Jugendbewegte Geschlechterverhältnisse. Jahrestagung im Archiv der deutschen Jugendbewegung

Jugendbewegte Geschlechterverhältnisse. Jahrestagung im Archiv der deutschen Jugendbewegung

Organisatoren
Archiv der deutschen Jugendbewegung
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.10.2010 - 24.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Dorit Horn, Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft, Universität Hildesheim

Vom 22. bis 24. Oktober fanden sich etwa 100 Teilnehmer/innen zur Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung mit dem Titel „Jugendbewegte Geschlechterverhältnisse“ zusammen. Die jährlich stattfindende Tagung wurde in diesem Jahr von Meike Sophia Baader und der Leiterin des Archivs Susanne Rappe-Weber organisiert. Im Rahmen der Veranstaltungen wurden in zwölf Vorträgen überwiegend historische Perspektiven auf die – wie sich zeigte – sehr vielfältigen jugendbewegten Geschlechterverhältnisse vorgestellt.

Eröffnet wurde die Tagung mit den Grußworten und einleitenden Gedanken der Organisatorinnen SUSANNE RAPPE-WEBER und MEIKE SOPHIA BAADER. Bereits hier wurde deutlich, dass zum einen Anknüpfungspunkte an feministische Perspektiven bestehen, zum anderen aber auch neuere wissenschaftliche Ansätze aus der Forschung zur Geschlechtergeschichte sowie zur relationalen Konstruktion von Männlichkeiten und Weiblichkeiten zur Disposition stehen würden. Rappe-Weber verwies auf die nach wie vor in vergleichsweise geringem Umfang existierende Forschung zu Frauenbiographien in der Jugendbewegung sowie auf die noch zu erschließenden Nachlässe jugendbewegter Frauen im Archiv. Baader hingegen betonte zusätzlich zu ihren Verweisen auf Ansätze der aktuellen Geschlechterforschung, dass nicht nur strukturelle Betrachtungen der jugendbewegten Geschlechterverhältnisse von Bedeutung seien, sondern auch persönliche Erfahrungen Gehör finden sollten.

Im Eröffnungsvortrag stellte CLAUDIA BRUNS ausgewählte Aspekte aus ihrer Publikation „Politik des Eros“ vor, in der sie der Konstruktion des Mythos vom homoerotisch determinierten Männerbund anhand der Schriften von Hans Blüher auf den Grund geht. Blüher, Wandervogel der ersten Stunde und späterer Antisemit, provozierte mit seiner Schrift „Der deutsche Wandervogel als erotisches Phänomen“ aus dem Jahr 1912 nicht nur einen Skandal, sondern erhielt für die darin aufgestellte These, dass nicht die Familie sondern der auf mann-männlichem Eros beruhende Männerbund die eigentlich staats- und kulturschaffende Gemeinschaft sei, viel Zustimmung. Bruns legte dar, wie Blüher dabei auf medial wirksame, zeitgenössische Diskurse sowie Erkenntnisse aus Psychoanalyse und Sexualwissenschaft zurückgriff und durch die geschickte Verknüpfung all jener Elemente seine als originell empfundenen Thesen formulierte. Die Referentin präsentierte so einen Ort der Herstellung von Männlichkeit, welche in strikter Abgrenzung von allem Weiblichen, später auch von allem, was ‚jüdisch‘ ist, entstand. Im Wandervogel wurden Blühers Schriften teils besorgt, teils begeistert, in fast jedem Fall aber erregt rezipiert. Gerade männliche Jugendliche fühlten sich angesprochen und verstanden. Nachdrücklich erhellte Bruns den Umstand, dass diese dabei einerseits auf ein Archiv des Wissens zurückgreifen konnten, das ihnen vorgab, was sie als authentisch empfinden konnten, und dass Blühers Thesen andererseits genau passend dafür waren. Der homoerotisch grundierte Männerbund wurde zu einer geradezu exemplarischen Vergemeinschaftungsform, in der eine exklusive Männlichkeit hergestellt werden sollte. Die Frage nach einem weiblichen Pendant wurde während der Tagung wiederholt aufgeworfen, blieb jedoch unbeantwortet.

