Umkämpfte Erinnerungsräume und nationale Selbstvergewisserung: Geschichtspolitik und Geschichtsschreibung im Spannungsfeld lokaler und transnationaler Perspektiven

Umkämpfte Erinnerungsräume und nationale Selbstvergewisserung: Geschichtspolitik und Geschichtsschreibung im Spannungsfeld lokaler und transnationaler Perspektiven

Organisatoren
Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.12.2009 - 04.12.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Franka Bindernagel, Lateinamerika-Institut, FU Berlin

Am Lateinamerika-Institut (LAI) der Freien Universität Berlin hat sich in den vergangenen Jahren der Arbeitsschwerpunkt „Memoria“ (Erinnerung) herausgebildet. Dort werden Konflikte um Erinnerung und Geschichte in Lateinamerika analysiert, die bis in die Gegenwart hineinwirken. Mehrere Doktorand/innen untersuchen Erinnerungskonflikte und Geschichtspolitiken in Guatemala, Chile, Argentinien und in Hinsicht auf verflochtene Diskurse auch in Spanien. Der Workshop sollte dazu dienen, die bisher gewonnenen Erkenntnisse mit Wissenschaftler/innen zu diskutieren, die sich mit anderen Weltregionen und Konfliktlagen auseinandersetzen. Dazu luden die Veranstalter/innen vom Lateinamerika-Institut, Stefan Rinke, Inga Luther und Ralph Buchenhorst, Historiker/innen und Kulturwissenschaftler/innen ein, die zu den Regionen Osteuropa/ Südosteuropa, Ostasien, Nordafrika und Nordamerika arbeiten. Durch den Workshop sollten Möglichkeiten des Vergleichs und der Vertiefung diskutiert werden, die sich im Rahmen der Aktivitäten des „Center for Area Studies“ (CAS) an der FU ergeben haben. Ralph Buchenhorst koordinierte dazu bereits Forschungsprojekte des „Netzwerk Area Histories“, die 2009 an verschiedenen Regionalinstituten entwickelt wurden.

Thematisch war der Workshop in drei Panels gegliedert, in denen sich die Teilnehmer/innen sowohl mit der transnationalen Dimension von Erinnerungskulturen, als auch mit nationalen Konstruktionen, ihren Legitimationsfunktionen und den damit verbundenen Widersprüchen und Konfliktdynamiken beschäftigten. Es ging um Verflechtungen, Übertragungsprozesse, aber auch die institutionellen und kulturellen Grenzen globaler Erinnerung, vermittelt durch Medien und andere Formen globaler Kommunikation. Im Workshop wurden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der wissenschaftlichen Herangehensweisen diskutiert und für eine kritische Reflektion der eigenen Perspektiven nutzbar gemacht.

Zum Auftakt referierten WOLFGANG HÖPKEN und STEFAN RINKE. Der Osteuropa-Historiker Höpken (Leipzig) sprach über Möglichkeiten und Chancen einer europäischen Erinnerung und unterzog die bisherigen Entwicklungen einer kritischen Analyse. Er kam zu dem Schluss, dass europäische Erinnerung zwar Konjunktur hat, aber vor allem zur Legitimationsbeschaffung für die Europäische Union inszeniert wird. Sehr umstritten sind die während der medialen, wissenschaftlichen und politischen Konjunktur des Themas gesetzten Eckpfeiler des europäischen Gedächtnisses. Dazu gehören Gewalt und Krieg im 20. Jahrhundert, die jedoch als Eckpfeiler nicht integrativ wirken. Höpken kritisierte den inhärenten Eurozentrismus europäischer Geschichtsschreibung und befürwortete eine stärkere Pluralisierung von Erinnerungsdebatten und Geschichtsbildern.

