Der Deismus in Europa

Der Deismus in Europa

Organisatoren
Winfried Schröder, Philipps Universität Marburg; Lothar Kreimendahl, Universität Mannheim
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.06.2010 - 16.06.2010
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Von
Winfried Schröder, Institut für Philosophie, Philipps Universität Marburg

Der Deismus gehört zu den philosophie- und theologiegeschichtlichen Strömungen der Neuzeit, die in besonderem Maße zu der Überwindung der vormodernen Welt in der Zeitspanne zwischen dem späten 16. und dem 18. Jahrhundert beigetragen haben. Seine Leitideen – die Suffizienz einer um moralische Vorschriften zentrierten ‚natürlichen’ Religion, die aus bloßer Vernunft zugänglich ist, die Überflüssigkeit einer übernatürlichen Offenbarung und die daraus abgeleitete Forderung nach Toleranz und Denkfreiheit – weisen ihn geradezu als „die Religionsphilosophie der Aufklärung“ (Ernst Troeltsch) aus.

Obwohl die maßgebliche Rolle, die der Deismus im Modernisierungsprozess der frühneuzeitlichen Philosophie – und der europäischen Kultur im weiteren Sinne – gespielt hat, seit langem bekannt ist, fehlt es an einem umfassenden und differenzierten Gesamtbild. Als Standardwerk muss nach wie vor Gotthard Victor Lechlers Geschichte des englischen Deismus aus dem Jahre 1841 herangezogen werden.1 In den letzten Jahrzehnten sind jedoch wichtige Forschungserträge erzielt worden, die eine Synthese als überfällig erscheinen lassen. Zudem hat die Deismus-Forschung in jüngerer Zeit etliche Desiderate festgestellt, deren Behebung teilweise bereits in Angriff genommen worden ist. Es schien also an der Zeit, Spezialisten des In- und Auslandes in einem Arbeitsgespräch zusammenzuführen, für das die Bibliotheca Augusta – man denke nur an die Wolfenbütteler Fragmente des Hermann Samuel Reimarus, eines Deisten von europäischem Rang – den angemessenen Rahmen bot. Der 80. Geburtstag Günter Gawlicks, der seit den 1960er-Jahren der internationalen Deismus-Forschung wesentliche Anstöße gegeben hat, koinzidierte glücklich mit der Terminierung des Kolloquiums auf den 14.-16. Juni 2010.

Dass beim Versuch einer philosophiehistorischen Situierung des Deismus besonders seinen antiken Quellen Aufmerksamkeit geschenkt werden muss, machte GÜNTER GAWLICK (Bochum) in seinem Auftaktvortrag Eine antike Säule im Gebäude des Deismus deutlich. Wenige Texte des Altertums wurden von den Deisten seit Edward Herbert of Cherbury so intensiv studiert wie Ciceros De natura deorum und De divinatione. Nicht nur für John Toland und Anthony Collins war Cicero der intellektuelle Leitstern. Und doch zeigt Cicero in seiner Rezeption im 17. und 18. Jahrhundert irritierend viele Gesichter, denn auch von der Gegenseite, von manchen Apologeten des Christentums, wurde er als Verteidiger basaler religiöser Lehrbestände reklamiert. Ergänzend wies WINFRIED SCHRÖDER (Marburg) auf das Erbe der spätantiken Christentumskritiker Kelsos, Porphyrios und Julian Apostata hin, das von den Deisten vor allem im Rahmen der Begründung von Religions- und Denkfreiheit produktiv genutzt wurde.

