HT 2010: Zeitgeschichtliche Forschungen über Fächergrenzen und die Grenzen des Fachs

HT 2010: Zeitgeschichtliche Forschungen über Fächergrenzen und die Grenzen des Fachs

Organisatoren
Rüdiger Graf, Ruhr-Universität Bochum / Kim Christian Priemel, Humboldt-Universität zu Berlin; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2010 - 01.10.2010
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Von
Felizitas Schaub, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Grenzziehungen zwischen Disziplinen sind nicht nur im Sinne einer Abgrenzung und Distanznahme zu verstehen. Denn Prozesse der Definition enthalten auch ein Moment der Selbstreflexion über die Besonderheit und Eigenheiten der Fächer und bergen Potential für eine disziplinäre Standortbestimmung. Die von Rüdiger Graf (Bochum) und Kim Christian Priemel (Berlin) organisierte Sektion „Zeitgeschichtliche Forschungen über Fächergrenzen und die Grenzen des Fachs“ nutzte das Thema „Über Grenzen“ des Historikertags in Berlin, um das interdisziplinäre Feld auszuloten, auf dem sich die Zeitgeschichte bewegt, wobei das Verhältnis von Zeitgeschichte und den Sozialwissenschaften im Zentrum stand. Verflochten mit diesem Anspruch fokussierte die Sektion auf Fragen nach der Spezifik einer (zeit-)historischen Perspektive in fächerübergreifenden Forschungen und damit nach ihrer Rolle in einem konstruktiven Dialog der Disziplinen.

Auf die Notwendigkeit, über das spezifische Potential der Zeitgeschichte nachzudenken, wies RÜDIGER GRAF (Ruhr-Universität Bochum) in seinem Eröffnungsvortrag vor allem für theoriegeleitete Forschungen hin. Die Tatsache, dass sich zeithistorische Studien häufig Theorien und Methoden bedienten, die aus den Sozialwissenschaften stammen, führe dazu, dass der Zeitraum, der Erkenntnisgegenstand der Zeithistoriker/-innen ist, und der Zeitraum, in dem diese theoretischen und methodischen Konzepte entstanden, kongruent seien. Die sich daraus ergebende Konstellation sei insofern problematisch, dass es Forschenden schwerer falle, die wirklichkeitskonstituierende Kraft dieser Theorien zu erkennen und sich von ihnen kritisch zu distanzieren, weil sie unsere Form der Weltaneignung bis heute prägen. An der Interdependenztheorie von Robert Keohane und Joseph Nye veranschaulichte Graf diese These. Die amerikanischen Politikwissenschaftler Keohane und Nye hatten in den frühen 1970er-Jahren in einer Studie zur Transformation der internationalen Ölwirtschaft komplexe, globale Abhängigkeitsverhältnisse aufgezeigt und damit eine multipolare Welt und das Ende der US-amerikanischen Hegemonie propagiert. Unterschiedliche Publikationen neuesten Datums, auch aus der Geschichtswissenschaft, die die Thesen Keohanes und Nyes nahezu unverändert übernommen haben, belegen die scheinbar „seismographischen Fähigkeiten“ ihrer Autoren und machen die Frage nach dem „spezifischen Mehrwert“ einer zeithistorischen Analyse gegenüber zeitgenössischen politik- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen überdeutlich. Graf betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit, nebst der klassischen historischen Verfahrensweisen der Historisierung und Kontextualisierung auch die Wirkung politischer Begriffe und Theorien auf unsere Wahrnehmung abzuschätzen, um nicht in ihren Paradigmen zu verbleiben. Ausserdem müsse der Blick dafür geschärft werden, ob und weshalb bestimmte Darstellungen besondere Überzeugungskraft erlangten. Dazu sei es unerlässlich, sich der Vielfalt der zeitgenössischen Theoriebildung in ihrer jeweiligen politischen Verortung bewusst zu sein. Daraus folgert Graf die Forderung einer konsequenten Behandlung politik- und sozialwissenschaftlicher Gegenwartsdiagnosen als Quellen in ihrem Diskurskontext und nicht als zeitgenössische Darstellungen, um eine eigene disziplinäre Identität der Zeitgeschichte zu formen. Indem die Zeitgeschichte auch Theorien aus anderen Sozialwissenschaften in ihre Forschungen miteinbeziehe, könne sie ausserdem „verschiedene Weisen der Welterzeugung miteinander korrelieren und ihre wirklichkeitskonstituierende Funktion sichtbar machen.“ Unter diesen Prämissen wären für Zeithistoriker/-innen Voraussetzungen geschaffen, um über eine einfache empirische Ausmalung der Theorieerwartungen hinauszugehen.