Stefan Rinke (LAI) stellte aktuelle historische Diskurse und Forschungstendenzen in Lateinamerika vor. Zum Anlass nahm er dafür die zurzeit laufenden Feiern zum 200. Jubiläum der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Länder. Rinke machte darauf aufmerksam, dass die Zerschlagung der Utopien in den 1960er-Jahren auch eine Zerstörung der bis dahin geltenden Geschichtserzählungen zur Folge hatte. Heute seien eine Differenzierung der kollektiven Gedächtnisse und starke Bewegungen, die sich gegen das Vergessen von Diktaturen, Gewalt und Unterdrückung engagierten, zu beobachten. Daher würden alternative Erzählungen die seit der Unabhängigkeit hergestellten nationalen Narrative herausfordern. Lateinamerikanische Wissenschaftler/innen beobachteten außerdem die europäischen Entwicklungen und dächten darüber nach, europäische Schulbücher zum Vorbild zu nehmen und ein gemeinsames Geschichtsbuch für Lateinamerika zu schreiben.

Panel 1 des folgenden Tages stand unter dem Thema „Geschichtspolitik und Erinnerung in transnationaler Perspektive“. BERTHOLD MOLDEN (Wien) beschäftigte sich mit Geschichtspolitik und setzte sich kritisch mit den bisherigen theoretischen Ansätzen, ihrer mangelnden Reichweite und dem häufig zu beobachtenden Eurozentrismus auseinander. Er plädierte dafür, hegemonietheoretische Ansätze stärker zu berücksichtigen. Seine Forschungen haben gezeigt, dass Parallelstrukturen bestehen, weil öffentlich verhandelte und kommunikative Gedächtnisse nicht kongruent sind. Diese verschiedenen Ebenen und ihre Wechselverhältnisse sollten stärker untersucht werden.

NINA ELSEMANN und NIKOLAUS BÖTTCHER (beide Berlin) stellten ihre aktuellen Forschungsprojekte vor, in denen sie sich mit transnationalen Diskursen und Transferprozessen beschäftigen. Elsemann sprach über den „'Fall Pinochet' und die Debatte über die 'desaparecidos' des Spanischen Bürgerkriegs“. Spanische Akteure verwenden seit einigen Jahren den Begriff „desaparecidos“ (Verschwundene), den sie aus der argentinischen Debatte um die Verschwundenen der letzten Militärdiktatur entlehnt haben. Damit forcierten und politisierten sie den spanischen Diskurs über den Bürgerkrieg. Elsemann konnte mit ihrem Fallbeispiel zeigen, wie Praktiken des Erinnerns nationale Grenzen überschreiten und Teil von global zirkulierendem Wissen werden. Böttcher stellte Erinnerungsdiskurse der Guerilla in Kuba und Nicaragua vor, die sich auf Gewalterfahrungen und Revolution im 20. Jahrhundert beziehen. Beide, Elsemann und Böttcher, arbeiteten die jeweiligen lokalen, nationalen und globalen Erinnerungsdiskurse heraus, die miteinander verflochten sind. ALINA BOTHE (Berlin) wandte sich stärker der medialen Dimension von transnationaler Erinnerung zu und referierte über „Holocaust-Erinnerung und Digital-History“. Die Teilnehmer/innen des Workshops interessierten sich besonders für Bothes Darstellung über die Verlagerung des Holocaust-Gedenkens in Web 2.0-Räume wie den jüdischen Raum der Plattform „Second Life“. So sei erkennbar, dass bekannte Rituale des Gedenkens ins Netz übersetzt und dort praktiziert werden.

„Widersprüche und Konfliktdynamiken in nationalstaatlichen Konstruktionsprozessen“ wurden im Panel 2 diskutiert. Dafür hatten die Referent/innen DANA JIROUŠ (Leipzig), INGA LUTHER und ANDREA RIEDEMANN (Berlin) eine gemeinsame Einleitung vorbereitet, wodurch sie ihre einzelnen Beiträge in einen Zusammenhang stellten und so ihre gemeinsamen weiterführenden Fragen darlegten. Alle drei setzten sich mit Nationenkonzepten und -konstruktionen sowie deren Instrumentalisierungen auseinander. Sie fragten nach den Machtkonstellationen, die die Entwicklung dieser Konzepte beeinflussten, und dem gesellschaftlichen Umgang mit den Konzepten. So fragten sie danach, wie gesellschaftliche Akteure mit den ihnen in nationalen Erzählungen zugewiesenen Rollen umgingen, welche Interaktionen stattfanden, ob es Widerstand gegen oder Anpassung an die meist elitären Projekte der Nationalgeschichtsschreibung gab. Die Sozialwissenschaftlerinnen wiesen außerdem auf ethnische Zugehörigkeit und Rassevorstellungen hin, die in Vergangenheit und Gegenwart die Nationenkonstruktionen und Geschichtspolitiken beeinflussten.

