Jüdisches Leben auf dem Lande vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert

Jüdisches Leben auf dem Lande vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert

Organisatoren
Sonderforschungsbereich (SFB) 600 „Fremdheit und Armut“, Teilprojekt A 7 „Juden auf dem Lande zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit (15.-17. Jahrhundert): Inklusion und Exklusion durch Herrschaften und Gemeinden in ausgewählten Territorien Frankens“ (Sigrid Schmitt), Universität Trier; Arbeitskreis für Agrargeschichte (AKA)
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.07.2010 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Claudia Steffes-Maus, Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden, Universität Trier

Nach der Begrüßung durch den Vorsitzenden des Arbeitskreises für Agrargeschichte (AKA), STEFAN BRAKENSIEK (Essen), dankte SIGRID SCHMITT (Trier) dem Arbeitskreis für die Aufnahme des bislang nur unzureichend untersuchten Themas in den Rahmen seiner alljährlich stattfindenden Sommertagung. In ihrer Einführung formulierte sie als Ziel der folgenden vier Beiträge, einen chronologischen und thematischen Überblick über jüdisches Leben auf dem Lande vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert geben zu wollen. Schmitt stellte das von ihr geleitete Teilprojekt „Juden auf dem Lande zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit (15.–17. Jahrhundert): Inklusion und Exklusion durch Herrschaften und Gemeinden in ausgewählten Territorien Frankens“ kurz im Gesamtkontext des Trierer SFB „Fremdheit und Armut“ vor.1 Im Verlauf der Frankfurter Tagung werde nun freilich der weite Horizont jüdischen Lebens in ländlichen Gebieten Deutschlands vom 12. bis ins 20. Jahrhundert thematisiert, der nicht nur aus Sicht der innerjüdischen Geschichte, sondern jeweils auch aus jener der umgebenden Gesellschaft erschlossen werden muss. Hohe Erwartungen knüpfte Schmitt deshalb an eine fruchtbare, für beide Seiten neue Perspektiven eröffnende Diskussion der Referenten mit den Mitgliedern des AKA. Nur ein solch doppelter Zugriff auf das Thema könne gewährleisten, Kontinuitäten und Wandel jüdischer Präsenz auf dem Lande adäquat zu erfassen.

Den Reigen der Vorträge eröffnete RAINER BARZEN (Trier) mit einem umfassenden Überblick über ländliche jüdische Siedlungen und Niederlassungen im Hoch- und Spätmittelalter. Barzen unternahm mit seiner These, Juden hätten von Beginn an in Deutschland nicht nur in Städten, sondern gleichfalls in kleinen Siedlungen gelebt, einen grundlegenden Perspektivwechsel auf die Zeit vor 1350, da in der bisherigen Forschung jüdische Siedlung in diesem Raum und dieser Zeit gemeinhin als rein städtisches Phänomen betrachtet wird. Sein Vortrag gliederte sich in vier Teile: Zunächst fragte Barzen nach der Struktur ländlicher jüdischer Siedlungen, nach ihrer Verteilung im Raum sowie nach den Möglichkeiten der Quellenüberlieferung zu solchen Siedlungen. Als zweites erstellte er mit Hilfe der hebräischen Terminologie zu kleinen Orten eine Typologie ländlicher Siedlungen. Anschließend beschäftigte er sich mit der Vernetzung und dem Verhältnis kleinerer Niederlassungen untereinander, deren reziproken Abhängigkeiten und ihren Ausrichtungen hin auf größere Siedlungen. „Von den Juden auf dem Land zu den Landjudenschaften?“, so stellte er abschließend die Frage nach der longue durée ländlicher jüdischer Siedlungen über das Spätmittelalter hinaus. Nach Möglichkeit seien nach den Vertreibungen aus den meisten Städten während des 15./16. Jahrhunderts neue städtische Wohnorte gewählt worden, doch seien insbesondere dort, wo bereits Geschäftsbeziehungen aufs Land bestanden, auch dörfliche Siedlungsorte attraktiv gewesen. Folglich, so die abschließende These Barzens, wurde die Schaffung neuer Zentren (die wichtigste Einrichtung war der Friedhof) notwendig; dies habe dann im Verlauf der Zeit zur Gründung der „Medinah“ auf dem Lande, der verfassten Landjudenschaft, geführt.

