Religion, Gedächtnis und Transformation

Religion, Gedächtnis und Transformation

Organisatoren
Melanie Möller, Seminar für Religionswissenschaft, Georg-August-Universität Göttingen / Universität Münster; Jennifer Kunstreich / Arvid Deppe / Jonas Richter, Seminar für Religionswissenschaft, Georg-August-Universität Göttingen
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2010 - 18.09.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Arvid Deppe / Jonas Richter, Seminar für Religionswissenschaft, Georg-August-Universität Göttingen

Bei der interdisziplinären Tagung von und für Nachwuchswissenschaftler/innen handelte es sich formal gesehen um eine Neuauflage. Schon 2008 trafen sich über zwanzig Promovierende und Post-Docs, ebenfalls in Göttingen – damals zum Thema religiöse Gegenwartskultur. Diesmal lud das Göttinger Nachwuchsprojekt dazu ein, das Zusammenspiel von „Religion, Gedächtnis und Transformation“ zu beleuchten. Über 20 Vorträge aus verschiedenen Disziplinen nahmen das Thema an zwei Tagen in den Blick. Die Veranstaltung fungierte gleichzeitig als Gründungstagung eines Arbeitskreises „Nachwuchs“ für die Deutsche Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW), die zusammen mit dem Göttinger Universitätsbund und der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) die Tagung finanziell unterstützte.

Dem sehr offen formulierten Tagungsthema war es zu verdanken, dass die Vorträge ein sehr breites Spektrum abdeckten; dadurch bot sich ein reizvoller Überblick über laufende und abgeschlossene Forschungsprojekte. Jüngste Ergebnisse und Werkstattberichte wechselten sich ab. Dank einer ausgesprochen angenehmen Atmosphäre lud die Tagung in besonderer Weise dazu ein, vertrautes Terrain zu verlassen und sich fremden Fachperspektiven zu öffnen.
Trotz des inhaltlich weit gefächerten Spektrums waren einige Konzepte bzw. Themen vielen Vorträgen gemein. Es handelte sich hierbei, wie erwartbar, um die gegenwärtigen „brennenden“ Fragen nicht nur der Religionsforschung: Migration, interkulturelle Beziehungen und Identität. Mehr oder weniger deutlich waren diese Themen in vielen Beiträgen der Tagung präsent. Nur wenige Referenten widmeten sich früheren Epochen oder größeren Zeiträumen. Die weit überwiegende Anzahl der Untersuchungsgegenstände war dem 20. und 21. Jahrhundert zuzuordnen. Noch verschärft wurde diese Tendenz dadurch, dass zwei Vorträge zu (spät-)antiken Themen ausgefallen waren. Im Folgenden ist die Panelaufteilung der Tagung weitestgehend aufgegeben, stattdessen sind andere inhaltliche Beziehungen zwischen einzelnen Vorträgen hergestellt.

Mehrere Vorträge befassten sich mit der Rolle von Kirchen im Kontext sozialer und politischer Krisen im vergangenen Jahrhundert. Die griechisch-katholische Kirche der Ukraine beispielsweise engagierte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark in der Politik; OLEKSANDR SVYETLOV (Kiew) untersuchte deren Beitrag zum entstehenden Nationalbewusstsein in Ostgalizien, ihre quasi staatsbildenden Funktionen und ihr Verhältnis zu anderen (ethnischen und politischen) Akteuren innerhalb und außerhalb der Ukraine.

Mit der Rolle von „Heimatkirchen“ bei der Identitätsbildung von Gruppen, die im Zuge des Zweiten Weltkriegs bzw. in postkommunistischer Zeit nach Deutschland kamen, befassten sich LIDA FRORIEP (Hannover) und ANDREAS MÜLLER (Tübingen). Froriep stellte erste Ergebnisse einer explorativen Studie unter eingewanderten Siebenbürger Sachsen vor, die zumeist keine Zukunft für ihre Gemeinschaft mehr sehen. Müller beschrieb die ambivalente Rolle des Hilfskomitees, das Angehörige der jugoslawischen evangelischen Landeskirche nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits bei der Integration in die deutsche Gesellschaft, andererseits bei identitätsbildender Erinnerungsarbeit unterstützte.

