreitung der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert zur Diskussion. In einem zweiten Schritt wurde die dritte große Gattung der periodischen Literatur, die Intelligenz- oder Anzeigenblätter als Medien einer praktischen Aufklärung näher behandelt. Dabei wurde besonders ein Blick auf das auch im Bestand der Arolser Hofbibliothek vorhandene ‚Waldeckische Intelligenzblatt‘ geworfen.

FLEMMING SCHOCK (Darmstadt) referierte über erste öffentliche Bibliotheken im Hamburg des 17. Jahrhunderts. Der Beitrag diskutierte die Geschichte dieser Bibliotheken auf zwei Teilebenen – zum einen auf einer theoretischen, zum anderen auf einer kulturhistorischen. Entlang eines in Hamburg publizierten Grundlagenwerks des Bibliothekswesens wurde der Frage nachgegangen, von welchem ‚Konzept‘ der Öffentlichkeit in der Theorie ausgegangen wurde. Ferner wurde die Entstehung der ersten öffentlichen Stadtbibliothek in Hamburg skizziert, einer Stadt, in der die ökonomischen, aber auch die patriotischen Voraussetzung für die Entfaltung einer öffentlichen Bibliothek besonders günstig waren. Abschließende Überlegungen beschäftigten kreisten um die Frage, wie sehr sich diese einer weiteren Nutzerschaft öffnete und welche Rolle sie in der Wissensgeographie der Stadt einnahm.

Im nächsten Abschnitt wurden Ziele, Digitalisierungsprojekte und Forschungsschwerpunkte des DFG-Projekts zur Fürstenbibliothek Arolsen von Claudia Brinker-von der Heyde und Jürgen Wolf präsentiert und die einzelnen Teilprojekte durch die Mitarbeiter vorgestellt. Cristina Fossaluzza referierte über die Pädagogik-Bestände des Fürsten Friedrich Carl August zu Waldeck und Pyrmont und dessen Interesse für die Theorien der deutschen Philanthropen und Reformpädagogen und ging auf die Bedeutung dieser Sammlungen für die Erforschung der Aufklärung in der Residenz Arolsen in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts ein. Es folgten Skizzen von drei an das Projekt angebundenen Dissertationsvorhaben: MARIE ISABELLE VOGEL arbeitet zu den Klebebänden der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek, THOMAS KÜNZL beschäftigt sich mit dem frühneuzeitlichen Militaria-Bestand und DOMINIK MOTZ untersucht die Leichenpredigten der Hofbibliothek.

Der erste Tagungstag schloss mit dem öffentlichen Abendvortrag von NIKOLA ROSSBACH (Darmstadt). Der Beitrag beschäftigte sich mit der ‚Wissensrevolution’ des 17. Jahrhunderts und besonders mit Rezeptionsmodellen der frühneuzeitlichen Wissensliteratur. Am Beispiel des barocken Polyhistors Georg Andreas Böckler (1617/1620-1687) ging der Vortrag der Frage nach, wer die Maschinenbücher, die Architekturtraktate, die Ökonomieratgeber eigentlich las und legte dar, dass diese nicht nur für den elitären Fachkollegenkreis des gelehrten Autor und für das interessierte Publikum gebildeter Laien bei Hofe bestimmt waren, sondern auch für die ungebildeten Schichten – die Handwerker, die aus Technikbüchern, oder die Bauern, die aus der Hausvaterliteratur ihr Metier erlernen sollten.

Am zweiten Tag beleuchtete die dritte Sektion die Zusammenhänge zwischen Repräsentation und Wissen(schaft). EVA-MARIA DICKHAUT (Marburg) eröffnete diesen thematischen Schwerpunkt mit einem Vortrag über Leichenpredigten in hessischen Bibliotheken und Archiven. Der Beitrag präsentierte die Arbeit der Forschungsstelle für Personalschriften, die zwischen 1980 und 2005 fast 11.000 Leichenpredigten aus der Zeit zwischen Reformation und Aufklärung in 43 hessischen Archiven und Bibliotheken ermittelte, verfilmte und in 15 Bänden katalogisierte. Diese sind vor allem wegen der enthaltenen Biographien bedeutende historische Quellen.

WOLFGANG ADAM (Osnabrück) referierte über „Bibliotheken als Speicher von Expertenwissen“ und legte dar, dass Privatbibliotheken eine erstrangige Quelle für eine kulturhistorisch orientierte und interdisziplinär arbeitende Frühneuzeit-Forschung sind. Angesprochen wurden zunächst die methodischen Probleme, die bei der Auswertung von historischen Buchbeständen zu beachten sind. Anschließend wurden die Chancen des interdisziplinären Arbeitens im Bereich der Bibliotheksgeschichte und der historischen Leserforschung aufgezeigt. Ausgehend von den beachtlichen Leistungen zur Untersuchung von Privatbibliotheken in den letzten Jahrzehnten (Paul Raabe, Gabriele Crusius, Bernhard Fabian, Werner Arnold, Fiammetta Palladini, Daniel Roche, Henri-Jean Martin, Roger Chartier) wurden Perspektiven, die sich im Bereich der Geschichte, Theologie, Rechtskunde, Medien-, Literatur- und Kunstwissenschaft für die frühneuzeitliche Kulturgeschichte ergeben, thesenhaft skizziert. Besondere Beachtung fanden dabei die Möglichkeiten, welche das Arbeiten mit historischen Buchbeständen für die akademische Lehre bietet.