Im Zentrum der Untersuchung von TORBEN STRETZ (Trier) standen die unterfränkischen Grafschaften Castell und Wertheim zwischen dem Ende jüdischer Siedlung in den meisten Städten und der Entstehung des Würzburger Landesrabbinats 1625. Castell betrieb keine aktive Judenpolitik und forcierte die Ausweisung der Juden, Wertheim hingegen siedelte gezielt Juden an und bildete somit ein „Gegenmodell“. Auf dieser Matrix beschäftigte sich Stretz mit den drei von ihm als relevant erkannten jüdisch-christlichen Berührungskomplexen Religion, Wirtschaft und Sozialleben. Er legte beispielreich dar, wie die durch den Gebrauch unterschiedlicher Kalender in den beiden Religionen differierenden Festtage Begegnungschancen und Konfliktpotential zugleich boten. Im dörflichen Wirtschaftsleben erschienen Juden als Vieh- und Weinhändler, Pfandleiher und generell bei der Kreditvergabe. Christliche Dienstleistungen für Juden kamen regelmäßig vor. Streit habe es häufiger mit Weinhändlern und Fleischern gegeben, die die jüdische Konkurrenz fürchteten. Das Wirtshaus trat als konkreter Begegnungsraum beider Religionen beim Geschäftsabschluss in Erscheinung. Hinsichtlich des sozialen Lebens im Dorf hielt Stretz fest, es habe keine topographische Trennung gegeben. Man habe auch gemeinsam Fronarbeit geleistet. Der Vorwurf „landsverderblich“ zu sein habe sich allgemein auf alles bezogen, was sich dem Gemeindeleben als schädlich erwies. Die Frage der Ehre (Geschäftsehre, sexuelle Ehre) sei auf jüdischer Seite ebenso relevant gewesen wie auf christlicher. Als Fazit seiner Ausführungen konstatierte Stretz, das Nebeneinander sei die maßgebliche Koexistenzform von Juden und Christen in den Dörfern der von ihm untersuchten Grafschaften gewesen, die – je nach Rahmenbedingungen – zum Gegen- oder Miteinander werden konnte.

CLAUDIA RIED (Augsburg) vollzog mit ihrem Beitrag einen zeitlichen und geographischen Sprung. Das seit dem 18. Jahrhundert als „Staat ohne Juden“ geltende Bayern erhielt erst mit dem Gebietszuwachs 1806 in der neubayerischen Provinz Schwaben wieder jüdische Ansiedlungen, die nach Emanzipation strebten. Der chronologisch strukturierte Vortrag analysierte die zentralen Aspekte der bayerischen Judenpolitik vor Ort zunächst in der Zeit um 1813, dann in der Phase der Revisionsbemühungen und schließlich während der Revolution 1848-50. Um 1813 sei mit dem Toleranzedikt eine restriktive Politik verfolgt worden, welche die „Erziehung“ der Juden zu „nützlichen Staatsbürgern“ in den Vordergrund stellte. Ried hob hervor, wie sich mit der Wahrnehmung der Juden als andere Nation bereits ein für die spätere Zeit bedeutsamer Wandel in der judenfeindlichen Argumentation andeutete. Sie legte überzeugend dar, dass es vor allem die Behörden gewesen waren, welche die Vorurteile gegen Juden auch in Schwaben über Jahre aufrecht erhielten. Die erstmalige rechtliche Verbesserung der jüdischen Situation während der Revolution rief umgehend neue Gegenaktionen der Behörden sowie der breiten Bevölkerung hervor, welche die Forderung nach Gleichberechtigung zum Scheitern brachten. Ried fasste zusammen, die bayerische Politik habe zwischen 1813 und 1850 sehr restriktive Auswirkungen auf die schwäbischen Landgemeinden der Juden gehabt. Befördert durch eine ablehnende Beamtenschaft machte dies eine Konsolidierung des Zusammenlebens unmöglich; es führte im Gegenteil in der Bevölkerung zur Erwartung einer totalen Assimilation der Juden durch gänzliches Aufgehen in der christlichen Gesellschaft.