Der Abend wurde beschlossen mit der Eröffnung der Sonderausstellung „Jugendbewegte Geschlechterverhältnisse“ durch SUSANNE RAPPE-WEBER und DORIT HORN. In der Ausstellung wird Material aus dem Archiv präsentiert, welches die Tagung illustriert und entsprechend ergänzt.

Den Themenbereich „Bünde und andere Formen der Gesellung“ leitete BARBARA STAMBOLIS ein. In ihrem Beitrag erörterte sie, wie Jungen in der Jugendbewegung auf das Vordringen der Mädchen in männliche Räume mit Spott und Abweisung reagierten. Gleichsam im Rückgriff auf bereits bestehende und normativ wirksame Wissensbestände zu Weiblichkeit wurde jenen jugendbewegten Mädchen „Verbengelung“ vorgeworfen. Pointiert zeigte Stambolis, dass die Jungen, verunsichert in ihrer Männlichkeit und um ihr Privileg der Jugend besorgt, auf das Bild der „lieblichen Jungfrau“ als Ideal von Weiblichkeit zurückgriffen und Überschreitungen dieser Geschlechtergrenze scharf sanktionierten.

MEIKE SOPHIA BAADER begann ihren Vortrag zum Thema vergeschlechtlichter Vergemeinschaftungsformen mit einer historischen Kontextualisierung, in der sie verdeutlichte, dass die Jugendbewegung trotz des geringfügigen Anteils von etwa zwei Prozent in der organisierten deutschen Jugend doch eine enorme Breitenwirksamkeit entfaltete. Indem gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen in Kaiserreich und Weimarer Republik nicht zuletzt aufgrund eines Handlungsbedarfs aufgegriffen wurden, entwickelte sich die Jugendbewegung zu einem Brennglas zentraler Fragen wie beispielsweise Beteiligung von Mädchen, Umgang mit Sexualität usw. Entsprechend verdeutlichte Baader, wie die auszuhandelnden Geschlechterverhältnisse zu neuen, explizit für die Jugendbewegung typischen Gesellungs- und Beziehungsformen führten, welche Jugend als psychosoziales Moratorium nachhaltig prägten.

Das zweite Panel, „Körper- und Geschlechterpolitiken“, eröffnete KATRIN KÖPPERT. In ihrem Vortrag, in dem vorläufige Ergebnisse des DFG-Forschungsprojektes „Medienamateure in der homosexuellen Kultur“ präsentiert wurden, ging es um den Umgang mit Amateurfotografien und den daraus zu ziehenden Erkenntnisgewinn. Welches Wissen sich in den präsentierten Bildern über Möglichkeiten und Grenzen männlich-homosexueller Lebensweisen in der Jugendbewegung herstellen lässt, war dabei eine diskutierte Frage. Vor dem Hintergrund einer exemplarisch herangezogenen Biographie sowie dem historischen Kontext der bündischen Phase konstatierte Köppert eine spezifische Blickkultur, in der sich eine maskulinistische, disziplinierende, aber auch sadistische Männlichkeit materialisiere. Gleichzeitig verhandelten die Bilder eine die homosexuelle Neigung camouflierende Heimlichkeit und einen zu versteckenden Voyeurismus. Aufgrund dieser multivalenten Situation seien – so Köppert – Rückschlüsse auf eine faschistoide Homosexualität anhand des Wissens rund um die Bilder kritisch zu diskutieren und zu rekonzeptualisieren.

ALEXANDER KNOTH und JULIEN ACQUATELLA untersuchten im Folgebeitrag Formen von Körpersozialisierung unter dem totalitären NS-Regime in Deutschland im Zusammenhang mit Emotion und Geschlecht als kontribuierenden Faktoren.

