„Der Lenker und höchste Leiter der Universitäten und Kirchen“. Melanchthons Werke und Briefe – Überlieferung und Wirkung in Wissenschaft und Kirche bis zum Ende des 16. Jahrhunderts

„Der Lenker und höchste Leiter der Universitäten und Kirchen“. Melanchthons Werke und Briefe – Überlieferung und Wirkung in Wissenschaft und Kirche bis zum Ende des 16. Jahrhunderts

Organisatoren
Johannes Schilling, Universität Kiel; Prof. Dr. Timothy Wengert, Lutheran Theological Seminary at Philadelphia
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.05.2010 - 27.05.2010
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Von
Johannes Schilling, Universität Kiel

Philipp Melanchthon gehört zu den prägenden Gestalten der Geschichte der Bildung in Deutschland und Europa. Im Rahmen der Lutherdekade in der Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 figuriert das Jahr 2010 unter dem Thema „Reformation und Bildung“. Angesichts der herausragenden Bedeutung, die die Herzog August Bibliothek für die Überlieferung und Erschließung von Melanchthons Werk hat, war es naheliegend, ein Arbeitsgespräch in der Bibliothek zu veranstalten, das Überlieferung und Interpretation dieses Werkes, Befund und Deutung miteinander verknüpft. Die erste Anregung ging von Prof. Dr. Timothy Wengert (Philadelphia) aus, als deutschen Partner gewann er den Berichterstatter. Die gemeinsame Tagung von ausländischen und deutschen Wissenschaftlern, erfahrenen Melanchthonforschern und Nachwuchswissenschaftlern, hat sich als ausgesprochen fruchtbar erwiesen.

Eröffnet wurde das Arbeitsgespräch mit einem gut besuchten öffentlichen Abendvortrag von JOHANNES SCHILLING (Kiel) in der Augusteerhalle. Seine Ausführungen über Melanchthons Bildungsprogramm im Zeitalter „kultureller Bildung“ unter dem Titel „Eloquenz und gute Sitten“ thematisierten den Zusammenhang von Rhetorik und Ethik bei Melanchthon, stellten das Thema aber auch in den Horizont gegenwärtiger kultureller Debatten. Bemerkenswert ist, wie differenziert Melanchthon in seinen entsprechenden Schriften das Thema Bildung im Hinblick auf verschiedene Adressatengruppen behandelt. Und unzweifelhaft ist, in welch hohem Maße der „Praeceptor Germaniae“ auch zum Lehrer Europas geworden ist.

Der erste Arbeitstag begann mit einer Einführung der beiden Leiter des Arbeitsgesprächs. Sie skizzierten je aus ihrer Sicht den Stand der Melanchthonforschung und hoben insbesondere die Entwicklungen seit dem letzten Jubiläumsjahr 1997 hervor. Der bedeutendste Ort für die Melanchthonforschung ist nach wie vor die Melanchthonforschungsstelle in Heidelberg, deren Arbeiten weltweit hohe Anerkennung genießen. Insbesondere die Edition des Briefwechsels schreitet planmäßig fort. Darüber hinaus ist die Forschungsstelle aber auch der zentrale Auskunftsort für alle Fragen der Melanchthonforschung.

Durch neuere Textausgaben und Übersetzungen ins Deutsche wurde Melanchthons Werk einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Freilich fehlt es bisher an textkritisch zuverlässigen Ausgaben zahlreicher Werke. Als biographisches Standardwerk hat sich Heinz Scheibles Biographie von 1997 erwiesen. Die Anstrengungen kommender Jahre sollten vor allem der Erschließung weiterer Schriften in neuen Ausgaben gelten.