Andrea Riedemann stellte ihr Forschungsprojekt „Mapuche-Geschichtsschreibung im Spannungsfeld der Vermittlung der chilenischen Nationalgeschichte“ vor. Sie muss sich vor allem mit dem Nicht-Gesagten auseinandersetzen, denn die Geschichte der Mapuche wird in Chile nicht erzählt und erlebt erst in den letzten Jahren einen zaghaften Aufschwung. Die Republik Chile und nicht zuletzt der Diktator Pinochet haben die Mapuche an den Rand der Gesellschaft gedrängt, was sich auch in der Nationalgeschichtsschreibung niederschlug. Inga Luther sprach anschließend über „Nationenkonstruktion in Guatemala: Meistererzählung und Konflikte um Zugehörigkeit“. Ihr gehe es darum, indigene Akteure und deren Protagonismus innerhalb der Nationenbildungsprozesse sichtbar zu machen. Sie zeigte an ihrem Fallbeispiel, dass sich „alternative Deutungen“ der nationalen Meistererzählung in einem Spannungsverhältnis zwischen Anpassung an dominante Geschichtsdiskurse und Behauptung bzw. Widerstand bewegen. Als letzte Referentin des Panels sprach Dana Jirouš über „Erinnerung und Geschichtsdiskurse im nordossetisch-inguschetischen Konflikt“ und ermöglichte so einen Vergleich zwischen Entwicklungen in Lateinamerika und im Kaukasus. In den postsowjetischen Regionen stünden Erinnerungsdiskurse vor allem im Bezug zu ethnischen Zugehörigkeiten und Abgrenzungen. In der anschließenden Diskussion wies Inga Luther darauf hin, dass in Lateinamerika die Legitimierung durch Geschichte und die Nationenkonstruktionen vielfach in Frage gestellt, solche kritischen Diskurse in Europa hingegen wenig geführt werden.

„Transnationale Übertragungsprozesse zwischen Erinnerungsdiskursen“ wurden im letzten Panel des Workshops diskutiert. Dafür stellten EUN-JEUNG LEE und VERENA BLECHINGER-TALCOTT (Berlin) Beispiele aus Ostasien vor, die in nächster Zeit genauer untersucht werden sollen. In beiden Vorträgen wurden die Rolle und Macht der Massenmedien in den Erinnerungsdiskursen problematisiert. Lee beschäftigte sich mit dem Aufstand von Kwangju/ Südkorea, der 1980 während der Diktatur stattfand. Student/innen und die Bevölkerung der Stadt lieferten sich Straßenschlachten mit dem Militär. Die Zahl der Toten ist bis heute unklar. Anfangs wurde dieses Ereignis verschwiegen, seit 1987 kämpfen zwei politische Lager, zu denen sich auch die Massenmedien zuordnen, um die Deutungshoheit. Beide Lager, so Lee, übernähmen Debatten und Elemente von außen, um ihre Interpretation der Geschichte zu stützen. Im folgenden Beitrag stellte Blechinger-Talcott die „Japanese Red Army“ (JRA) vor, die Parallelen zur deutschen RAF aufweise. Von 1969 bis 2001 war sie aktiv und verübte mehrere Anschläge. Nach der offiziellen Auflösung 2001 blieb eine Splittergruppe im Untergrund, weshalb die Geschichte der Gruppe nicht als abgeschlossen zu betrachten ist. Ein Erinnerungsboom wurde ausgelöst, als die Führerin der JRA 2000 verhaftet wurde. Beeinflusst werde er durch deutsche Erinnerungsdiskurse, denn Künstler, Journalisten und Intellektuelle rezipierten traditionell die deutschen Debatten.