Im letzten Vortrag des Tages befasste sich STEFANIE FISCHER (Berlin) wiederum mit dem fränkischen Raum, genauer den Rahmenbedingungen für den Handel und die Viehmarktpolitik der kleinstädtischen Gemeinden Mittelfrankens in der Weimarer Republik. Auf den in den 1920er-Jahren dort wiederbelebten Viehmärkten kam den Juden eine Mittlerfunktion zwischen Bauern und Verbrauchern zu. Jüdische Betriebe machten knapp ein Drittel aller Viehhandelsbetriebe aus und stellten die große Mehrheit der mittelständischen Händler. Die symbiotische Koexistenz zwischen Bauern und Juden wurde seit 1927 durch die antisemitische Agitation der NSDAP gefährdet. Fischer widerlegte die weit verbreitete Meinung, die fränkischen Bauern seien die primären Träger des Antisemitismus gegenüber den jüdischen Viehhändlern gewesen. Sie wies plausibel nach, wie die Bauern, die ihr Handelsinteresse gefährdet sahen, sich zunächst dem Werben der NSDAP verschlossen. „Judenfreie“ Viehmärkte wurden zwar seit 1929 von Nürnberg aus in ganz Mittelfranken durchgesetzt, hatten aber keinen Erfolg. Nach 1933 eskalierte die Situation: Juden sahen sich zunehmend der Gewaltausübung auf offener Straße ausgesetzt. Infolgedessen wurden bis 1934 die meisten jüdischen Viehhandelsbetriebe eingestellt, die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden komplett zerstört. Mehr als 90 Prozent der mittelfränkischen Juden flüchteten vor Kriegsbeginn. Fischer resümierte, das NS-Regime habe zutiefst in das Wirtschaftssystem eingegriffen, doch erst die Erfahrung der Gewalt nach 1933 habe die Beziehungen zwischen Juden und Bauern zum Erliegen gebracht. Neben der Angst vor Repressalien sei dann auch die persönliche Bereicherung auf Kosten der Juden ein entscheidender Faktor geworden.

SABINE ULLMANN (Eichstätt) betonte zu Beginn ihrer Zusammenfassung nochmals, jüdische Historiographie sei stets die Summe aus innerjüdischer und allgemeiner Historiographie, eine komplexe Erfassung nur unter Berücksichtigung beider Positionen möglich. Häufig stünden sich ein sektoraler und ein integrativer Forschungsansatz gegenüber, deshalb sei es umso verdienstvoller, dass der AKA eine interdisziplinäre Herangehensweise aufgegriffen habe. Jüdische Geschichte könne so als Indikator für Aspekte der allgemeinen Geschichte fungieren. Sehr bedenkenswert nannte sie den Lösungsansatz, den Barzen für die Verländlichungsdebatte2 vorgeschlagen hatte. Hinsichtlich des Beitrags von Stretz fragte sie, ob es speziell dörfliche Umformungen der judenfeindlichen Entwicklungen gegeben habe. Sie bezeichnete das Wechselspiel zwischen Segregation und Integration als typisch und regte die Suche nach neuen Fragestellungen an, beispielsweise nach Formen der Herrschaftsvermittlung und der Rolle der Juden in diesem Kommunikationsprozess. Als Reaktion auf den Vortrag von Ried sprach Ullmann sich für eine generelle Untersuchung der Emanzipationsdebatte auf dem Lande aus und empfahl, den Blick stärker auf die Beamtenschaft und die Rolle der Ortsgemeinden zu richten. Auch sei es wichtig, die Begrifflichkeiten für Juden („Israeliten“) in den Blick zu nehmen. Sie verwies auf die Bedeutung der Religion als langfristige strukturgeschichtliche Komponente des Antisemitismus und der Stereotypenbildung. Der Beitrag von Fischer habe die Wirkung langjähriger Stereotypen für das Feld des symbiotischen, aber ambivalenten Viehhandels deutlich gezeigt. Ullmann leitete mit der Frage, ob es Sinn mache, weiterhin mit den Kategorien Stadt- und Landjuden zu operieren, sowie der Forderung, die Rolle der Gemeinden und den Blick von unten stärker zu berücksichtigen, zur Abschlussdiskussion über.