BENJAMIN ZIEMANN (University of Sheffield) nahm in seinem Vortrag die Ambivalenz auf, die der empirischen Sozialforschung als „Erkenntnisgegenstand“ und „Quellenmaterial“ zeithistorischer Untersuchungen anhaftet. Anhand der Datenreihen von Sozialforschungen zum deutschen Katholizismus, die seit 1915 von der „Zentralstelle für kirchliche Statistik“ erhoben wurden und in aktuelle Forschungen immer noch Eingang finden, sowie anhand von Konzepten der „Pfarrei- und Pastoralsoziologie“ der 1960er-Jahre wies Ziemann auf die chancenreiche, aber auch problematische Verschränkung zeitgenössischer empirischer Sozialforschung und zeithistorischer Forschung hin. Dabei sei nicht nur mit den erhobenen Daten ein kritischer Umgang angezeigt. Vielmehr gelte dies auch für „breiter angelegte soziologische Veröffentlichungen mit einigem sozialtheoretischen Anspruch“, die auf diesen empirischen Daten basieren. Dass diese Darstellungen in einem wissenschaftlich kontrollierten Rahmen entstanden sind, dürfe nicht dazu verführen, vorbehaltlos auf sie zurückzugreifen. „Darstellungen“, die sozialwissenschaftliche Datenreihen zur Grundlage haben, sowie die Daten selbst, bezeichnete Ziemann dabei als „forschungsproduzierte Quellen“ (in Abgrenzung zu „prozessproduzierten Quellen“, die sich aus der alltäglichen Arbeit von Institutionen ergeben). Mit der Bezeichnung dieser Darstellungen als Quellen distanziert sich Ziemann von der These Lutz Raphaels und Anselm Doering-Manteuffels1, sozialwissenschaftliche Diagnosen seien für den Zeithistoriker gleichzeitig Quellen und Darstellung, die „Sozialdaten und Fakten“ lieferten. Das Potential soziologischer Forschungen für die Zeitgeschichte sieht Ziemann vielmehr in ihrer Eigenschaft als Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft. So handle es sich nicht um ein „soziales Faktum“, wenn „die Kirchensoziographie männliche Arbeiter als defiziente Sozialgruppe im Sinne des Kirchenbesuchs“ identifizierte. Eher sei darin das Resultat eines unter Soziologen und Theologen verfestigten pastoralen Blicks zu erkennen, der eine „Anpassung der Kirche an die Realität einer als ‚Industriegesellschaft’ beschriebenen Umwelt forderte.“ Eine konsequente Historisierung soziologischer Forschungen bedeute, nach dem Wandel der Semantiken zu fragen, mit denen Gesellschaften sich selbst beschreiben. Gleichzeitig würden mit dieser Herangehensweise die notwendigen Grenzziehungen zwischen Sozialwissenschaft und zeithistorischer Forschung aufrechterhalten.

