Am Ende des Meeres: Venedig und Lübeck im Mittelalter

Am Ende des Meeres: Venedig und Lübeck im Mittelalter

Organisatoren
Deutsches Studienzentrum in Venedig
Ort
Venedig
Land
Italy
Vom - Bis
26.09.2010 - 04.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Susanne K. Paas, Institut für Neuere Privatrechtsgeschichte, Universität zu Köln

Das Deutsche Studienzentrum in Venedig1 organisiert jährlich einen interdisziplinären Studienkurs. Die einwöchige Tagung mit thematischem Bezug zu Venedig findet in den Räumen des Studienzentrums in Venedig statt und wird von einem umfangreichen Rahmenprogramm begleitet. In diesem Jahr standen mit Venedig und Lübeck zwei Städte „am Ende des Meeres“ im Mittelpunkt. Vom 26.09. bis zum 04.10.2010 diskutierten Juristen/-innen und Historiker/-innen unter Leitung von ALBRECHT CORDES (Frankfurt am Main) und IRMGARD FEES (München) die Vergleichbarkeit dieser spätmittelalterlichen Städte in Bezug auf ihre Wirtschafts- und Handelsorganisation. Dabei sollten nicht Fragen der gegenseitiger Beeinflussung oder Befruchtung der beiden Städte den Schwerpunkt des Vergleichs bilden, stattdessen diente dieser als Folie, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede klarer zu definieren.

Die Erörterung der historischen, geographischen und sozialen Entwicklung in Venedig und Lübeck bildete den ersten Tagungsschwerpunkt, den KATJA SKOKOW (Leipzig) mit ihrem Vortrag „Venedig als ‚Ein Viertel und die Hälfte eines Viertels‘ des oströmischen Reichs – Lübeck als ‚Haupt der Hanse‘“ einleitete. Sie betonte, dass sowohl Venedig als auch Lübeck eine Emanzipation von ihrer jeweilig übergeordneten Macht erstrebten, aber nur Venedig die Etablierung einer autonomen Herrschaft gelang. Skokow erklärte dies durch eine günstigere topographische Ausgangslage, einen längeren Entwicklungszeitraum, ein größeres Territorium und eine größere Bevölkerungszahl sowie einen damit verbundenen institutionell-organisatorischen Vorsprung der Lagunenstadt.

Die höhere Bevölkerungsdichte Venedigs hob auch BARBARA PEINTINGER (Wien) in ihrem Vortrag über die sozialen Strukturen dieser Städte als Unterschied hervor. Die Fragen über die soziale Mobilität, die für Venedig in der Forschung traditionell als geringer bewertet werden2 als beispielsweise für Lübeck, müssen nach Ansicht der Teilnehmenden durch ein vielschichtiges Geflecht von Einzelstudien ersetzt werden.

Einer anderen Thematik der äußeren Rahmenbedingungen wandte sich PHILIPP HÖHN (Saarbrücken) in seinem Referat über die Topographie Venedigs und Lübecks zu. Zwar wies er auf eine ähnliche Sozialtopographie beider Städte hin, resultierend – so seine und auch Peintingers These – aus einer vergleichbaren Sozialstruktur. Er konzentrierte sich aber in seinem Vortrag auf das Zusammenspiel der in Venedig und Lübeck vergleichbar günstigen Lage an geschützten Seehäfen und Verkehrsanbindungen und der aktiven Nutzung dieser Bedingungen durch städtische Baupolitik, welche in Venedig aufgrund der baulichen Besonderheit einer Stadt auf Wasser intensiver ausfielen.

Nach der Nutzung des Raumes in Form von Kontoren und Kolonien fragte CHRISTINA SCHMIDT (Hamburg) und resümierte, dass die Kolonien auf venezianischer und die Kontore auf lübischer Seite in ihrer handelsfördernden Funktion als Handlungsknoten im Ausland, als Kommunikationszentren und Schutzräume sich ähnelten. Als Desiderat wurden Detailstudien zum Umgang mit der lokalen Bevölkerung in Kontoren und Kolonien und mit dem lübischen Raum vergleichbare Studien für venezianische Kolonien über die sozialen Kontrollen und den Umgang der unterschiedlichen Rechtsräume herausgestellt.

Einen zweiten Schwerpunkt der Tagung bildete die Analyse der Handlungsorganisation in “rechtlichen“ und “praktischen“ Formen. Als produktiv erwies sich in den folgenden Referaten die Auseinandersetzung mit den Thesen Stromers und Sombarts3 zur Rückständigkeit der Hanse, welcher die Erklärung dieser unterschiedlichen Entwicklungen durch unterschiedliche Bedürfnisse gegenübergestellt wurde.