PETER ITZEN (Freiburg) zeichnete die Auseinandersetzung innerhalb der Church of England anlässlich der Energiekrise der 1970er-Jahre nach, die in Großbritannien 1973/74 durch Streiks noch verschärft wurde. Neben der Relevanz christlicher Werte standen dabei auch institutionelle Entwicklungen in der Kirche selbst zur Debatte, die das Selbstverständnis der Kirchenführung in Frage stellten.

Auch AGNIESZKA GĄSIOR (Leipzig) bewegte sich mit ihrem Thema im Spannungsfeld von kollektiver Identität, Religion und Politik. Sie verglich die Verehrung der „Schwarzen Madonna“ von Jasna Góra (Tschenstochau) sowie ihre symbolische Verwendung (unter anderem in der polnischen Arbeiterbewegung) mit der Basilika von Licheń, die in der Zeit von 1994-2004 gebaut wurde. Die Anlage zeichnet sich durch „volksnahe” Kunst aus und ist mit Nationalkonnotationen überfrachtet. Leider konnte Gąsior in der begrenzten Vortragszeit nicht näher auf die innerpolnische Diskussion um den aufstrebenden Kultort Licheń eingehen.

War in den Vorträgen von Froriep und Müller die Migrationserfahrung schon angesprochen worden, so nahm sie in den Vorträgen von MARINA JACIUK (Eichstätt-Ingolstadt) und STEFANIE SCHERR (Swinburne, Australien) eine größere Rolle ein. Jaciuk stellte auf der Basis narrativer Interviews mit lateinamerikanischen Migranten in Bayern erste Ergebnisse ihres Dissertationsprojekts vor, wobei sie sich auf die Rolle der Erinnerung an das Religiöse im Migrationsprozess und ihre Bedeutung für die Sinngebung in Bezug auf die eigene Lebensgeschichte konzentrierte. Stefanie Scherr legte anhand von Lebensgeschichten von Altgläubigen (Altorthodoxen) in der australischen Diaspora einerseits rituellen Wandel, andererseits aber auch die Konstruktion einer transkulturellen Altgläubigen-Identität dar.

Die problematische Identität einer religiösen Minderheit thematisierten auch BEATE LÖFFLER (Dresden) und RAMONA WÖLLNER (Halle-Wittenberg). Wöllner untersuchte jüdische Geschichtskonzeptionen aus dem 19. Jahrhundert. Ausgehend von der Polemik, das Judentum sei ahistorisch und nicht entwicklungsfähig, entstanden im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Entwürfe einer jüdischen Geschichte und Metageschichte, die wiederum unterschiedliche Funktionen für die eigene Identität aufwiesen. Löffler hingegen stellte eine Reihe von Beobachtungen zur Konstruktion christlicher Identität in Japan vor, die gewissermaßen ein Nebenprodukt ihrer Promotion über japanische Kirchenbauten darstellen. Die Erinnerungskultur der Gemeinden weicht markant von europäischen Erwartungen ab, in dem zum Beispiel Aspekte der Ahnenverehrung auf die Bedeutung der ehemaligen Priester einer Gemeinde übertragen werden.

Passend zu einem Forschungsschwerpunkt des Göttinger religionswissenschaftlichen Lehrstuhls gab es mehrere Beiträge aus dem Themenkreis der Neuen Religiösen Bewegungen. Über religiöse Erinnerungskulturen im Neopaganismus referierte RENÉ GRÜNDER (Freiburg). Er stellte fest, dass eine Konversion zum „Heiden“ üblicherweise ohne nennenswerten biographischen Bruch von statten geht, während die sozial konstruierte Distanz zwischen christlicher Mehrheitsgesellschaft und neopaganer Überzeugung ungleich größer ist. Mit Konversions- und Dekonversionserzählungen (im Genre publizierter Aussteiger- und Erfahrungsberichte) befasste sich MELANIE MÖLLER (Göttingen), sie analysierte das Verhältnis zwischen individueller Erinnerungsarbeit von Autoren und der Erinnerungskultur derjenigen religiösen Gemeinschaft, aus der sie „ausgestiegen“ sind. MELANIE HALLENSLEBEN (Göttingen) untersuchte die Einstellungen neureligiöser Bewegungen gegenüber alten religiösen Traditionen wie dem Judentum, das für einige Gemeinschaften wie zum Beispiel das Universelle Leben eine wichtige (und ambivalente) Bezugsgröße darstellt.

