Kontakt und Abgrenzung - Zur Konstruktion geographischer und sozialer Räume (1. Arbeitstreffen des FOSE)

Kontakt und Abgrenzung - Zur Konstruktion geographischer und sozialer Räume (1. Arbeitstreffen des FOSE)

Organisatoren
Forum Ostmittel- und Südosteuropa (FOSE)
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
08.11.2003 -
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Von
Stefan Rohdewald, Passau

Mit dem Thema „Kontakt und Abgrenzung - Zur Konstruktion geographischer und sozialer Räume“ fand am 8.11.2003 in der Schweizerischen Osteuropa-Bibliothek (SOB) in Bern das 1. Arbeitstreffen des Forums Ostmittel- und Südosteuropa (FOSE) statt. Die Organisatoren des Treffens Ekaterina Emeliantseva, Daniel Jetel, Daniel Ursprung und Stefan Wiederkehr luden zu einem thematischen Vormittag und einem organisatorischen Nachmittag ein, Gastgeber war Christophe von Werdt (SOB).

In der Auseinandersetzung mit der Dichotomie von Kontakt und Abgrenzung sollte die Überlagerung verschiedenartiger Raumkonstrukte, durch geographische, politische, soziale, kulturelle, psychologische und andere Grenzen definiert, nicht nur aus makrohistorischer, sondern insbesondere auch aus mikrohistorischer Perspektive betrachtet werden. Der Diskussion zweier theoretischer Texte folgten bis zum Mittag vier thematische Referate.

Jörn Rüsens These, dass „der Krieg aller gegen alle ... in der fundamentalen ethnozentrischen Sinnbildungsoperation der Identitätsbildung logisch angelegt”1 sei und sein Vorschlag, über die Einsicht in die Universalität von Wahrheitsansprüchen zur Fähigkeit zu gelangen, andere Kulturen anzuerkennen und über Kulturgrenzen hinaus zu kommunizieren, stießen in der Diskussion auf Kritik aus zwei Richtungen. Zum einen wurde bezweifelt, dass von der diskursiven Ausgrenzung im Prozess der Identitätsbildung eine direkte Linie zur physischen Vernichtung des anderen führt. Zum anderen scheint die Alternative, die Rüsen anbietet, trotz gegenteiliger Absichten einen Huntington’schen Kulturbegriff zu zementieren.

Der theoretische Ansatz von Marie Louise Pratt und ihr Begriff der Kontaktzonen beschreibt die räumliche und zeitliche Kopräsenz von Menschen, deren Zielsetzungen sich überschneiden. Die Diskussion zeigte, dass diese Perspektive auch für die Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas fruchtbar gemacht werden kann. Denn der Begriff von den Kontaktzonen rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wie Menschen ihre Beziehungen gestalten, und zwar nicht unter einer Perspektive von Segregation, sondern im Sinn von Kopräsenz, Interaktion, sich überschneidenden Auffassungen und Praktiken, oftmals mit stark asymmetrischen Zugängen zu Macht. Diese Herangehensweise könnte ein ganz anderes Bild des Zusammenlebens verschiedener Kulturen im osteuropäischen Raum zeichnen, als es die von den Meisternarrativen geprägte Geschichtsschreibung bisher getan hat.

Den Fragen im Problembereich der Ambivalenzen von Kontakt und Abgrenzung versuchte Ekaterina Emeliantseva sich am Beispiel der Beziehungen zwischen Polen und Frankisten, getauften Juden, im Warschau des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu nähern. Dabei prüfte sie, inwieweit die theoretischen Überlegungen von Marie Louise Pratt zu kultureller Differenz und kulturellem Kontakt auf die Geschichte der Juden in der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik anwendbar sind. Mit Pratts Begriff der „Kontaktzone“, der einen hybriden Raum beschreibt, in dem Akteure kulturelle Praktiken hervorbringen, die weder zur einen noch zur anderen Seite ausschließlich gehören, kritisierte Frau Emeliantseva die Begriffe der Assimilation und Akkulturation, die die Geschichtsschreibung über das polnische Judentum prägen. Am Beispiel der mystisch-messianischen Bewegung Jakob Franks (1721-1791) zeigte sie, dass dieses Phänomen außerhalb der gewohnten Kategorien von Assimilation und Separation betrachtet werden muss. Denn kennzeichnend für die Warschauer Frankisten waren hybride Lebensräume zwischen traditionellen religiösen und ständischen Grenzen. Anhand der Debatten um die Zugehörigkeit der Frankisten zur Warschauer Bürgerschaft, die in Warschau zwischen 1789 und 1792 stattfanden, erläuterte sie den subversiven Charakter „frankistischer Lebensräume“, die durch ihre Hybridität die traditionellen Vorstellungen der Zeitgenossen herausforderten.