In diesem Sinne verglich ALEXANDER T. MÜLLER (Freiburg) in seinem Vortrag venezianische und lübische Handelsgesellschaften mit der „commenda“ bzw. dem „Sendegut“ und der „collegantia“ bzw. der „Widerlegung“. Konsens herrschte über den Mangel an Einzelstudien zu Fragen des Transfers von italienischen Praktiken in den norddeutschen Raum, ebenso wie über die Notwendigkeit, die gesellschaftsrechtlichen Themen in den Rahmen nicht verrechtlichter Handelsformen der Zeit sowie sozialer und familiärer Strukturen einzufügen. Insbesondere die Arbeiten von Mickwitz zur „Fernhandelsgesellschaft auf Gegenseitigkeit“4 wurden als instruktiv bewertet.

Aus einer dogmatischen Perspektive wandte sich DORIS FORSTER (Konstanz) der Entstehung und Entwicklung der Seeversicherung in Venedig als Möglichkeit der Risikostreuung zu. Ein Pendant der Absicherung fand sich für Lübeck nicht, wobei die Teilnehmer als Erklärung dafür sowohl ein geringeres Risiko der lübischen Gesellschaften und somit ein fehlendes Bedürfnis als auch einen geringeren Kapitaleinsatz und somit einen kleineren Verfügungsrahmen für Absicherungen diskutierten.

Wie sich Gemeinsamkeiten zwischen den Handelsstädten in den Quellen niederschlugen bzw. wie die Kaufleute selbst ihren Handel praktisch organisierten, illustrierte ALEXANDER KREY (Frankfurt am Main) für die Stadtbücher und das Notariat, BETTINA PFOTENHAUER (München) für die Kaufmannsbücher und ASTRID THOMSCH (Münster) für die Kaufmannstestamente. Am Beispiel der Ausdifferenzierung der Stadtbücher und der Entwicklung von kirchlichen Notaren zu zunehmend juristisch ausgebildeten Notaren zeigte Krey, wie sich gesellschaftliche Ausdifferenzierung in den Quellen widerspiegelt. Pfotenhauer hob hervor, dass sowohl Manuale, wie beispielsweise der „Zibaldone da Canal“, als auch die doppelte Buchführung italienischer Kaufleute weder adaptiert noch im norddeutschen Raum entwickelt wurden. Zwar lehnte die Referentin die Möglichkeit eines Vergleichs aufgrund der unterschiedlichen Handelsbedingungen ab und nahm stattdessen eine für den lübischen Raum passende Ausgestaltung der Kaufmannsbücher an, offen blieb jedoch, inwieweit angesichts unzureichend klarer Buchführung beispielsweise Hildebrand Veckinchusens bei seiner Venezianischen Gesellschaft nicht doch von einer „Rückständigkeit“ gesprochen werden kann. Thomsch wandte den Blick erneut auf eine Gemeinsamkeit zwischen den Städten, indem sie bei den Gründen für Testamente jeweils die Sorge um das Seelenheil sowie Angst vor Krankheit und Tod ausmachte. Diese Ambivalenz in der Bewertung christlicher Fragen durch die Menschen der Zeit – exemplarisch deutlich wird dies an der Umgehung des Zinsverbots auf der einen Seite und der Furcht vor dem Jenseits auf der anderen Seite – wurde von den Tagungsteilnehmern aufgegriffen. Diese Mentalitäten ähnelten sich, so die Bewertung der Teilnehmenden, trotz unterschiedlicher rechtlicher Ausformungen der testamentarischen Beurkundung.

Der Bedeutung der Quellen für die Reflexion kaufmännischen Lebens und Kultur, die die drei Referenten betonten, folgte als Perspektive DAVID WALLENHORST (Kiel) in seinem Referat über den venezianischen Kaufmann Romano Mairano. Die breit überlieferten Geschäftspapiere Mairanos, die im Staatsarchiv am Campo dei Frari von den Tagungsteilnehmern untersucht werden konnten, zeigen eine eigenhändige Unterschrift des Kaufmanns und eigenhändige Dorsualvermerke, die den Inhalt der Urkunde zumeist abgekürzt zusammenfassen, zum Beispiel „se“ für „secoritate“, also Quittung. Wallenhorst ging von einem Beginn einer auf Schriftlichkeit basierenden Geschäftsführung aus und führte Mairano als sehr frühes Exempel eines schriftkundigen Laien an. Dabei wurde die Frage nach der Singularität oder einer Repräsentativität Mairanos kontrovers diskutiert.