HELMUT CLAUS (Gotha) stellte in seinem Beitrag „Stand und Aufgaben der Melanchthon-Bibliographie“ vor. Der Altmeister der Reformationsbibliographie in Deutschland arbeitet seit Jahrzehnten an einer Primärbibliographie der Melanchthondrucke bis 1560, gerade auch an und mit den Wolfenbütteler Beständen. Claus erläuterte die Vorgeschichte und die Genese der Bibliographie, die möglichen Alternativen für die Konzeption und Anlage des Werkes sowie den Stand seiner Arbeiten. Gegenüber den bisher bekannten Ausgaben von Schriften Melanchthons hat er eine Vielzahl bisher unbekannter Drucke und nicht beschriebener Werke, zumal in ausländischen Bibliotheken, erstmals identifizieren können. – Claus´ Melanchthonbibliographie wird, wenn sie denn erschienen sein wird, eines der bedeutendsten und für die Reformationsgeschichtsforschung grundlegenden bibliographischen Werke aus dieser Generation sein, nicht weniger als ein Jahrhundertwerk. Und ihre Auswertung durch die verschiedenen Disziplinen der historischen Forschung dürfte in vieler Hinsicht Konsequenzen für die Erfassung und Darstellung einzelner reformationsgeschichtlicher Komplexe und der reformatorischen Ideen im Ganzen haben.

MATTHIAS DALL´ ASTA (Heidelberg) unterzog Melanchthons Briefe an seinen Freund Joachim Camerarius im Horizont ihrer Neuedition im Rahmen von „Melanchthons Briefwechsel“ (MBW) einer Relektüre. Camerarius hat als Empfänger, Sammler und Herausgeber von Briefen Melanchthons in seinen Ausgaben nicht wenig redigiert. Melanchthons Brieftexte haben so eine Rezeptionsgeschichte hervorgebracht, die teilweise nicht auf ihren Autor, sondern ihren Herausgeber zurückzuführen ist. Gerade in dieser Hinsicht ist der wirkungsgeschichtliche Apparat von MBW von besonderer Bedeutung. Der Beitrag verband philologische Akkuratesse mit feinem Witz. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden in die nächsten Bände der Textausgabe von Melanchthons Briefwechsel (MBW.T) eingehen und damit einen authentischen Melanchthontext und nicht länger den textus receptus bieten.

„Melanchthon und Aristoteles“ lautete der Titel von NICOLE KUROPKAS (Düsseldorf) Vortrag. Die Referentin, die für ihre Wuppertaler Dissertation mit dem Melanchthonpreis der Europäischen Melanchthon-Akademie ausgezeichnet wurde und eben eine Monographie über Melanchthon vorgelegt hat1, führte aus, dass Melanchthon ein humanistisches Interesse an Aristoteles nach Wittenberg mitbrachte. Dort aber sah er sich mit der Aristoteleskritik Luthers konfrontiert. Während Melanchthon Luthers theologische Anfragen von den griechischen Philosophen recht schnell übernahm, insistierte er andererseits auf eine kompetente Ausbildung in den Fächern der Dialektik und Rhetorik. Anfänglich ersetzte Melanchthon in diesem Bereich den griechischen Philosophen durch Cicero. Ende der zwanziger Jahre klärte Melanchthon für sich das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, von Gesetz und Evangelium, so dass Aristoteles für den Bereich der Vernunft rehabilitiert werden konnte. Nach dieser grundlegenden Klärung wandte sich Melanchthon erneut Aristoteles zu, brachte ihn in seine sprachlichen Lehrbücher ein und kommentierte zahlreiche seiner Werke, insbesondere die Nikomachische Ethik.

Die Bibliotheksführung war für einige Teilnehmer eine Erstbegegnung. VOLKER BAUER (Wolfenbüttel) erschloss den Teilnehmern das Haus und seine Bestände. Besonders interessant war im Zusammenhang mit dem Thema des Arbeitsgesprächs die laufende Ausstellung über die Geschichte der Universität Helmstedt.

Der Vortrag von JAMES M. ESTES (Toronto) konnte wegen Erkrankung des Referenten von ihm selbst leider nicht vorgetragen werden; er liegt mittlerweile im Manuskript vor.

CHRISTINE WEIDE (Kiel) zeichnete in ihrem Beitrag „Melanchthon und Spalatin in ihren Briefen“ die Beziehungen zwischen dem kurfürstlichen Sekretär am Wittenberger Hof und dem jungen Professor der Leucorea nach. Diese Darstellung brachte insofern einen deutlichen Erkenntnisfortschritt, als Frau Weide den gesamten Briefwechsel Spalatins bis zu seinem Weggang aus Wittenberg nach dem Tod Friedrichs des Weisen 1525 rekonstruiert hat. Damit gibt es, nach zahlreichen Anläufen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, erstmals überhaupt eine verlässliche Grundlage für die Einsicht in Spalatins Korrespondenz (und auch eine Basis für eine mögliche Edition desselben). Die Ausführungen betrafen die verschiedenen Rollen und Funktionen, in denen die Korrespondenzpartner agierten und die Aufgaben, die Spalatin als dem Beauftragten für die Universität oblagen; am Ende stand der Versuch, die persönlichen Beziehungen der Korrespondenzpartner zu charakterisieren und eine angemessene Würdigung zwischen dieser von wechselseitigem Respekt bestimmten Beziehung vorzunehmen.