Für eine Annäherung im Sinne einer verstärkten gegenseitigen Wahrnehmung von Medienwissenschaften und der Zeitgeschichte appellierte CHRISTINA VON HODENBERG (Queen Mary, University of London). Gründe für die verhaltene Beziehung zwischen den beiden Fächern sieht von Hodenberg in den divergierenden Erkenntnisinteressen der beiden Disziplinen. So würden medienwissenschaftliche Forschungen vor allem auf die Eigenart bestimmter Medien und ihren Einfluss auf kulturelle Systeme fokussieren. Historiker/-innen betrachteten Medien hingegen häufig auf ihre Rolle in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen hin, wobei sie zu einem blossen „Funktionselement“ neben anderen degradiert würden. Eine echte Konsonanz der Begriffe stellte von Hodenberg nur in wenigen Bereichen fest, wobei die Forschungen zu Medialisierungsprozessen eine Ausnahme bildeten. Auch in ihrer Methodik würden die Disziplinen von grossen Unterschieden getrennt: Während medienwissenschaftliche Studien auf Generalisierbarkeit und Empirie ausgerichtet seien, plädierten Zeithistoriker/-innen für eine Mediennutzung als individuellen, aktiven Aneignungsprozess, der empirisch kaum rekonstruierbar sei. Welchen Wert medienwissenschaftliche Studien als Quellen und/oder Darstellung für die Zeitgeschichte jedoch haben könnten, illustrierte von Hodenberg anhand ihres eigenen Forschungsprojektes, in dem sie untersucht, ob Fernseh-Unterhaltungsserien aus den 1960er- und 1970er-Jahren den sozialen Wandel beschleunigt oder qualitativ beeinflusst haben. Die Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Material der zeitgenössischen medienwissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirkung dieser Serien auf verschiedene Publikumsgruppen bestätigten, dass Zeithistoriker kritisch mit den Fragestellungen und Interpretationen dieser Forschungen umgehen müssten. Der Entstehungskontext der Studien müsse historisiert, die Durchsetzung bestimmter Deutungen hinterfragt werden. Im Gegensatz zu Benjamin Ziemann betrachtete von Hodenberg diese Untersuchungen aus den Medienwissenschaften nicht nur als Selbstbeschreibung. Vielmehr zeigte sie sich davon überzeugt, dass es eine „soziale Welt jenseits der Selbstbeschreibungen“ gebe, die in den empirischen Datenreihen durchscheine. Obwohl diese Daten keine klaren Konturen lieferten, sei es Zeithistoriker/-innen doch möglich, sie gegen den Strich zu lesen und damit Erkenntnisse zu gewinnen, die nicht dem eigentlichen Erkenntnisgegenstand der Studien entsprechen müssten. Der spezifische Mehrwert zeithistorischer Untersuchungen gegenüber Medienforschungen liege dann in der Ergänzung der verwendeten Methoden und Theorien durch historische Zugänge, die sich durch die Deutung medialer Phänomene im Rahmen (und zur Überprüfung) zeithistorischer Leitthesen auszeichne. Ihr Potential und ihre Spezifik würden aber vor allem in den Zugängen deutlich, die aus akteurszentrierten, diachronen und vergleichenden Perspektiven erfolgen können.