EVA DOTTERWEICH (Bamberg) bewegte sich mit ihrem Beitrag zwar im Bereich etablierter christlicher Konfession, widmete sich aber modernen, von Technik geprägten Formen der Heiligenverehrung. Sie zeichnete die Entwicklung des Schutzpatronats des Heiligen Christophorus nach, der heute vor allem Sicherheit im Straßenverkehr gewähren soll. Dem Heiligen geweihte Autobahnkirchen, kleine apotropäische Plaketten oder Fahrzeugsegnungen sind Ausdruck dieser modernen Praxis. Interessant dabei ist die Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Heiligen in der Lebenswelt der Gläubigen gegenüber der „offiziellen“ kirchlichen Akzeptanz.

Unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen oder Innen- und Außenperspektiven sowie ihre Transformationen nahmen auch RICARDA STEGMANN (Heidelberg) und ISMAIL WARSCHEID (Paris) in den Blick. Stegmann und Warscheid zeigten in einem Doppelvortrag am Beispiel des Sufismus im Maghreb, wie sich religiöse Praxis unter soziokulturellen und politischen Einflüssen wandelt und sich gleichzeitig eine Rhetorik der Beständigkeit nachweisen lässt.

Mehrere Vorträge untersuchten Transformationsprozesse, die durch Umdeutungen und Wandel der zugeschriebenen Bedeutung bedingt sind. SABINE REICHERT (Mainz) beschrieb spätmittelalterliche Prozessionen im Spannungsfeld von liturgischem Ritus und städtischer Repräsentation. Klerus und städtische Herrschaft funktionalisierten die Umgänge auf unterschiedliche Weise, wodurch eine Prozession im Lauf der Zeit andere Bedeutung erhalten konnte. Auch Kriegstrophäen aus der Zeit der Türkenkriege (17. Jahrhundert) wurden zum Teil drastisch uminterpretiert. SABINE JAGODZINSKI (Leipzig) analysierte Strategien und Motivationen zur religiösen Konnotierung materieller Erinnerungsträger aus dieser Zeit. Umdeutungen aus dem Bereich der „alternativen Archäologie“ behandelten MERET FEHLMANN (Zürich) und JONAS RICHTER (Göttingen). Fehlmann stellte die Konstruktion eines bronzezeitlichen Kreta nach modernen, esoterischen und spirituell-feministischen Vorstellungen dar, das aus archäologischer Sicht so nie existiert hat, aber dennoch zu einem relevanten Erinnerungsort und Pilgerziel unserer Zeit geworden ist. Richter beschrieb die Grenzwissenschaft der Prä-Astronautik als neomythisches Weltbild, das sich im Rahmen einer „interpretatio technologica“ (analog zur klassischen interpretatio Romana) aus älteren religiösen Überlieferungen speist. Dabei grenzte Richter nicht-religiöse von religiösen Formen ufologischer Mythologie ab.

Die Bedeutung des seit Jahrtausenden verwendeten Magiebegriff untersuchte BERND-CHRISTIAN OTTO (Heidelberg). Otto sprach dem Begriff einen eigenen substanziellen Gehalt ab und verwies auf dessen Funktion in Diskursen der Selbst- und Fremdbestimmung. Die als magisch bezeichneten Sachverhalte seien prinzipiell nicht zu unterscheiden von solchen, die religiös genannt werden (Gebete, Rituale usw.). Obwohl eine ununterbrochene magische Tradition in der europäischen Geschichte nicht nachzuweisen ist, werde ein entsprechendes „historisches Kollektiv“ in selbstreferentiell-magischen Texten zur Legitimation des eigenen Handelns konstruiert.

Eine besondere Form der Erinnerungskultur behandelte mit den Ausführungen zu anonymen Grabstätten NICOLE SACHMERDA-SCHULZ (Leipzig). Auf Basis von aktuellen Statistiken und Interviewergebnissen widmete sie sich dabei Fragen nach persönlichen Motiven, gesamtgesellschaftlichen Veränderungen (Individualisierung, Familienstruktur usw.), kirchlichen Positionen und der Hinterbliebenenperspektive, die auch die anschließende lebendige Diskussion bestimmten.