Mit dem Fondaco dei Tedeschi thematisierte SABRINA STOCKHUSEN (Kiel) explizit eine Verbindung zwischen den Städten, indem sie die Geschichte des Deutschen Hauses erläuterte und es als Kontrollinstrument der Venezianer zur Abschöpfung von Zöllen auf die transalpinen Handelswaren der Kaufleute charakterisierte. Während in der älteren Forschung die sich so verringernde Handlungsfreiheit für die deutschen Kaufleute nachteilig erörtert wurde, stand mit der Institutionenökonomie bzw. mit Fragen der Reduzierung von Transaktionskosten durch die Bereitstellung eines Übersetzers bzw. Maklers für die Kaufleute sowie einem festen Wohnort und Kommunikationspunkt ein neuer Aspekt im Mittelpunkt der Diskussion. Inwieweit aber eine so gewonnene positive Bewertung des Fondaco trägt, wurde in Bezug auf die Erhöhung von Kosten durch Handel mit dem Makler und somit wirtschaftliche Erkenntnisse bezüglich der Zwischenhändler auch angezweifelt.

Romano Mairano stand auf lübischer Seite der Kaufmann Hildebrand Veckinchusen gegenüber, dessen familiäre Netzwerke SUSANNE K. PAAS (Köln) analysierte. Auf der Grundlage von Forschungstheorien über die partnerschaftliche Struktur hanseatischen Handels, wie Sprandel sie vorschlägt5, stellte sie Probleme der Handelsstruktur bei der Überwachung und Kontrolle der Partner sowie deren Auswahl hervor. Als eine Möglichkeit, diesen Problemen zu begegnen, thematisierte sie Verwandtschaftsbeziehungen, wie sie sich bei Hildebrand Veckinchusen finden. Paas diskutierte aber auch die Grenzen der Bedeutung der Verwandtschaft, indem sie beispielsweise auf die Forderung Hildebrands an die Familie seines Schwiegervaters nach Entlohnung wie bei einem Fremden verwies. Ob es sich dabei um Grenzen des Modells handelt oder ob beispielsweise Konventionsbrüche im Einzelfall dies erklären können, müsste eine weitere Analyse zeigen.

Den vierten Themenschwerpunkt „obrigkeitliche Regelung und Reglementierung“ des Handels leitet STEPHAN KARL SANDERS‘ (Wien) Vortrag zu den venezianischen Staatsanleihen ein. Anhand verschiedener Staatsanleihen wie des Monte vecchios, des Monte nouvos und des Monte novissimos, zeigte Sanders auf, dass die territoriale und wirtschaftliche Expansion Venedigs, die Skokow dargestellt hatte, auch ermöglicht wurde durch den relativ stabilen Finanzmarkt. Kampfhandlungen jeder Art gefährdeten durch explodierende Staatsschulden und Preisverfall immer wieder den Anleihemarkt, sodass alte Anleihen durch neue ausgewechselt werden mussten – eine Entwicklung, die erst ab dem 16. Jahrhundert mit der Tilgung der Staatsschulden unterbunden werden konnte.

MATHIAS KLUGE (Augsburg) machte sich in seinem quellennahen Vortrag über lübische und hansische Privilegien auf die Suche nach der Wahrnehmung und Nutzung eben dieser Privilegien durch die hansischen Kaufleute. Als Beispiel wählte er Hildebrand Veckinchusen und dessen Versuche, sich aus dem Schuldturm zu befreien, indem dieser seine Privilegien als hansischer Kaufmann und seine Beziehungen als dreimaliger Ältermann zu nutzen versuchte. Die Adaption der rechtlichen Möglichkeiten durch Hildebrand Veckinchusen, einzubetten in die Nutzung der familiären Netzwerke, wurde dabei in der Diskussion als Notwendigkeit hervorgehoben.

CARLOS HEMBERGER (Frankfurt am Main) konzentrierte sich dagegen nicht auf das gelebte Recht, sondern fragte nach der Regulierung des Handels im lübischen Recht und exemplifizierte dies am Kolberger Kodex. Im Mittelpunkt stand nicht die Rezeption, sondern die Regelung innerhalb des Rechtssystems, wobei auf die damit verbundene Frage der Existenz einer „objektiven Rechtsordnung“ verwiesen wurde. Deutlich zeigte Hemberger das Bestreben der Städte auf, Handel zu fördern durch Schaffung eines befriedeten Raums innerhalb der Stadtgrenzen.

