Persönliche Beziehungen zwischen Staatsmännern als Kategorie der Geschichte des Politischen (1815-1914)

Persönliche Beziehungen zwischen Staatsmännern als Kategorie der Geschichte des Politischen (1815-1914)

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut London
Ort
London
Land
United Kingdom
Vom - Bis
11.10.2010 - 12.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Heidi Mehrkens, Historisches Seminar, Technische Universität Braunschweig

Woher stammt das gegenwärtige große Interesse an der Geschichte der Emotionen? Und wo ist, um eine richtungweisende Frage von Ute Frevert aufzugreifen, der Platz der Emotionen in der Geschichte? Berücksichtigen Historiker Gefühle, die sich unter anderem auf der Ebene emotionaler Bindungen zwischen historischen Akteuren erforschen lassen, heute bereitwilliger aus dem Wunsch heraus, neue Erkenntnisse zu gewinnen, um komplexe historische Ereignisse besser zu verstehen? Der Workshop „Persönliche Beziehungen zwischen Staatsmännern als Kategorie der Geschichte des Politischen (1815-1914)“, der am 11. und 12. Oktober 2010 am Deutschen Historischen Institut (DHI) London stattfand, diskutierte Nutzen und Herausforderungen der Emotionsgeschichte als Zugang zu internationalen Beziehungen zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa im 19. Jahrhundert. Im Rahmen des Post-Doc-Programms zum Arbeitsschwerpunkt „Geschichte des Politischen“ begrüßten Institutsdirektor ANDREAS GESTRICH (London), der stellvertretende Direktor BENEDIKT STUCHTEY (London) und die Organisatorin des Workshops HEIDI MEHRKENS (Braunschweig) am Bloomsbury Square einen Teilnehmerkreis von zehn Nachwuchs- sowie etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland, Russland, Italien, Großbritannien und Frankreich.

Das Ziel des Workshops war es, Überlegungen zu einem methodisch reflektierten Umgang mit persönlichen Beziehungen als Kategorie der Geschichtsschreibung des Politischen an Fallbeispielen zu konkretisieren. In zwei Sektionen diskutierten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen Beiträge zu den Themen „Personal Relations“ und „Political Networks“ jeweils aus akteurszentrierter Perspektive: Persönliche Beziehungen zwischen Staatsmännern waren einerseits privater Natur. Langjährige Freundschaften, persönliche Abneigungen, Mentoren- und Patronageverhältnisse besaßen jedoch darüber hinaus das Potential, auch auf politische Verhältnisse einzuwirken. Gefühle dienten somit als Motiv oder Katalysator für konkrete Entscheidungsfindungen – manche persönliche Beziehung wurde gar selbst zum Politikum. Alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen fragten nach dem Platz der sozialen Interaktion im spezifischen politischen setting des 19. Jahrhunderts, also nach den Wechselwirkungen, in die das „Private“ mit dem „Öffentlichen“ geriet.

BIRGIT ASCHMANN (Kiel) leitete mit ihrem Überblicksvortrag über Gefühle als versteckte Faktoren in der Politikgeschichte die erste Sektion ein und stellte die Einbeziehung der Gefühlsebene als ein geeignetes Instrument vor, um unter anderem Machtverhältnisse in der Geschichte zu erforschen. Eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Gefühlen und Politik sei ein Trend in der Geschichtswissenschaft und finde derzeit für das 20. Jahrhundert in größerem Rahmen Anwendung. Zusätzlich, so Aschmann, biete die Kulturgeschichte auch eine neue Perspektive auf das 19. Jahrhundert: Durch die Brille der Emotionsgeschichte betrachtet, ließen sich etwa Handlungsspielräume im Verhältnis von Monarchen zueinander analysieren oder die gesellschaftliche Akzeptanz demonstrierter Gefühle und emotionaler Politikstile ermitteln. Notwendig sei in jedem Fall eine sorgfältige Kontextualisierung des politischen Ereignisses, der involvierten Personen sowie sozialer Normen, um den Stellenwert der Emotion im Verhältnis zum politischen Ereignis zu bestimmen.