„Gesellschaftliche Kontexte und Reflexionen der Jugendbewegung“, der dritte Themenkomplex, wurde eröffnet von TONI THOLEN. In seinem Vortrag betonte Tholen zunächst den Wandel hin zur MännlichkeitENforschung und machte sich weiterhin stark für eine differenzierte Lesart von Männlichkeiten, welche sich nicht zuletzt an der Literatur um 1900 nachvollziehen lässt. Exemplarisch analysierte er die zirkulär verlaufende und in sich heterogene Männlichkeit in Hesses Roman „Peter Camenzind“, und konstatierte für Musils „Mann ohne Eigenschaften“ die Utopie eines Dialogs zwischen den Geschlechtern, für die allerdings eine reflektierte Männlichkeit notwendig sei.

„Zur Wahrnehmung der bündischen Mädchenjugend durch die Frauenbewegung 1920-1933“ äußerte sich KERSTIN WOLFF im Folgebeitrag. Anhand einer Analyse der Zeitschrift „Die Frau“ stellte sie eine Gleichsetzung von Jugend und Jugendbewegung in dem frauenbewegten Organ fest und merkte kritisch an, dass den Mädchengruppen also keinerlei Ermutigung zuteil wurde. Vielmehr habe es in dem Periodikum leider zur Feststellung geführt, dass Mädchen in der Jugendbewegung bedeutungslos seien.

Den vierten Themenkomplex „Geschlechterpraxis nach 1918“ eröffnete ULRIKE PILARCZYK mit Erläuterungen zur seriell-ikonographischen Fotoanalyse am Beispiel von „Medialen Inszenierungen von Geschlecht in der zionistischen Jugendbewegung in Deutschland und Palästina nach 1933“. Anhand des vielfältigen und beeindruckenden Materials zeigte Pilarczyk, wie sich ein Wandel von vergleichsweise unkonventionellen Geschlechterbildern vor der Emigration nach Palästina sowie in der Anfangszeit der Kibbuzim hin zu klar getrennten und traditionellen Rollenmustern vollzog. Sie konstatierte, dass dieser Wandel sich erst vor dem Hintergrund der Verfolgung der Juden im NS-Regime erschließen lasse.

Im anschließenden Vortrag stellten die Referentinnen IRA SPIEKER und ANJA CHRISTINCK die als Utopie weiblichen Zusammenlebens lesbare Frauenbildungseinrichtung Loheland vor. Explizit ging es ihnen um das dort entwickelte Frauenbild, welches sich als emanzipiert und freiheitlich von den zeitgenössischen bürgerlichen Vorstellungen abhob.

In ihrem Vortrag zur Geschlechterkonstruktion rechter Frauenbünde beleuchtete SILVIA LANGE die Verschmelzung von christlicher Religion und völkisch orientierter Politik in der Konstruktion des Weiblichkeitsideals im Neulandbund. Ambivalent bleibe dabei die Rolle der Gründerin Guida Diehl, welche sich einerseits für die Stärkung und Aufwertung weiblicher Positionen einsetzte, diese Forderung aber andererseits auf der Grundlage nationalistisch-patriarchaler Beweggründe aufstellte.

An diesen Themenbereich konnte ANTJE HARMS mit ihrem Vortrag inhaltlich anknüpfen. In der als rassisch homogen verstandenen ‚Volksgemeinschaft‘ sah Harms einen zentralen Topos im ausgehenden Kaiserreich, dem – zumindest diskursiv – andere Identitätskategorien wie Klasse untergeordnet wurden. Dass diese diskursive Gleichmachung auch die Geschlechterfrage in der Jugendbewegung prägte, wies die Referentin an den sich eröffnenden Partizipationsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen nach. Gleichsam betonte sie aber die Instrumentalisierung der vermeintlichen Egalität im Zusammenhang mit dem Ausschluss jüdischer Frauen und Mädchen zum Zweck der Herstellung einer völkisch-avantgardistischen Gemeinschaft.

