Der Gandersheimer Schatz im Vergleich. Internationale Fachtagung

Der Gandersheimer Schatz im Vergleich. Internationale Fachtagung

Organisatoren
Hedwig Röckelein, Forschungsprojekt „Frauenstift Gandersheim“, Georg-August-Universität Göttingen
Ort
Bad Gandersheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2010 - 02.10.2010
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Von
Maria Julia Hartgen / Thorsten Henke, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen; Christian Popp, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Germania Sacra

In der ehemaligen Klosterkirche Brunshausen in Bad Gandersheim fand vom 30. September bis zum 2. Oktober 2010 die Abschlusstagung des Forschungsprojektes „Frauenstift Gandersheim“ statt, das unter Leitung von Hedwig Röckelein an der Georg-August-Universität Göttingen angesiedelt ist und seit 2006 vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen gefördert wird.

In ihrer Einleitung stellte HEDWIG RÖCKELEIN (Göttingen) die bisherige Arbeit des aus vier Teilprojekten bestehenden interdisziplinären und epochenübergreifenden Forschungsprojektes vor und würdigte die erfolgreiche Zusammenarbeit von Kunsthistorikern, Archäologen, Historikern, Textilwissenschaftlern, Kulturanthropologen, Epigraphikern und weiteren Vertretern verwandter Disziplinen. Ergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung der materiellen und schriftlichen Überlieferung des Gandersheimer Kanonissenstifts flossen auch in die Ausstellungen ein, die das Portal zur Geschichte in den Räumlichkeiten der Gandersheimer Stiftskirche und der Klosterkirche Brunshausen zeigt. Die Tagungsteilnehmer gedachten des kürzlich verstorbenen Braunschweiger Kunsthistorikers Johannes Zahlten, der sich zeit seines Lebens intensiv mit den Gandersheimer Überlieferungen der Neuzeit befasst hat.

Den Reigen der Vorträge eröffnete CHRISTIAN POPP (Göttingen), der sich dem mittelalterlichen Heiligenhimmel des Gandersheimer Frauenstiftes widmete. Er stellte die wesentlichen Methoden der Analyse und Interpretation des Gandersheimer Reliquienkultes vor und erläuterte sie exemplarisch an Objekten des Kirchenschatzes. Insbesondere ging er auf den singulären Kult des hl. Primitivus ein und zeigte das Erkenntnispotential der Erforschung von Sonderkulten auch im Hinblick auf das religiöse und politische Beziehungsnetz der Kanonissen. Thematisch unmittelbar anschließend konzentrierte ANNEMARIE STAUFFER (Köln) ihre Ausführungen auf das sogenannte Gandersheimer Salvatortüchlein, ein monochrom gemustertes Leinengewebefragment mit einer Inschrift des 8./9. Jahrhunderts. Sie ging auf den Typus der Hüllenreliquie und ihr Auftreten im 8./9.Jahrhundert ein und konnte den Beweis antreten, dass die Tuchreliquie zu den Grundsteinen des Gandersheimer Konvents gehört. ANNA PAWLIK (Essen) widmete sich einer heute verlorenen Marienfigur, die in Gandersheimer Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts genannt wird. Im Kontext der überlieferten Marienskulpturen des 10. bis 13. Jahrhunderts sprach sie sich dafür aus, die Entstehung der Gandersheimer Figur im 12./13. Jahrhundert anzunehmen. Die Georgsfigur in der Pfarrkirche St. Georg vor den Mauern Gandersheims aus dem frühen 15. Jahrhundert stand im Zentrum der Ausführungen von JAN FRIEDRICH RICHTER (Berlin). Er wies auf die besondere Qualität dieser Skulptur hin und warf Fragen nach dem Aufstellungskontext, dem Werkstattzusammenhang und der Funktion auf.

MARIA JULIA HARTGEN (Göttingen) präsentierte zu Beginn des zweiten Tages die Ergebnisse ihrer Recherchen nach den Vorlagen der Wandmalereien im Fürstlichen Haus zu Brunshausen, die die Barockäbtissin Elisabeth Ernestine Antonie von Sachsen-Meiningen (1713-1766) anbringen ließ. Neben Reisebuchillustrationen des 16. bis 18. Jahrhunderts ließen sich Druckwerke wie Christoph Weigels Biblia Ectypa von 1695 als Vorbilder ausfindig machen. Einen Überblick über die gesamte materielle Überlieferung gab THOMAS LABUSIAK (Halberstadt/Quedlinburg), ehemals Leiter des Portals zur Geschichte, vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Stifts. In den besonderen Blick nahm er einige ausgewählte Exponate wie das Bergkristallgefäß (um 1000) mit Heilig-Blut-Reliquie und einen heute nur fragmentarisch erhaltenen byzantinischen Seidensamit des 8./9. Jahrhunderts, der im 11./12. Jahrhundert mit Stickereien verziert und im 14. Jahrhundert zu einem Messgewand umgearbeitet wurde.

Den Vergleich zu anderen Kirchenschätzen begann THORSTEN HENKE (Göttingen/Hannover) mit seinem Referat zur Lüneburger Goldenen Tafel des Benediktinerklosters St. Michaelis. Er konzentrierte sich in seiner Darstellung dieses ebenfalls nur fragmentarisch erhaltenen Reliquienschatzes auf die bisher wenig in den Blick genommenen mittelalterlich-frühneuzeitlichen Schriftquellen. Was mit Schätzen geschah, die in die Hände der radikalen Reformatoren fielen, hat MELANIE PRANGE (Rottenburg) am Beispiel von Konstanz vorgeführt: die Reliquienbehälter wurden eingeschmolzen, die Reliquien vernichtet. Die Referentin versuchte, das Schatzensemble des 14./15. Jahrhunderts zu rekonstruieren, und erläuterte die Einbindung der Objekte in die Liturgie der Konstanzer Domkirche. BETTINA SEYDERHELM (Magdeburg) schilderte das zähe Ringen der Halberstädter Dompfarrei gegen die Administrationen der wechselnden Obrigkeiten seit der Säkularisation des Halberstädter Domkapitels 1810 bis in die jüngste Geschichte. REGINE MARTH (Braunschweig) überprüfte kritisch die Provenienz der elf im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig befindlichen Objekte, die Gandersheim zugeschrieben werden.