ANDREA STAHL (Wolfenbüttel) fragte in ihrem Beitrag nach der Bedeutung von gemeinsamen politischen Wertvorstellungen, Erfahrungen und Zielen in der „Generation Metternich“.1 Am Beispiel der Verhandlungen über den Beitritt Österreichs zur Quadrupel-Allianz gegen Napoleon Bonaparte konnte Stahl zeigen, wie Sympathie und persönliche Eindrücke in einer face-to-face-Begegnung zwischen Metternich und Castlereagh das politische Gefüge im Rahmen des Wiener Kongresses beeinflussten. Misstrauen und Vorurteile, die zuvor auf beiden Seiten die Wahrnehmung des anderen dominiert hatten, machten wachsendem Vertrauen Platz. Eine für die europäische Politik prägende Zusammenarbeit begann, die sich auch bei unterschiedlichen politischen Zielsetzungen an einem gemeinsamen Wertehorizont orientierte.

Der Vortrag von VOLKER BARTH (Köln) stellte mit dem Inkognito von Herrschern und Staatsmännern ein Reisekonzept vor, das im 19. Jahrhundert seinen quantitativen und qualitativen Höhepunkt erreichte. Dieses sorgfältig ausgearbeitete Zeremoniell, das die Last offizieller Staatsbesuche verringern sollte, besaß eine eindeutig politische Funktion. Die „private“ Reise des Würdenträgers war, so Barth, für ein Publikum inszeniert und eröffnete neue Räume für politisches Handeln. Die Reise der französischen Kaiserin Eugénie zu Königin Victoria im Jahr 1867 stand als Beispiel dafür, wie die persönliche Beziehung der Würdenträgerinnen auf der Grundlage von Trauer und Anteilnahme nach der Hinrichtung Kaiser Maximilians in Mexiko zum Gegenstand öffentlicher Demonstration wurde.

Im Umfeld der Krise auf dem Balkan musste im Frühjahr 1878 Edward Henry Stanley, 15. Earl Derby, als Außenminister Disraelis abdanken. JENNIFER HELEN DAVEY (Norwich) beleuchtete die Hintergründe der Krise, die mit dem Verhältnis von Lady Derby zu dem russischen Botschafter Shuvalov verknüpft war. Der Vorwurf, Lady Derby habe im Zuge einer Affäre mit dem Diplomaten Kabinettsgeheimnisse an die russische Seite ausgeplaudert, diente als Instrument zur politischen Ausgrenzung Derbys. Im weiteren Sinne, so Davey, verweise der Vorfall auf die unangefochtene männliche Dominanz in der internationalen Hohen Politik und die starke Position der Presse als Instrument zur Politisierung vermeintlich „privater“ Lebensverhältnisse.

Ein Triumvirat aus dem Feld der Sozialwissenschaften und des internationalen Rechts stand im Mittelpunkt des Vortrags von CHRISTIAN MÜLLER (Münster): Am Beispiel der langjährig befreundeten „Väter“ des „Institut de Droit International“, John Westlake, Gustave Rolin-Jaequemyns und Tobias Michael Asser, zeichnete Müller Aspekte der Professionalisierung des internationalen Kongresswesens nach. Persönliche Netzwerke begleiteten die Etablierung dieser und anderer führender Wissenschaftler als politische Experten, aber die Ziele veränderten sich mit dem „Seitenwechsel“: Die Avantgarde mit der oppositionellen Agenda und der internationalen Perspektive hatte sich um 1900, so Müller, zu Regierungsexperten gewandelt, deren Hauptinteresse dem Wohl der eigenen Nation galt.

Als Moderator der ersten Sektion führte HANS HENNING HAHN (Oldenburg) die inhaltlichen Fäden zusammen. Sein Kommentar griff den in den Vorträgen vielfach angeklungenen Gender-Aspekt auf, denn abhängig vom Geschlecht der Akteure seien den persönlichen Beziehungen offenkundig auch von den Zeitgenossen unterschiedliche Funktionen beigemessen worden. Die große Herausforderung für den Historiker liege daher im Umgang mit Konstruktionen privater und öffentlicher Sphären, die das Potential für Skandalisierung und Instrumentalisierung von Emotionalität bergen würden.