In der britischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts war schon die Stifterfigur des Deismus, Edward Herbert of Cherbury, umstritten. JULIA GRIFFIN (Georgia Southern University) zog seinen unpublizierten Nachlass heran, um die Entwicklungsgeschichte seiner Religionsphilosophie, die sich erst allmählich radikalisierte, zu beleuchten. Die deistische Zentralidee einer natürlichen Religion, die die Anerkennung einer übernatürlichen göttlichen Offenbarung nicht grundsätzlich ausschließt, wurde in den folgenden Generationen vielfach in einen scharfen Gegensatz zum biblischen Christentum gerückt. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten die religionskritischen Thesen und Argumente eines Charles Blount oder John Toland eine solche Verbreitung erfahren, dass George Berkeley sich aufgerufen sah, ihnen mit seinem Bestseller Alciphron entgegenzutreten (dazu WOLFGANG BREIDERT, Karlsruhe). Aus Berkeleys Sicht waren Deisten „minute philosophers“: Philosophen, denen wesentliche Einsichten, vor allem die unverzichtbaren Lehrgehalte der Religion, fehlten. Offenbar gelang es Berkeley jedoch nicht, der Attraktivität der deistischen Neubestimmung der Religion entgegenzuwirken. Sogar in nichtakademischen Milieus schlug, wie M. A. STEWART (Aberdeen) in seinem Vortrag Hume and his Scottish context anhand kaum bekannter Quellen belegte, das Konzept einer natürlichen Religion, die keine suprarationale Dogmen kennt und in ihrem Kern ein Katalog moralischer Normen ist, Wurzeln. In den professionellen philosophischen Debatten jedoch erwies sich die Annahme einer natural religion, die aus der Sicht aller Deisten einem jeden zugänglich ist, als Achillesferse des Deismus: Wie lassen sich ‚aus bloßer Vernunft’ gerechtfertigte Aussagen über Gott treffen? Es war vor allem David Hume, der in seinen Dialogues concerning natural religion nachwies, dass wir der göttlichen Erstursache mitnichten vollkommene personale und moralische Eigenschaften zuschreiben können (dazu GIANNI PAGANINI, Vercelli: Deism and atheism in Hume and Bayle: a ‘question of words’?) Der Aussage, es gebe eine (wie auch immer beschaffene) Erstursache der Welt, könnten alle, selbst Atheisten, zustimmen. Dieser Begriff aber sei, wie Hume im Rückgriff auf Argumente Pierre Bayles zeigte, religiös steril. Somit fiel der christentumskritische Deismus seinerseits einer Metaphysikkritik zum Opfer, die der Annahme einer ‚natürlichen Religion’ die Grundlage entzog.

Auch die kontinentale Philosophie stand dem Deismus überwiegend feindselig gegenüber. An Leibniz’ Annotatiunculae zu Tolands Christianity not mysterious ist jedoch zu studieren, welchem Erklärungsdruck sich Philosophen ausgesetzt sahen, denen es um die Harmonie von Vernunft und Glauben ging (dazu MARIA ROSA ANTOGNAZZA, London). Tolands Devise, die Zustimmung zu religiösen Doktrinen müsse rational gerechtfertigt sein, konnte er sich nicht verschließen, musste zugleich aber darauf insistieren, dass deren Inhalte (zum Beispiel das Trinitätsdogma) einer Begründung nicht zugänglich und auch nicht bedürftig seien. Anregungen angelsächsischer Deisten und die eigene Theorietradition der theologia naturalis verschmolzen bei einigen Vertretern des deutschen Wolffianismus. Johann Christoph Gottsched, so MARIE-HÉLÈNE QUÉVAL (Le Mans), sei in diesem Zusammenhang ein besonders interessanter Fall, da er es nicht bei der akademischen Präsentation der ‚natürlichen Religion’, etwa in seinen Ersten Gründe der gesamten Weltweisheit, belassen habe, sondern auch in einigen auf breitere Wirkung angelegten Schriften erstaunlich freimütige Kritik an der biblischen Offenbarung und ihren kirchlichen Verwaltern äußerte. Gewöhnlich werden dem Deismus vor allem Autoren des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zugerechnet. Tatsächlich jedoch strahlte er bis weit in die Spätaufklärung aus. MARTIN MULSOW (Erfurt) wandte sich einem höchst produktiven und seinerzeit berühmten, ja berüchtigten, heute jedoch fast vergessenen Autor, Christian Ludwig Paalzow, zu. Zunächst von Voltaire angeregt, wurde er auf seinem windungsreichen intellektuellen Lebensweg zu einem der wichtigsten Multiplikatoren des Atheismus d’Holbachs und hat schließlich die Skizze eines „ästhetischen Christentums“ vorgelegt. Ebenfalls in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat der deutschstämmige, in dänischen Diensten stehende General Woldemar Hermann von Schmettau (JENS GLEBE-MØLLER, Kopenhagen, holte ihn aus der Vergessenheit) auf der Grundlage eines moralischen Gottesbegriffs den christlichen Lehrbestand kritisch durchmustert und insbesondere die Erbsündenlehre verworfen.