Im historischen Ambiente des Kaisersaals der ehemaligen Stiftsabtei Gandersheim legte HARTMUT KÜHNE (Berlin) in seinem öffentlichen Abendvortrag dar, dass der Wunderglaube ein essentieller Bestandteil der lutherischen Theologie vom 16. bis 18. Jahrhundert war. Die Wunder, die im Mittelalter untrennbar mit den Heiligen und ihren Reliquien verbunden waren, wurden in der protestantischen Welt als Zeichen des göttlichen Wirkens und des wahren Glaubens gedeutet.

Den letzten Tag der Tagung leitete SCOTT WELLS (Los Angeles) mit Ausführungen zu der identitätsstiftenden Funktion der Gandersheimer Gründungslegenden ein. Insbesondere betrachtete er die Rolle der päpstlichen Patrone Anastasius und Innozenz, die im späteren Gedenken eng an die Seite der Stifterfamilie rückten. KATRINETTE BODARWÉ (Bad Abbach) beschäftigte sich mit der Schriftlichkeit in Gandersheim in karolingischer und ottonischer Zeit. In ihrem Vortrag wies sie auf Datierungsprobleme bei spätkarolingischer Minuskel hin und versuchte eine Zuordnung der Schreiberhände einiger Gandersheimer Authentiken in den Kontext des Essener Kanonissenstifts. CHRISTINE WULF (Göttingen) erarbeitete für die Inschriftenkommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen erstmals die rund 60 Inschriften aus Gandersheim, Brunshausen und Clus. Exemplarisch präsentierte sie einige Inschriften auf prominenten Schatzobjekten sowie auch ausschließlich kopial überlieferte Inschriften.

Am Ende der Tagung stellten sich MARTIN HOERNES (Berlin) und JÖRG RICHTER (Bern) der auch für Gandersheim aktuellen Frage nach dem heutigen musealen Umgang mit Kirchenschätzen. Anhand der von ihnen konzipierten Ausstellungen des Gandersheimer Portals zur Geschichte (Hoernes) und des Domschatzes von Halberstadt (Richter) erläuterten sie Strategien und Möglichkeiten der zeitgemäßen Präsentation kirchlicher Schatzstücke.

Konferenzübersicht:

Hedwig Röckelein (Göttingen) / Christina Durant (Göttingen/Bad Gandersheim) / Thomas Labusiak (Halberstadt/Quedlinburg): Begrüßung und Einführung

1. Sektion: Schatz und Sakralität

Christian Popp (Göttingen): Der Gandersheimer Heiligenhimmel

Annemarie Stauffer (Köln): Eine frühmittelalterliche Tuchreliquie in Gandersheim und ihr Kontext: Zu Ursprung und Verbreitung der mappae, brandea und sudaria

2. Sektion: Schatz und Frömmigkeit

Anna Pawlik (Essen/Münster): Skulptur und Reliquie im liturgischen Raum

Jan Friedrich Richter (Berlin): Zwischen Andachtsbild und Altarfigur. Das Patroziniumsbild der Gandersheimer Georgskirche

3. Sektion: „Verlorene“ Schätze: Überlieferung, Wirkungsgeschichten, Rekonstruktionen

Maria Julia Hartgen (Göttingen): Die Wandmalereien im Fürstlichen Haus der Äbtissin Elisabeth Ernestine Antonie von Sachsen-Meiningen

Thomas Labusiak (Halberstadt/Quedlinburg): Das Gandersheimer Frauenstift in seiner materiellen Überlieferung

Thorsten Henke (Göttingen/Hannover): Der Schatz der Lüneburger Goldenen Tafel. Eine Bestandsaufnahme

Melanie Prange (Rottenburg): Thesaurus Ecclesiae Constantiensis. Der Konstanzer Domschatz in der schriftlichen Überlieferung

4. Sektion: Nach 1810: Aufhebung, Zerstreuung, Wiederentdeckung der Schätze

Bettina Seyderhelm (Magdeburg): Der Halberstädter Domschatz nach 1810

Regine Marth (Braunschweig): Liturgische Geräte aus Gandersheim in Braunschweig

Hartmut Kühne (Berlin): „...zufällige Begebenheiten als Wundergeschichten sammeln.“ Über ephemere Reliquien im Luthertum (Öffentlicher Festvortrag im Kaisersaal der Abtei, Gandersheim)

5. Sektion: Schatzfunktionen

Scott Wells (Los Angeles): Schatz, Identität und Gründungslegenden in Gandersheim

Katrinette Bodarwé (Bad Abbach): Vom Schreiben in Gandersheim - von der Notiz zum Drama

Christine Wulf (Göttingen): Die Gandersheimer Inschriften zwischen Hildesheim und Halberstadt

6. Sektion: Kirchenschätze zwischen Musealisierung und Gebrauch

Martin Hoernes (Berlin): Museale Präsentation im liturgischen Raum: Erwartungen, Probleme, Perspektiven

Jörg Richter (Bern): Halberstadt. Zur Präsentation eines Kirchenschatzes am ursprünglichen Nutzungsort

Hedwig Röckelein (Göttingen) / Christina Durant (Göttingen/Bad Gandersheim): Zusammenfassung