Wie ein historisierender Umgang mit Theorien aus anderen Disziplinen aussehen könnte, der diese als Quelle und nicht als Darstellung versteht, illustrierte KIM CHRISTIAN PRIEMEL (Humboldt-Universität zu Berlin) an einem Beispiel aus den Wirtschaftswissenschaften. Das Modell des Strukturwandels als sektoraler Wandel sei seit den 1980er-Jahren als Deutungsmuster in der Geschichtswissenschaft etabliert. Der begriffs- und ideengeschichtliche Hintergrund dieser Konzeptionen werde dabei von den Zeithistoriker/-innen meistens nicht zur Kenntnis genommen. Priemel wies in einem Einblick in die komplexe Geschichte der Genese und Transferprozesse des Konzepts darauf hin, dass die Verwendung des Begriffs „Strukturwandel“ bereits für das 19. Jahrhundert festgestellt werden könne. Die Drei-Sektoren-Theorie, die Berufsverhältnisse schematisch in die drei Sektoren Agrarwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen einteilt, werde zumeist den Ökonomen Allan Fisher (NZ), Colin Clark (UK/Aus) und dem Sozialwissenschaftler Jean Fourastié (F) zugeschrieben und frühestens auf das Jahr 1935 datiert. Ihre Ursprünge reichten jedoch deutlich weiter zurück, wobei Priemel den amerikanischen Statistiker A. Ross Eckler heraushob, der 1929 in seiner Studie zur Berufsstruktur der USA zwischen 1850 und 1920 die Kategorien der „agriculture“ und „manufacturing“ um die des „rendering of services“ ergänzt hatte. Das Verhältnis der drei Sektoren zueinander wurde dabei als Gradmesser der gesellschaftlichen Entwicklung im Sinne einer Technologisierung der Güterproduktion gelesen, die mit einem wachsenden Anteil der Berufstätigen im Bereich der Dienstleistungen korreliere. Diese modernisierungstheoretischen Annahmen seien auch späteren Schematisierungen von Volkswirtschaften inhärent, die zwar in der theoretischen Herleitung jeweils unterschiedlich seien, die aber meistens auf das Drei-Sektoren-Modell rekurrierten. Die breite Verwendung des Modells solle dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass es innerhalb der wirtschaftswissenschaftlichen Disziplin kontrovers diskutiert wurde. Umbau- und Alternativvorschläge zur Drei-Sektoren-Theorie würden ausserhalb des wirtschaftswissenschaftlichen Fachs in der Regel jedoch kaum wahrgenommen. In der Zeitgeschichte sei es zumeist die soziologische Adaption des Strukturwandels als sektoraler Wandel, der Eingang in die Forschungen finde. Da nicht konsequent historisierend an diese Konzeptionen herangegangen werde, würde der „Strukturwandel“ als „Blackbox“ verwendet, anstatt in einer Untersuchung von Berufen und Tätigkeiten, von Produktionsweisen und Produkten, von Technologien und Konsummustern etc. der Frage nachzugehen, welche Strukturen sich wandelten und wie dieser Wandel jeweils strukturiert sei. Eine solche Forschungsleistung setzte die Distanzierung von sozialwissenschaftlichen Analysen voraus, um ihre wirklichkeitskonstituierende Wirkung zu erkennen. Hier, und nicht so sehr in der von Hans Rothfels propagierten mangelnden emotionalen Distanz, liege die Herausforderung für Zeithistoriker/-innen, der durch eine dichte und präzise Aufschlüsselung von zeitgenössischen Entstehungsbedingungen, Denk- und Diskussionszusammenhängen begegnet werden könne.