RALF JENETT (Hamburg) skizzierte in seinen durch Ansichten von Melanchthons Autograph bereicherten Ausführungen über „Melanchthons Heubtartikel der christlichen Lere und ihre Leser“ Aufgaben in der Arbeit an Exemplaren der Heubtartikel. Diese wurden von im Hinblick auf Stand, Bildung und Konfession ganz verschiedenen Lesern zur Kenntnis genommen. Ein besonderer Gewinn seiner Darlegungen lag darin, dass Druckexemplare verschiedener aetates aus den Beständen der HAB einzelne Leserpositionen markieren konnten. Aufgabe der weiteren Arbeit am Thema wird es sein, die Profile der diversen Leser und Benutzer der Heubtartikel zu beschreiben und damit einen Beitrag zur zeitgenössischen Rezeption der wichtigsten deutschsprachigen Schrift Melanchthons zu liefern.

Den zweiten Sitzungstag eröffnete HERMAN J. SELDERHUIS (Apeldoorn) mit dem Beitrag „Melanchthon´s Loci communes and Calvin´s Institutiones“. Er verglich die beiden Großwerke protestantischer Lehrbildung miteinander, stellte den jeweiligen historischen und theologischen Ort der einzelnen aetates heraus und machte deutlich, in welch anderer, fortgeschrittener Situation Calvin seine Institutio verfassen konnte, nachdem der Boden für ein solches Werk durch Melanchthons Loci bereitet worden war. Calvin schätze die Loci hoch; der Einfluss einer Ausgabe der Institutio auf Melanchthon lässt sich indes nicht nachweisen. Insgesamt zielen beide Werke auf ein besseres Verständnis der Heiligen Schrift. Der Bibelbezug kommt auch in starkem und im Verlauf der Überarbeitungen deutlicherem Rekurs auf die Heilige Schrift zum Ausdruck.

IRENE DINGEL (Mainz) gab in ihrem Vortrag „Theologische Profilbildung. Das Abendmahlsverständnis bei Melanchthon und in der Konkordienformel“ einen Überblick darüber, wie der Wittenberger seine Abendmahlslehre in sich wandelnden historischen Kontexten weiterentwickelte. Während er in der Confessio Augustana invariata, in der Hoffnung auf einen noch zu erstrebenden Konsens mit den Altgläubigen und in Übereinstimmung mit Martin Luther, noch die reale Anwesenheit von Leib und Blut Christi unter den Elementen Brot und Wein vertreten hatte, ergab sich durch die Wittenberger Konkordienverhandlungen mit den Oberdeutschen unter Führung Martin Bucers bereits eine Modifizierung, die sich in der Confessio Augustana variata sowie später in weiteren, für Melanchthon charakteristischen Formulierungen in der Confessio Saxonica, dem Examen Ordinandorum und den _Loci communes _niederschlug. Dingels Analyse zielte darauf, das für Melanchthon Typische in dessen Betonung der realen Anwesenheit der ganzen Person „in usu“ sowie in der Akzentuierung der Gemeinschaft Christi mit den Empfängern gemäß 1. Kor 10, 16 herauszustellen. Dass ihn seine Lehre sowohl von Luther und dessen Nachfolgern als auch von Calvin deutlich unterschied, wurde trotz Vereinnahmungstendenzen durch die sich bildenden evangelischen Konfessionen, zumindest eine Zeitlang von den Zeitgenossen wahrgenommen. Dadurch dass die Konkordienformel versuchte, einige melanchthonische Lehrelemente aufzugreifen, zielte sie darauf, die Anhänger Melanchthons langfristig zu integrieren.