JUSTUS FETSCHER (Mannheim) nahm abschließend das Thema „Lessing in Wolfenbüttel“ und somit den Themenkomplex „Bibliothekare“ in den Blick. Dabei ging er ausführlich auf Lessings Wolfenbütteler Anstellung als spätes, unter den Bedingungen einer aufklärerischen Ambition nicht mehr recht passendes Exempel für die veraltende Kategorie des gelehrten Bibliothekars, der im Laufe des 19. Jahrhunderts durch einen fachlich geschulten und standardisiert professionalisierten abgelöst werden sollte.

In der Schlussdiskussion wurde hervorgehoben, dass das Dreigestirn „Repräsentation, Wissen und Öffentlichkeit“ in frühneuzeitlichen Bibliotheken an der Schwelle der Moderne als unzertrennlich erscheint, auch wenn das Zusammenspiel dieser drei Elemente jeweils in unterschiedlichsten Variationen zum Vorschein kommt. Eine allzu strenge Unterscheidung zwischen „barocken Raritätenkammern“ und „Aufklärungsbibliotheken“ sowie zwischen privaten Sammlungen und öffentlichen Bibliotheken scheint daher nicht befriedigend. Vielmehr kann von neuen populärwissenschaftlichen Tendenzen gesprochen werden, die schon im 17. Jahrhundert und dann noch dezidierter im Laufe des 18. Jahrhunderts von einer im Wandeln begriffenen Gesellschaft ausgehen und sich allmählich im Bestand sowie in der Struktur der Bibliotheken dieser Zeit widerspiegeln. Diese Impulse implizieren Veränderungen, welche die moderne Auffassung einer „Bibliothek“ als öffentlichem Wissens- und Forschungsraum ankündigen. Es wurde betont, dass sich bei der Auseinandersetzung mit den erörterten Fragestellungen eine bewusst interdisziplinäre Forschungsperspektive unter Berücksichtigung der Vielfalt der Bestände frühneuzeitlicher Bibliotheken im Allgemeinen und der Arolser Hofbibliothek im Speziellen am ertragreichsten erweist.

Konferenzübersicht:

Claudia Brinker-von der Heyde (Universität Kassel) / Jürgen Wolf (Technische Universität Berlin / Philipps-Universität Marburg): Begrüßung

Cristina Fossaluzza (Universität Kassel): Einführung

Sektion 1: Fürstliche Bibliotheken

Jill Bepler (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel): Fürstinnenbibliotheken des 16. und 17. Jahrhunderts: Quellen und Erschließung

Günter Tiggesbäumker (Corvey-Institut, Universität Paderborn): Die Fürstliche Bibliothek Corvey

Sektion 2: Zwischen Hof und Aufklärung

Kathrin Paasch (Forschungsbibliothek Gotha): Die Büchersammlungen des Herzoghauses Sachsen-Gotha-Altenburg - Ausdruck eines symbiotischen Verhältnisses zwischen Hof und Aufklärung? (ausgefallen)

Flemming Schock (Technische Universität Darmstadt): Erste öffentliche Bibliotheken im Hamburg des 17. Jahrhunderts

Justus Fetscher (Universität Mannheim): Lessing in Wolfenbüttel

Holger Böning (Deutsche Presseforschung, Universität Bremen): Bedeutung von Periodika, insbesondere von Intelligenzblättern, für die Verbreitung von Aufklärung

Öffentlicher Abendvortrag
Nikola Rossbach (Technische Universität Darmstadt): „Dem kunstliebenden Leser“. Rezeptionsmodelle der frühneuzeitlichen Wissensliteratur

Sektion 3: Repräsentation und Wissen(Schaft)

Eva-Maria Dickhaut (Philipps-Universität Marburg): Leichenpredigten in hessischen Bibliotheken und Archiven. Ergebnisse und Perspektiven

Wolfgang Adam (Universität Osnabrück): Bibliotheken als Speicher von Expertenwissen

Susanne Luber (Eutiner Landesbibliothek, Forschungsstelle zur historischen Reisekultur): Fürstenbibliothek, Forschungszentrum und Kostenfaktor: die Eutiner Landesbibliothek zwischen Repräsentation, Wissenschaft und Lobbyarbeit (ausgefallen)

Schlussdiskussion

http://fwhb.uni-kassel.de
Redaktion
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Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
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