Der Tagung ist es gelungen, einen breit gefächerten Überblick über aktuelle Arbeiten sowie Gelegenheit zu anregenden Diskussionen zu bieten. Gedächtnis und Transformation in religiösen Zusammenhängen sind komplexe Phänomene, die Anlass zu unterschiedlichen Forschungen geben. Diese Komplexität anschaulich zu demonstrieren und Impulse für neue Ideen und Ansätze zu ermöglichen, bleibt das Verdienst der Tagung. Die Fokussierung auf Nachwuchswissenschaftler/innen erlaubte es, sich auch über strukturelle Probleme der Qualifizierungsphase auszutauschen. Die Vernetzungsmöglichkeiten einer Nachwuchstagung stellen eine zusätzliche Chance dar. (Eine erneute Tagung 2012 ist daher angedacht.) Für Promovierende der Religionswissenschaft ist durch die Gründung eines eigenen Arbeitskreises (unter dem Dach der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft) nun die Basis geschaffen, für Verbesserungen in der Promotionsphase einzutreten.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Kollektive Identitätskonstruktionen

Meret Fehlmann: Kreta als imaginativer Ort des Kultes der Großen Göttin

Bernd-Christian Otto: Kontinuität und Konstruktivität einer selbstreferentiell-„magischen“ Tradition

Lida Froriep: Die Bedeutung der „Heimatkirche“ in der Identitätsbildung der Siebenbürger Sachsen in postkommunistischer Zeit

Andreas Müller: Das Hilfskomitee – Zwischen Integration und Erinnerung

Beate Löffler: Das Fremde und das Eigene und die Konstruktion christlicher Identität in Japan

Panel 2: Transformationsprozesse und religiöse Auseinandersetzungen

Sabine Jagodzinski: Das Gedächtnis der Dinge. Religiöse Aufladung von Relikten aus den Türkenkriegen im 17. Jahrhundert

Ricarda Stegmann/ Ismail Warscheid: Transformationen und Kontinuitäten in Lehre und Praxis des maghribinischen Sufismus vom 16.-21. Jahrhundert

Melanie Hallensleben: Die Konstruktion jüdischer Identitäten in Neureligiösen Bewegungen am Beispiel der Gemeinschaft Universelles Leben

Ranja Knöbl: Konservierender Wissensspeicher und Dokument religiöser Auseinandersetzungen: Stobaios’ Anthologion im Kontext seiner Zeit [ausgefallen]

Panel 3: Biographische (Dis-)Kontinuitäten: Migration und Konversion

Marina Jaciuk: Religiöse Erinnerung in der Konstruktion erzählter Biographien lateinamerikanischer Migranten

Stefanie Scherr: Migrationserinnerung der Altgläubigen Gemeinde Australiens

Rene Gründer: Zur Konstruktion religiöser Erinnerungskultur(en) im Neopaganismus

Melanie Möller: „Der erinnerte Sektenausstieg“. Gedächtnislogik und Erinnerungsarbeit in publizierten Erfahrungs- und Aussteigerberichten

Panel 4: Technologie

Jonas Richter: „Die Götter waren Astronauten!“ Transformation und Integration von Mythen in ein technologisches Weltbild

Eva Dotterweich: Tradition und Innovation in der zeitgenössischen Verehrung des heiligen Christophorus

Panel 5: Todesgedenken

Nicole Sachmerda-Schulz: Erinnerungskultur auf anonymen Grabstätten

Ulrike Wels: „Der Tempel des Todes“. Transformationen literarischer Architekturmodelle in Europa – religiöse Konnotationen eines Begräbnisgedichtes [ausgefallen]

Panel 6: Geschichtskonzepte

Agnieszka Gąsior: Geschichtskonzepte und visuelle Strategien im Kontext der Marienverehrung in Polen nach 1989

Ramona Wöllner: Geschichte vs. Metageschichte?: Geschichte als Mittel der eigenen Identitätsfindung im Prozess der Emanzipation und Rechtfertigung in der Geschichte eines nicht-jüdischen Staates

Oleksandr Svyetlov: Memories of Galicia: the role
of the Ukrainian Greek-Catholic Church

Panel 7: Ritus, (Re-)Präsentation und Politik

Sabine Reichert: Erinnerung und Transformation. Zur Einprägung stadtgeschichtlicher Ereignisse in vormodernen Prozessionen

Peter Itzen: „The Writing is on the Wall“: Die Krise der 1970er-Jahre und die Church of England

Gunnar R. Dumke: Der dynastische Herrscherkult der Ptolemäer: Die bifokale Gestaltung religiöser Erinnerung [ausgefallen]


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