Im Laufe des 18. Jahrhunderts zeigten sich aber auch die Grenzen des kritischen Potentials des Deismus. Die rationalistische Läuterung des Gottesbegriffs und die weitgehende Reduktion der Religion auf Moral lehnten Holbach und andere Radikalaufklärer als eine halbherzige Antwort auf die Zumutungen der Religion ab. Umgekehrt distanzierten sich Deisten wie Voltaire vehement von der atheistischen Religionskritik; viele gemäßigte Aufklärer, unter ihnen Reimarus, engagierten sich in „the Deists’ war against the radical Enlightenment“. Im Vergleich mit der atheistischen Radikalaufklärung werde deutlich, wie stark der Deismus einer vormodernen Weltsicht verhaftet war. Tatsächlich waren die meisten seiner Vertreter, wie JONATHAN ISRAEL (Princeton) ausführte, von der Vorstellung einer durch die göttliche Vorsehung gestifteten und legitimierten Ordnung der natürlichen wie der sozialen Welt geleitet.

Theorieelemente und Argumente deistischer Provenienz wirkten jedoch auch bei Autoren weiter, die dieser Strömung nicht angehörten. Exemplarisch sind in dieser Hinsicht die späten religionsphilosophischen Schriften Kants, in denen er die Idee einer „Religion, die überhaupt auf Vernunft gegründet und so fern natürlich sein muß“, mit den positiven „Glaubenslehren“ des Christentums konfrontiert. Ganz anders, so LOTHAR KREIMENDAHL (Mannheim), der vorkritische Kant: Seine Schriften aus den 1750er- und 1760er-Jahren, die Allgemeine Naturgeschichte, die Metaphysik Herder, sowie einige Reflexionen aus dieser Zeitspanne enthalten deutliche Hinweise darauf, dass Kants wiederholte Bekenntnisse zu einem pietistisch geprägten theistischen Weltbild aus seiner subjektiven Sicht ernst gemeint waren und nicht als bloße Schutzbehauptung abgetan werden dürfen. Lessing – auch er kein Deist – hat nicht nur das Verdienst, mit seiner Ausgabe der Wolfenbütteler Fragmente das wohl anspruchsvollste Werk deistischer Bibelkritik, die Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes von Hermann Samuel Reimarus, der öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht zu haben. In Auseinandersetzung mit Reimarus, der die biblische Offenbarung an dem „Prüfe-Stein“ der natürlichen Religion gemessen und verworfen hatte, plädierte er, wie MARTIN BOLLACHER (Bochum) nachzeichnete, in seiner unmittelbaren Antwort auf die Fragmente, den Gegensätzen des Herausgebers und in der Erziehung des Menschengeschlechts für eine Historisierung des Wahrheitsanspruchs der Religion. Ob die dogmatischen Inhalte der Religion damit, wie Lessing meinte, gegen rationale Kritik immunisiert werden können, ist indessen eine offene Frage, über die nach wie vor systematisch nachzudenken lohnt. Sie stellen, heißt, an die kritischen Fragen anschließen, die der Deismus an die Adresse der christlichen Theologie gerichtet hat.

Konferenzübersicht:

Winfried Schröder (Marburg): Begrüßung und Einführung

Antike Wurzeln des Deismus

Günter Gawlick (Witten): Eine antike Säule im Gebäude des Deismus

Winfried Schröder (Marburg): Paganorum vestigia: das Erbe von Kelsos, Porphyrios und Julian Apostata im Deismus

Der Deismus in der britischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts

Julia Griffin (Georgia Southern University): Lord Herbert of Cherbury

Gianni Paganini (Vercelli): Deism and atheism in Hume and Bayle: a "question of words"?

Wolfgang Breidert (Karlsruhe): George Berkeley

M.A. Stewart (Aberdeen): Hume and his Scottish context

Der Deismus auf dem Kontinent I

Maria Rosa Antognazza (London): Leibniz and Toland

Justin Champion (London): Deism and the European clandestine literature

Jens Glebe-Møller (Kopenhagen): Deismus in Dänemark

Jonathan Israel (Princeton): Voltaire, Rousseau and the Deists' war against the radical Enlightenment, or could real Deists be radical?

Martin Mulsow (Erfurt): Deismus in der deutschen Aufklärung

Marie-Hélène Quéval (Le Mans): Gottscheds Deismus

Der Deismus auf dem Kontinent II: Deutschland

Lothar Kreimendahl (Mannheim): Pietistisches Erbe und deistische Einsichten beim jungen Kant

Martin Bollacher (Bochum): Lessing und der Deismus

Abschlussdiskussion

Anmerkung:
1 Gotthard Victor Lechler, Geschichte des englischen Deismus (1841), mit einem Vorwort hrsg. v. Günter Gawlick, Hildesheim 1965.


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