Die zweite Sektion wurde von CONSTANCE BANTMAN (Guildford, Surrey) mit einer Keynote Lecture eingeleitet, die einen neuen Blick auf die bisher behandelten Eliten ermöglichte. Die Spezialistin für die Geschichte internationaler Anarchisten-Netzwerke im 19. Jahrhundert öffnete mit diesem „Klassenwechsel“ hin zur politisch organisierten Linken die Diskussion, denn die bisher behandelten Konzepte von politischer Freundschaft seien, so Bantman, nicht auf die konservativen Kräfte beschränkt gewesen. Sie stellte die Frage, inwieweit im ausgehenden 19. Jahrhundert Verhaltensweisen und Interpretationen von persönlichen Beziehungen in einem bestimmten Wertehorizont von den behandelten Eliten zur politisch organisierten Linken „durchgesickert“ sein könnten.

Ein Beispiel für die Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit politischer Beziehungen lieferte FEDERICO NIGLIA (Rom) in seinem Beitrag über die italienische diplomatische Elite zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg. Verankert im historischen Umfeld des Risorgimento, deutete Niglia die Entwicklung verschiedener Allianzen des jungen Nationalstaats mit Österreich, Frankreich, dem Deutschen Reich und Großbritannien auf der Basis der persönlichen Verbindungen führender Diplomaten. Er konnte zum einen den nachhaltigen Einfluss deutscher und französischer Diplomatiemodelle auf die italienische Außenpolitik nach 1870 nachweisen und überdies zeigen, wie die Traditionen eines ursprünglich neapolitanischen oder auch piemontesischen sozialen Umfelds die italienische Diplomatie bis zum Ersten Weltkrieg prägten.

VERA DUBINA (Moskau) sprach über Kameradschaft und die Reorganisation von Klientelismus-Beziehungen in der russischen bürokratischen Elite des 19. Jahrhunderts. Die große Bedeutung von Patronage-Netzwerken erklärte sie damit, dass diese einen Schutz für den persönlichen Status, Wertehorizont und nicht zuletzt die Karriere bedeuten konnten. Dubina stellte am Beispiel der Kaiserlichen Schule für Rechtsprechung in St. Petersburg, einer der angesehensten aristokratischen Internatsschulen, die Selbstwahrnehmung einer durch Kameradschaft und Patronage verbundenen elitären bürokratischen Gemeinschaft dar. Die Absolventen konnten sicher sein, nach ihrem Abschluss bedeutende Positionen einzunehmen. Eine zunehmende Professionalisierung in der Ausbildung führte somit nicht, wie Dubina betonte, zu größerem Abstand vom gebrandmarkten „alten System“ der Korruption.

HEIDI MEHRKENS (Braunschweig) ging in ihrem Vortrag auf die Relevanz von Politikerbeziehungen in ungleichen Machtverhältnissen ein. Der entmachtete französische Minister François Guizot hatte während des preußisch-französischen Konflikts 1870/71 ein altes Netzwerk von befreundeten Politikern aktiviert, unter ihnen Englands Premier Gladstone. Der Versuch, die Inselnation zum Eingreifen in den Konflikt zu bewegen, scheiterte letztlich. Guizots Aktivitäten im weiteren Raum des Sagbaren, durch die der Politiker außer Amt seine Meinung zum Geschehen auch im Ausland publik machte, wurden jedoch von Gladstone aktiv für die Gestaltung britischer Außenpolitik im Sinne einer Abkehr vom Prinzip der Nichtintervention in Europa mit genutzt.

SABINE FREITAG (Frankfurt am Main) fasste als Moderatorin die wesentlichen Linien der zweiten Sektion zusammen. In ihrem Kommentar hob sie auf die Motive des Historikers ab, der sich dafür entscheide, auf Ereignisse aus der Perspektive der Emotionsgeschichte zu blicken, und fragte, ebenso wie Birgit Aschmann in ihren einleitenden Bemerkungen, nach den Ursachen für das derzeitige Hoch der historischen Emotionsforschung. Freitag griff dafür auf die Wiederentdeckung der Gefühle durch die Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück, die einen ähnlichen Boom zur Folge gehabt und unter anderem Erklärungen für das Verhalten von Massen gesucht habe.