Als Plädoyer für eine „umfassende und erneuerte Zeitgeschichte“ und eine „erneuerte Quellenkritik“ fasste ANDREAS WIRSCHING (Universität Augsburg), der kurzfristig für MARY FULBROOK (University College London) eingesprungen war, die Vorträge der Sektion in seinem Kommentar zusammen. Die Referate hätten sich alle auf eine konstruktive Art und Weise mit der Frage befasst, wie Zeithistoriker/-innen besser einen distanzierten Blick realisieren können, um eine unkritische Übernahme von Theorien, Begriffen, Modellen und empirischen Daten aus den Nachbardisziplinen zu vermeiden. Dass sowohl ihre Historisierung als auch Kontextualisierung dazu von grösster Bedeutung sei, hätten alle Referate deutlich gemacht. Was das konkret für die Arbeit in der Zeitgeschichte bedeute, dazu hatte Wirsching den Vorträgen drei Antworten entnommen. Zum einen sei es die Chronologie von Ereignissen, sozialen Konstellationen, Ideengebäuden usw., die reflektiert werden müsse, die aber gleichzeitig zum „Mehrwert“ der Historiker/-innen beitrage. Durch die Chronologie würde eine diachrone Lesart der unterschiedlichsten Phänomene möglich. Zum anderen betonte Wirsching das Potential, das einer akteurszentrierten Perspektive der Zeitgeschichte inhärent sei. Sie würde dazu führen, „Blackbox“-Begriffe der Sozialwissenschaften, wie zum Beispiel „Individualisierung“, zu hinterfragen. Ausserdem ermögliche die Offenheit der Geschichte, überlieferte Narrative zu stören und etablierte Deutungen von Wirklichkeit zu dekonstruieren. Mit dem kritischen Einwand, ob eine Geschichtsschreibung unter diesen Prämissen nicht dem reinen Individualitätsprinzip entspreche und sich auf ein letztlich überholtes Prinzip des blossen Verstehens zurückziehe, leitete Wirsching zu der Frage über, ob die Zeitgeschichte denn grundsätzlich theoriefähig sei.
Dieser Einwand spricht einen wichtigen Punkt an, der in der Sektion, die durch eine hohe Kohärenz, gleichzeitig aber auch durch eine grosse Vielfalt der Themen beeindruckte, bis zu diesem Moment ein Desiderat geblieben war. Die Frage nämlich, inwieweit die Geschichtswissenschaft und hier explizit die Zeitgeschichte nicht nur mit Theorien aus anderen Disziplinen in der diskutierten Weise arbeiten sollte, sondern auch selbst zur Weiterentwicklung dieser theoretischen Konzeptionen oder zur Bildung neuer Theorien beitragen kann. In der Diskussion sprachen sich die Referierenden für einen aktiven Beitrag der Geschichtswissenschaft in der Theoriebildung aus, indem Ergebnisse aus der eigenen Forschung in den Prozess der Theorieformulierung eingeflochten werden sollten, um diesen in einem konstruktiven Dialog der Disziplinen mitzugestalten. Nur auf diese Weise könne ein reziprokes Verhältnis zwischen den Fächern entstehen. Die Voraussetzung dafür sei die Rezeption möglichst vieler verschiedener Theorien aus den unterschiedlichen Disziplinen. Eine solche Praxis würde sich von der Tendenz in der Geschichtswissenschaft unterscheiden, bereits die Fragestellungen aus der Theorie abzuleiten. Ein weiterer Punkt, der in den Vorträgen nicht angesprochen wurde, war die Reflexion über die Standortgebundenheit der forschenden Person. Die Vorträge hatten darauf rekurriert, dass das spezifische Problem der zeithistorischen Forschungen die epistemologische Nähe zu den Kategorien der Sozialwissenschaften sei. Auch wenn darauf hingewiesen worden war, dass durch die vorgestellten Möglichkeiten der Historisierung sozialwissenschaftlicher Theoreme nicht Objektivität, sondern immer nur neue Partikularität entstehe, konnte der Eindruck nicht ganz vermieden werden, dass Forschungszugänge aus anderen Bereichen der Geschichte höhere Chancen für einen objektiven Blick böten. Wird aber der Subjektivierung der Herangehensweise Rechnung getragen, die bereits bei der Wahl des Erkenntnisgegenstandes beginnt und gezwungenermassen jede Forschung prägt, kann das Problem, wie ein Verfremdungseffekt2 erzielt werden kann, auf die gesamte Geschichtswissenschaft übertragen werden und verliert die Spezifik für die Zeitgeschichte. Ebenfalls im Zusammenhang mit der Selbstverortung der Forschenden stand die Frage, inwiefern das gesellschaftliche Bedürfnis nach historischer Deutung für ihre Arbeit eine Rolle spiele und wie sich dieses mit der hier propagierten Praxis für Zeithistoriker/-innen vereinbaren liesse. Nicht zuletzt klang damit an, ob die Diskussion der Sektion als eine spezifisch deutsche einzuordnen sei — hier wäre eine Einschätzung Mary Fulbrooks besonders wertvoll gewesen. Wenn auch die Fragen nach dem Verlauf der Grenzen innerhalb des Fachs nicht ganz geklärt werden konnten, hat die Sektion zu ihrem primären Anspruch, die Möglichkeiten der Zeitgeschichte in Bezug, aber auch in einer reflektierten Abgrenzung zu den Sozialwissenschaften aufzuzeigen, einen anregenden und konstruktiven Beitrag geleistet.

Sektionsübersicht:

Willibald Steinmetz (Bielefeld): Moderation

Rüdiger Graf (Bochum): Theorien der Politik in der Zeitgeschichte. Internationale Beziehungen und Energie in den 1970er Jahren

Benjamin Ziemann (Sheffield): Empirische Sozialforschung als „Erkenntnisgegenstand“ und „Quellenmaterial“

Christina von Hodenberg (London): Medienwissenschaftliche Studien als Herausforderung der Zeitgeschichte

Kim Christian Priemel (Berlin): Strukturwandel. Transfergeschichte eines wirtschaftswissenschaftlichen Konzepts

Andreas Wirsching (Augsburg): Kommentar

1 Lutz Raphael / Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
2 Zum Prozess der Verfremdung sei an dieser Stelle auf die Soziologen Klaus Amann und Stefan Hirschauer verwiesen, die sich programmatisch mit der „distanzierenden Befremdung des Allzuvertrauten“ auseinandersetzen. Vgl. Klaus Amann / Stefan Hirschauer, Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm, in: dies. (Hrsg.), Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt am Main 1997, S. 7-52.


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