Die Schlussrunde fand rege Beteiligung. WERNER RÖSENER (Gießen) forderte, die Entstehung des Landjudentums in seinen unterschiedlichen Ausprägungen unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Judentum und Königtum in den verschiedenen Regionen zu betrachten. BARZEN bezeichnete die ländliche Siedlung als „ein Kind“ der städtischen; die Gemeinden hätten sich überschnitten. Er regte an, auch den christlichen Gemeindebegriff außerhalb der Stadtmauern zu denken. BRAKENSIEK betonte die Konvergenz zwischen den Forschungen des AKA und jenen zur jüdischen Geschichte: Die Zuschreibungen zum Begriffspaar „Stadt-Land“ änderten sich laufend, man habe diese zu lange auf der Folie des 19. Jahrhunderts betrachtet. Jüdische und Agrargeschichte aufeinander zu beziehen sei fruchtbar, weil man sich ständig über Begrifflichkeiten klar werden müsse. „Ländlichkeit“ bezeichne einen regelrechten „Siedlungsbrei“. Man müsse sich fragen, was im 20. Jahrhundert überhaupt noch „ländlich“ sein kann. Es seien Kategorien der Unterscheidbarkeit nötig. SCHMITT riet daraufhin dazu, die Funktionen der Gemeinden genauer zu betrachten, desgleichen die Aneignungsprozesse hinsichtlich des Raumes. DOROTHEE RIPPMANN (Zürich) griff das Problem der Tauglichkeit der Begriffe „Stadt“ und „Land“ nochmals auf und ergänzte es um die Frage nach dem Grad der Freiwilligkeit jüdischer Existenz auf dem Lande. ULLMANN nannte es einen grundlegenden Perspektivwechsel, wenn erstmals hinterfragt werde, ob jüdische Mobilität aufs Land nicht nur erzwungen gewesen sei. Mit diesem Ausblick auf die vielfältigen Möglichkeiten eines interdisziplinären Ansatzes sowohl für die Agrargeschichtsforschung als auch für die jüdische Geschichte endete die Tagung.

Konferenzübersicht:

Sigrid Schmitt (Trier): Begrüßung und Einführung

Rainer Barzen (Trier): Ländliche jüdische Siedlungen und Niederlassungen im Hoch- und Spätmittelalter. Typologie, Struktur und Vernetzung

Torben Stretz (Trier): Jüdisch-christliche Koexistenz in den Dörfern ausgewählter Grafschaften Frankens des 16. und 17. Jahrhunderts

Claudia Ried (Augsburg): Die bayerische Judengesetzgebung im 19. Jahrhundert und deren Folgen für das schwäbische Landjudentum

Stefanie Fischer (Berlin): Koscherer Kuhhandel? Jüdische Viehhändler im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen Interessen und rassistischen Ideen, 1918-1939

Sabine Ullmann (Eichstätt): Zusammenfassung und Schlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Vgl. die Projektbeschreibung: <http://www.sfb600.uni-trier.de/?site_id=108&proj_id=c8656d551c73723eb1ae282691fb53b5&sitename=Beschreibunghreibung> (19.10.2010).
2 Vgl. zu den verschiedenen Positionen Michael Toch, Siedlungsstruktur der Juden Mitteleuropas im Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Ders., Peasants and Jews in Medieval Germany. Studies in Cultural, Social and Economic History, Burlington 2003 (Variorum Collected Studies Series 757), Nr. XI, S. 29-39; Stefan Rohrbacher, Stadt und Land. Zur „inneren“ Situation der süd- und westdeutschen Juden in der Frühneuzeit, in: Monika Richarz / Reinhard Rürup (Hrsg.), Juden auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Tübingen 1997 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 56), S. 37-58; Monika Richarz, Ländliches Judentum als Problem der Forschung, in: ebd., S. 1-8.


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