Insgesamt können die Teilnehmer auf eine anregungsreiche Tagung zurückblicken, wobei das Rahmenprogramm, das mit Archivbesuchen und dem Aufenthalt im Fondaco dei Tedeschi zum Teil Vortragsthemen aufgriff, als äußerst gelungen hervorgehoben wurde. Die Referate lieferten, so der Tenor der Abschlussdiskussion unter Leitung von Irmgard Fees, ein breites wirtschafts- und rechtshistorisches Spektrum an Vergleichsebenen der Städte Venedig und Lübeck im Mittelalter. Die Diskussion von Forschungsmodellen, wie dem der Institutionenökonomie, der Wahrnehmung und Nutzung von Raum, Konzentration auf Fragen der Mentalität und die Ersetzung von Rückständigkeitsvorstellungen für den Hanseraum durch bedürfnisorientierte Konzepte, führte dabei zu einem komplexen Bild, das zusammen mit dem Vergleich half, Besonderheiten der beiden Städte zu erfassen. Gleichzeitig verdeutlicht gerade diese Fragestellung Desiderate der Forschung sowie das Erfordernis von Detailstudien für die Durchführung bestimmter Vergleiche. Für weitere Arbeiten bietet sich sowohl ein Schließen eben dieser Lücken an als auch eine Ausweitung des Vergleichs auf andere Städte und andere Themen.

Konferenzübersicht:

Albrecht Cordes (Frankfurt am Main): Einführung und Begrüßung

I. Der äußere Rahmen des Handels

Katja Skokow (Leipzig): Venedig als „ein Viertel und die Hälfte eines Viertels“ des oströmischen Reichs; Lübeck als „Haupt der Hanse“

Barbara Peintinger (Wien): Kaufmannsrepubliken – Ein Vergleich der sozialen Strukturen von Venedig und Lübeck

Philipp Höhn (Saarbrücken): Land und Wasser – Zur Topographie der beiden Städte

Christina Schmidt (Hamburg): Kontore und Kolonien: Stützpunkte an der Gegenküste

II. Finanzierung und Risikostreuung

Alexander T. Müller (Freiburg): Venezianische und lübische Handelsgesellschaften im Vergleich

Doris Forster (Konstanz): Die Entstehung der Seeversicherung in Venedig

III. Praktische Organisation des Handels

Alexander Krey (Frankfurt am Main): Stadtbücher und Notariat

Bettina Pfotenhauer (München): Kaufmännische Buchführung in Venedig und Lübeck

Astrid Thomsch (Münster): Kaufmannstestamente

IV. Kaufmannskarrieren

David Wallenhorst (Kiel): Der Kaufmann Romano Mairano

Sabrina Stockhusen (Kiel): Der Fondaco dei Tedeschi und die deutschen Kaufleute in Venedig

Susanne K. Paas (Köln): Die Familie Veckinchusen

V. Obrigkeitliche Regulierung und Rahmenbedingungen

Stephan Karl Sander (Wien): Die venezianischen Staatsanleihen

Mattias Kluge (Augsburg): Lübische und hansische Privilegien

Carlos Tobias Hemberger (Frankfurt am Main): Regulierung des Handels im lübischen Recht

VI. Gastvortrag
NICOLAS GILLEN (Venedig): Geistliche Strafgerichtsbarkeit in Venedig - „Arme Sünder und privilegierte Verbrecher“

Irmgard Fees (München)
Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Für ausführliche Informationen zu Einrichtungen sowie deren weiteren Programmen und Fördermöglichkeiten siehe <http:/ /www.dszv.it/de/> (11.10.2010).
2 Rolf Hammel-Kiesow, Die Hanse, München 2000 oder Philippe Dollinger, Die Hanse, Stuttgart 1998.
3 Wolfgang von Stromer, Der innovatorische Rückstand der hansischen Wirtschaft, in: Knut Schulz (Hrsg.), Beiträge zu Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Herbert Helbig zum 65. Geburtstag, Köln 1976, S. 204-217 und Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl. München 1916-1927, S. 300-306.
4 Gunnar Mickwitz, Aus Revaler Handlungsbüchern. Zur Technik des Ostseehandels in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Societas Scientiarum Fennica. Commentationes Humanarum Litterarum IX, 5), Helsingfors 1938.
5 Rolf Sprandel, Die Konkurrenzfähigkeit der Hanse im Spätmittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 102 (1984), S. 21-38.


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