Unter dem Titel „Stadtzentrum und soziale Räume in einer multiethnischen Kleinstadt an der Wende zum 20. Jahrhundert: Das Beispiel Polock“ analysierte Stefan Rohdewald Passagen aus Selbstzeugnissen und unterschied ausgehend von Bourdieus Ansätzen relationale Räume sozialer, insbesondere ethnokonfessioneller Gruppen. Im Zentrum der nach 1850 zu mehr als 50% von Juden bewohnten, heute in Belarus’ liegenden Stadt überlagerten und begrenzten sich ethnokonfessionell konnotierte sozialtopographisch-wissenschaftliche Raumkonzeptionen, Spielräume jüdischer und christlicher Kinder, sakrale Räume, inszeniert in konfessionellen Prozessionen sowie nationale Räume, die sich temporär an Paraden entfalteten. 1905 stellten revolutionäre, aber auch ethnokonfessionelle Grenzen überschreitende „patriotische" Demonstrationen neue Raumformationen her. Die diversen Räume waren zugleich Medien der Ausgrenzung wie der Integration. Im situativen Ringen der Gruppen um den Stadtraum oder um die Teilhabe an ihm und in der wechselseitigen Wahrnehmung waren sie aufeinander bezogen. Mit der jahrzehntelang angestrebten Überführung der Gebeine der Euphrosyne, einer als heilig verehrten Polocker Fürstentochter des 12. Jahrhunderts, inszenierte die orthodoxe Minderheit 1910 kompensatorisch mit größter Feierlichkeit ihren im Alltag kaum präsenten Raumanspruch auf das überwiegend von Juden bewohnte Stadtzentrum.

Der Kontakt über Sprachgrenzen hinweg stand im Zentrum des Referates von Daniel Jetel über den „Kinder-Wechsel“ oder das „Böhmisch-Lernen“ im Grenzgebiet zwischen Niederösterreich, Mähren und der Slowakei. Bei diesem Phänomen, das etwa von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Untergang der Donaumonarchie praktiziert wurde, handelte es sich um einen auf privater Basis organisierten temporären Austausch von Kindern aus Familien unterschiedlicher Sprache, und damit im beschriebenen Gebiet zwischen deutschsprachigen Kindern auf der einen, Tschechisch oder Slowakisch sprechenden auf der anderen Seite. Der Tausch sollte in erster Linie dem Lernen der anderen Sprache dienen, ließ aber nebenbei enge persönliche Bindungen zwischen den Tauschfamilien entstehen. Er half somit sowohl nationale, als auch soziale Barrieren zu überwinden. Erwähnenswert ist insbesondere, dass nicht nur auf tschechischer und slowakischer Seite das Bedürfnis bestand, die deutsche (Staats-)Sprache zu erlernen, sondern auch deutschsprachige Familien aus ökonomischen Überlegungen interessiert waren, dass sich ihre Kinder im Rahmen des „Wechsels“ oder eben „Böhmisch-Lernens“ Kenntnisse des Tschechischen bzw. Slowakischen aneigneten.

In seinem Vortrag „Föderalismus als Lösung der Nationalitätenfrage im Habsburgerreich? Aurel Popovicis ‹Vereinigte Staaten von Gross-Österreich›“ analysierte Stefan Wiederkehr den ethnonationalistischen Diskurs in Popovicis Programmschrift von 1906. Dieser Publizist rumänischer Abstammung hatte seinerzeit einen detaillierten Plan vorgelegt, wie die Habsburgermonarchie in einen Bundesstaat mit weitgehenden Autonomierechten gleichberechtigter Länder umzuwandeln sei. Aufsehen hatte vor allem seine Forderung erregt, die historischen Binnengrenzen radikal aufzuheben und fünfzehn möglichst homogene Gliedstaaten gemäß ethnischen Kriterien zu bilden. Der Referent machte deutlich, dass sich in den „Vereinigten Staaten von Gross-Österreich“ zwei kulturelle Praktiken bestätigen, wie Jörn Rüsen sie beschrieben hat, nämlich erstens der Mechanismus der Identitätsbildung durch Abgrenzung und werthafte Aufladung von Differenz sowie zweitens die Naturalisierung der Grenze zwischen In-group und Out-group.

Der hier angezeigte thematische Teil des Arbeitstreffens bestach, abgesehen von den spannenden Vorträgen, durch den gegenseitigen Bezug der Referate, der sich im Kontext der vorgängigen Kritik an den theoretischen Texten weiter dynamisierte. Insbesondere die Aktualität von Popovicis Text für das ganze 20. Jahrhundert gab Anlass zu zahlreichen engagierten Wortmeldungen, so dass die Diskussion bis in den Nachmittag ausgedehnt wurde.

Anmerkungen:
1 Rüsen, Jörg: Die Vielfalt der Kulturen. Frankfurt a. M. 1998, S. 15


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