Für die Abschlussdiskussion, die von Heidi Mehrkens moderiert wurde, hatten sich aus dem Umgang der Wissenschaftler mit persönlichen Beziehungen als Kategorie der Geschichtsschreibung des Politischen mehrere relevante Punkte ergeben: Diskutiert wurde die Aufforderung, (Selbst-)aussagen über die Wahrnehmung von Emotionen präzise in ihre historischen Kontexte einzuordnen und Untersuchungsfelder wie die öffentliche Sphäre und die Diplomatie zu trennen. Zur Präzisierung gehört auch, sich der Bedeutung der verwendeten Ausdrücke im historischen Kontext bewusst zu sein: Was bedeutet Liebe, Vertrauen für einen Menschen des frühen 19. Jahrhunderts im Kontext einer Vertragsverhandlung? Auf der Begriffsebene wurde weitergehend eine Differenzierung von Bezeichnungen wie Kameradschaft, Freundschaft, Netzwerk angemahnt und darüber hinaus eine historische Analyse „emotionaler“ Begriffe im diplomatischen Kontext (friendship of nations, entente cordiale) vorgeschlagen.

Ein Kernpunkt der Vorträge und Diskussionen war die Frage danach, wie der Wandel politischer Stile im 19. Jahrhundert die persönlichen Beziehungen zwischen Politikern beeinflusst haben könnte. Möglicherweise eröffnete die Ausweitung des politischen Raumes unter Einbeziehung neuer Akteure auch mehr Möglichkeiten, persönliche Beziehungen zu knüpfen und zu nutzen. Es wäre interessant, hier insbesondere die Funktion der Höfe und Hofgesellschaften in weiteren Forschungen zu berücksichtigen. Große Bedeutung wurde von den Referenten und Experten den gemeinsamen gesellschaftlichen Werten und Verhaltenscodizes, der Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Gesellschaftsschicht und der gemeinsamen Konfession für die Ausprägung der Beziehungen im sich verändernden politischen Gefüge zugesprochen, das trotz aller nationalstaatlichen Perspektiven auf der Ebene der Beziehungen ein genuin europäisches blieb.

Konferenzübersicht:

Personal Relations
Chair: Heidi Mehrkens (Universität Braunschweig)

Birgit Aschmann (Universität Kiel): The importance of being emotional - hidden factors in the history of politics

Andrea Stahl (Herzog August Bibliothek Wolfenbuettel): The Coachma(e)n of Europe? - Metternich, Castlereagh and Wellington 1813-1818

Volker Barth (Universität Köln): Incognito in London: Eugénie and Victoria 1867

Jennifer Helen Davey (University of East Anglia, Norwich): The invisible Politician: The Foreign Secretary, his Wife and the Russian Ambassador 1875-1878

Christian Mueller (Universität Münster): Personal Relations, Transnational Networks, and Professionalization in International Law, c. 1850-c. 1900

Political Networks
Chair: Benedikt Stuchtey (GHIL)

Constance Bantman (University of Surrey, Guildford): The example of Franco-British anarchist connections before 1914: towards a network-based approach

Federico Niglia (LUISS “Guido Carli” University, Rome): Ambassadors and Alliance-making. An Insight on the Italian diplomatic Elite 1870-1914

Vera Dubina (Russian Academy of Science, Moscow): Comradeship and Reorganization of Patron-Client Relationships among Russian 19th century bureaucratic Elite

Heidi Mehrkens ( Universität Braunschweig): A Friend in Need. Personal Relationships and the Experience of Disempowerment

Anmerkung:
1 Vgl. Sven Externbrink, Kulturtransfer, Internationale Beziehungen und die „Generation Metternich“ zwischen Französischer Revolution, Restauration und Revolution von 1848, in: Wolfram Pyta (Hrsg.), Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Weimarer Kongreß 1815 bis zum Krimkrieg 1853, Köln 2009, S. 59-78.


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