Das letzte Panel „Jugendbewegung nach 1945“ wurde begonnen mit dem Vortrag von DAVID REINICKE. Anhand von Auszügen aus Zeitzeugeninterviews stellte er den Abschied vom ideologisierten Männerbund als kulturellen Wandel dar, aus dem allerdings keine klare Neudefinierung der auch weiterhin durchaus männlich geprägten bündischen Jugend resultierte. Reinicke konstatiert eine inhaltliche wie formale Pluralisierung in der deutschen Jugendbewegung nach 1945.

In der darauf folgenden Podiumsdiskussion stellte SONJA ADELHEID SCHREINER ebenfalls Auszüge aus Befragungen von Zeitzeuginnen vor, anhand derer die persönlichen Erfahrungen einzelner jugendbewegter Frauen sowie deren Einschätzung von Möglichkeiten und Grenzen von Weiblichkeiten dezidiert Gehör fanden.

Im Resümee der Tagung betonte SABINE HERING nochmals die Notwendigkeit explizit feministischer Perspektiven neben den jüngeren Ansätzen der Genderforschung. Mit dem Verweis darauf, dass die letzte Archivtagung auf dem Ludwigstein, die sich mit „Mädchen und Frauen in der Jugendbewegung“, also explizit mit Geschlechterfragen befasst hat, vor 27 Jahren stattfand, resümierte Hering pointiert, dass Gender im Anschluss an die diesjährige Tagung auch auf dem Ludwigstein zu einem Querschnittsthema erhoben würde.

Konferenzübersicht:

Meike S. Baader (Hildesheim) / Susanne Rappe-Weber (Eschwege): Begrüßung und Eröffnung der Tagung, Einführung in das Tagungsthema.

Claudia Bruns (Berlin): Eröffnungsvortrag „Die Politik des Männerbundes.“

Dorit Horn (Hildesheim) / Susanne Rappe-Weber: Einführung in die Ausstellung.

Barbara Stambolis (Paderborn): „Weiblichkeit im Männerbund. Von lieblichen Jungfrauen zu verbengelten Gestalten.“

Meike S. Baader (Hildesheim): „'Wie kam das Weib nun schließlich doch an die Lagerfeuer der Jugendbewegung?' Gesellungs-, Vergemeinschaftungs- und Beziehungsformen in Geschlechterkonstruktionen um 1900.“

Katrin Köppert (Siegen): „'Alle waren sportlich, jugendlich und jungenhaft.' Fotografische Selbstzeugnisse jungen- und jugendbewegter Medienamateure.“

Alexander Knoth / Julien Acquatella (Potsdam): „Körperdisziplinierung und die Konstruktion von Emotion am Beispiel der HJ und des BDM. Ein Werkstattbericht zu historisch-soziologischen Forschungsperspektiven.“

Toni Tholen (Hildesheim): „Geschlechterkonstruktionen und Jugendbewegung in literarischen Texten um und nach 1900.“

Kerstin Wolff (Kassel): „Zur Wahrnehmung der bündischen Mädchenjugend durch die Frauenbewegung 1920 – 1933.“

Ulrike Pilarczyk (Braunschweig): „Mediale Inszenierungen von Geschlecht in der zionistischen Jugendbewegung in Deutschland und Palästina nach 1933.“

Anja Christinck und Ira Spieker (Göttingen): „Auf eigenen Wegen. Loheland als Bildungs-, Lebens- und Arbeitsstätte für Frauen.“

Silvia Lange (Hildesheim): „Geschlechterkonstruktion und -politik rechter Frauenbünde am Beispiel der Neulandbewegung.“

Antje Harms (Kassel): „Volksgemeinschaft und Geschlecht in der bürgerlichen Jugendbewegung um 1919.“

David Reinicke (Göttingen): „Männerbund und Jugendkultur: Der Abschied vom bündischen Ideal in der deutschen Jugendbewegung 1945-1965.“

Podiumsdiskussion mit Sonja Adelheid Schreiner (Hildesheim): „Selbst-Verortungen und Identitäten: Von jugendbewegten Mädchengruppen zu Neuen Sozialen Bewegungen.“

Sabine Hering (Siegen): Resümee und Ausblick.


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