Im gleichen Panel sprach JAKOB KRAIS (Berlin) über „Geteilte Erinnerungen – die italienische Kolonialherrschaft in Libyen“ und berührte damit die in Europa nur punktuell geführte Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit. Während in Libyen die Erinnerung an die Kolonialzeit eine große Rolle spielt, findet in Italien keine öffentliche Auseinandersetzung statt. Nur in Fachkreisen wird eine Verständigung gesucht, weshalb es seit 2000 gemeinsame wissenschaftliche Kongresse gegeben hat und bilinguale Publikationen erstellt wurden.

Während der nachfolgenden Abschlussdiskussion wurde noch einmal die Rolle von Massenmedien bei der Konstruktion von Geschichtsbildern diskutiert. So wurde festgestellt, dass Medien zwar die Differenzierung und den Zugang zu Informationen fördern. Gleichzeitig stellt die mediale Öffentlichkeit aber einen hegemonial strukturierten Raum dar, dessen Bedingungen beachtet werden müssen. Es wurde während des Workshops außerdem deutlich, dass der Begriff „transnationale Geschichte“ weiterhin unterschiedlich definiert wird und dass es wichtig bleibt, die beobachteten Phänomene immer wieder an die individuellen Kontexte rückzubinden und nach konkreten Übertragungsprozessen zu fragen.

Konferenzübersicht:

Wolfgang Höpken, Zentrum für Ost- und Südosteuropäische Geschichte, Univ. Leipzig: „Europäische Erinnerung“ - Identitätsmotor oder „Kopfgeburt“

Stefan Rinke, LAI: Umkämpfte Erinnerungsräume in Lateinamerika. Neue historische Forschungstendenzen.

Moderation: Ralph Buchenhorst, LAI

Panel 1: Geschichtspolitik und Erinnerung in transnationaler Perspektive

Berthold Molden, Ludwig Boltzmann Institute for European History and Public Spheres, Wien: Geschichtspolitik in transnationaler Perspektive
Alina Bothe, Osteuropa-Institut, FU Berlin: Holocaust-Erinnerung und Digital History
Nina Elsemann, LAI: Der 'Fall Pinochet' und die Debatte über die 'desaparecidos' des Spanischen Bürgerkriegs: ein Beispiel transnationaler Transferprozesse
Nikolaus Böttcher, LAI: Gewalt und Revolution – Erinnerungsdiskurse in Kuba und Nicaragua
Kommentar: Gertrud Pickhan, Osteuropa-Institut, FU Berlin

Panel 2: Widersprüche und Konfliktdynamiken in nationalstaatlichen Konstruktionsprozessen

Andrea Riedemann, LAI: Mapuche-Geschichtsschreibung im Spannungsfeld der Vermittlung der chilenischen Nationalgeschichte
Inga Luther, LAI: Nationenkonstruktion in Guatemala: Meistererzählung und Konflikte um Zugehörigkeit
Dana Jirouš, Univ. Leipzig: Erinnerung und Geschichtsdiskurse im nordossetisch-inguschetischen Konflikten
Kommentar: Michaela Hampf, J.F.Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, FU Berlin

Panel 3: Transnationale Übertragungsprozesse zwischen Erinnerungsdiskursen

Eun-Jeung Lee, Institut für Korea-Studien, FU Berlin: „Kampf um die Vergangenheit“: Der Volksaufstand in Kwangju 1980 als Gegenstand von Erinnerungsdiskursen in Südkorea
Verena Blechinger-Talcott, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Japanologie, FU Berlin: Verdrängte Erinnerung: Die Aufarbeitung des Terrorismus der Japanischen Roten Armee
Jakob Krais, Institut für Islamwissenschaft, FU Berlin: Geteilte Erinnerungen. Die italienische Kolonialherrschaft in Libyen
Kommentar: Ralph Buchenhorst

Abschlussdiskussion
Moderation: Ralph Buchenhorst und Inga Luther


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