TIMOTHY WENGERT (Philadelphia) stellte „Philip Melanchthon’s 1557 Lecture on Colossians 3, 1-2” vor. Er bot zunächst eine Übersicht über Melanchthons Verständnis des Abendmahls bis 1557, behandelte sodann Melanchthons Vorlesung über Kolosser 3 im Juni 1557 und den in Folge der Vorlesung gedruckten Kommentar von 1559, den Melanchthon als sein letztes Wort in der Sache verstand. Ausführlich wurden die Probleme der Interpretation des Kolossertextes an einem bisher unveröffentlichten Text der Vorlesung aus dem Stadtarchiv Bremen erörtert. Ein Vergleich mit reformierten Positionen zur Stelle und eine Skizze der komplizierten und weit über Melanchthons Tod hinaus reichenden Kontroverse beschlossen den Vortrag, der einen neuen Quellenfund theologiegeschichtlich einordnete und diskutierte.

Den letzten der theologiegeschichtlich ausgerichteten Vorträge hielt ROBERT KOLB (St. Louis) über „The Critique of Melanchthon´s Doctrine of the Lord´s Supper by his ´Gnesio-Lutheran´ Students”. Kolbs Referat stellte insgesamt ein Plädoyer für eine noch differenziertere Wahrnehmung der Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Richtungen und Personen im Umkreis und in der Nachfolge Luthers und Melanchthons dar. Die „Gnesiolutheraner“ können nicht als einheitliche Größe angesehen werden; es gibt Entwicklungen auch bei einzelnen ihrer Vertreter, und nicht in allen theologischen Kontroversen argumentieren die Anhänger der einen oder anderen Partei unisono.

HEINZ SCHEIBLE (Heidelberg), der Initiator und jahrzehntelange Leiter der Melanchthon-Forschungsstelle resümierte in seinem abschließenden Statement ein halbes Jahrhundert Melanchthonforschung. Erfreulicherweise fand das aktuelle Arbeitsgespräch vor dem kritischen Ohr des Altmeisters der Melanchthonforschung Gnade.

Die Tagung verband Quellenforschung und bibliographische Expertise mit innovativen Fragestellungen. Sie bot einen bemerkenswerten Beitrag zur Erforschung insbesondere des späten Melanchthon. Es gibt ja bekanntlich in dieser Hinsicht noch etliche Desiderate. Weder verfügen wir im Hinblick auf seine Schriften über eine der vorzüglichen Edition von Melanchthons Briefwechsel auch nur irgend vergleichbare Grundlage, noch werden wenig studierte Texte des Reformators deutlicher in den Blick genommen. Freilich gibt es Anzeichen und Bemühungen dafür, dass sich diese Situation ändert. Mit dem Arbeitsgespräch wurde ein Beitrag zur weiteren Erforschung geleistet, und die Früchte werden sich in absehbarer Zeit hoffentlich zeigen.

Konferenzübersicht:

Johannes Schilling (Kiel): Eloquenz und gute Sitten. Melanchthons Bildungsprogramm im Zeitalter „kultureller Bildung“ (Öffentlicher Abendvortrag)

Johannes Schilling (Kiel), Timothy Wengert (Philadelphia): Einführung

Helmut Claus (Gotha): Aufgaben und Stand der Melanchthon-Bibliographie

Matthias Dall’Asta (Heidelberg): Melanchthons Briefe an Joachim Camerarius – eine Relektüre im Horizont Ihrer Neuedition

Nicole Kuropka (Düsseldorf): Melanchthon und Aristoteles

James M. Estes (Toronto): Melanchthon, Episcopacy and Landeskirchentum

Christine Weide (Kiel): Melanchthon und Spalatin in ihren Briefen

Ralf Jenett (Hamburg): Melanchthons Heubtartikel der christlichen Lere und ihre Leser

Hermann J. Selderhuis (Apeldoorn): Melanchthon’s Loci communes and Calvin’s Institutiones

Irene Dingel (Mainz): Theologische Profilbildung – das Abendmahlsverständnis bei Melanchthon und in der Konkordienformel

Timothy Wengert (Philadelphia): The Reception of Melanchthon’s Final Commentary on Colossians (1559)

Robert Kolb (St. Louis): The Critique of Melanchthon’s Doctrine of the Lord’s Supper by his ‘Gnesio-Lutheran’ Students

Abschlussdiskussion; Leitung: Heinz Scheible (Heidelberg)

Anmerkung:
1 Nicole Kuropka, Melanchthon. Tübingen 2010.


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