Entgrenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart

Entgrenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart

Organisatoren
Arbeitsgruppe "Kulturtransfer" des Grazer Spezialforschungsbereichs (SFB) "Moderne - Wien und Zentraleuropa um 1900"
Ort
Graz
Land
Austria
Vom - Bis
16.10.2003 - 18.10.2003
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Von
Werner Suppanz, Graz

Vom 16. bis 18. Oktober 2003 fand in Graz ein internationales und interdisziplinäres Symposion zum Thema "Entgrenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart" statt, organisiert von der Arbeitsgruppe "Kulturtransfer" des Grazer Spezialforschungsbereichs (SFB) "Moderne - Wien und Zentraleuropa um 1900". Die ehemalige Habsburgermonarchie, so die Ausgangsthese, bietet sich paradigmatisch als Untersuchungsfeld für kulturelle Transfers und die empirische Überprüfung der entsprechenden theoretischen Ansätze an. In seiner ethnischen und kulturellen Vielfalt verweist der zentraleuropäische Raum um 1900 auf Befindlichkeiten der Gegenwart, in der die Begegnung mit dem kulturell "Fremden" oder "Neuen" zu einer globalen Erfahrung geworden ist.

Eine zentrale Frage, die im Verlauf des Symposiums immer wieder zur Sprache kam, war die Konzeptualisierung von "Kultur". Helga Mitterbauer (Graz) stellte im Einleitungsreferat den dynamischen Kulturbegriff der Grazer Gruppe dar, der auf die Hybridität von Kultur und die Bedeutung von Zirkulation und Blockierung kultureller Elemente abzielt. Dieses Verständnis, das die Abgrenzbarkeit von "Nationalkulturen", "Nationalphilologien" etc. auflöst und gleichzeitig die innere Differenz, die Heterogenität von Kultur hervorhebt, versteht kulturellen Transfer als Kontextwechsel von Zeichen und Praktiken, deren jeweils zugeschriebene Bedeutungen in diesem Prozess einer Transformation unterliegen. Katharina Scherke (Graz) wies in diesem Zusammenhang darauf hin, wie im gegenwärtigen globalen Austausch die Differenz des "Eigenen" und des "Fremden" immer mehr dynamisiert und als ständig wechselnde Zuschreibung erkennbar wird. Als Beispiele dafür dienen "indische" Currygerichte, die von England aus nach Indien "exportiert" werden oder die deutsch-türkische Rapmusik, die US-amerikanische, deutsche und türkische Elemente in sich vereint.

Michel Espagne (Paris) und Matthias Middell (Leipzig) stellten die Kulturtransferforschung in einen wissenschaftshistorischen Kontext. Espagne, der gemeinsam mit Michael Werner über die Reputation eines "Vaters der Kulturtransferforschung" verfügt, sprach über die "Anthropologie als Reservoir der Transferforschung" und hob die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte hervor, um Entstehung und Potenzial des Konzepts "kultureller Transfer" einschätzen zu können. Er plädierte dafür, dass konkrete Untersuchungen u.a. aus forschungspragmatischen Gründen von "Kulturräumen" ausgehen, zwischen denen (bi-, tri-, quadri-...laterale) Austauschprozesse stattfinden. Middell wiederum setzte die gegenwärtige Kulturtransferforschung mit der "Universalgeschichte" in Beziehung, die infolge der Globalisierungserfahrung im "Zeitfenster" von 1890 bis 1914 einen Aufschwung erlebte und gegenwärtig in der "global history" in aktualisierter Form auflebt. Ähnlich wie Espagne betonte auch er die Notwendigkeit, anstelle des Kulturvergleichs den Netzwerkcharakter von Kultur in den Mittelpunkt zu stellen, wobei er Raum explizit als soziokulturell definiert auffasst, was neben geographischen auch soziale Räume, z.B. Händlernetze, einschließt.

Nach diesen Beiträgen thematisierten mehrere Referate empirische Fragestellungen, die als Fallbeispiele für kulturellen Transfer dienten. Johannes Feichtinger (Graz/ Wien) beschäftigte sich mit Wissenstransfer anhand der Analyse jener Bedingungen, die zur Verbreitung des Positivismus als wissenschaftlichem Programm im Zentraleuropa um 1900 beitrugen. Seine Ausgangsthese war, dass sich Wissenschaftskulturen analog zu sozioökonomischen und politischen Verhältnissen wandeln, ein Verhältnis, das die Aufnahme von Wissen als neuem "kulturellem Element" wesentlich bestimmt. Gregor Kokorz (Graz) erläuterte u.a. anhand von Béla Bartóks Untersuchungen zum ungarisch-slowakischen Volksliedtransfer, inwieweit kultureller Transfer eine wesentliche Voraussetzung für kreative Prozesse sein kann. Gleichzeitig wurde die Schwierigkeit deutlich, das Konzept der Kreativität operationalisierbar zu machen. Der in der Diskussion eingebrachte Begriff des "kreativen Missverständnisses" führte auch wieder auf die unterschiedlichen Konzepte von Kultur zurück, die einen hermeneutischen Zugang entweder beinhalten oder zurückweisen.

Monika Stromberger (Graz) befasste sich in ihrem Referat anhand der Institutionalisierung von Wissenschaft in Graz um 1900 mit dem ambivalenten Prozess der Integration in überregionale städtische Netzwerke einerseits und der "Nationalisierung" städtischer Selbstbilder andererseits. Während es durch das Bestreben, mittels wissenschaftlicher Reputation in der Städtekonkurrenz zu bestehen, zur Erweiterung der Kommunikationsräume kam, fand gleichzeitig deren Verengung durch die Abgrenzung von "national Fremdem" und die zunehmende Orientierung an reichsdeutschen Städten bzw. Universitäten statt. Mit der Akkumulation symbolischen Kapitals durch kulturelle Vermittlung befassten sich Norbert Bachleitner (Wien) und Michaela Wolf (Graz). Sie behandelten dieses Thema am Beispiel von Hermann Bahr, der durch den Transfer französischer Literatur Distinktion im literarischen Feld im Sinne Bourdieus zu erlangen versuchte und sich in dieser Funktion in einem "Raum der Vermittlung" - analog zu Homi Bhabhas "Drittem Raum" - bewegt habe.

Mit Kunstkritikern als Vermittlern beschäftigte sich Friederike Kitschen (Berlin) am Beispiel deutscher und französischer Kunstzeitschriften und zeigte, dass es bereits um 1900 eine intensive wechselseitige Auseinandersetzung mit dem jeweils "anderen" Kunstschaffen in den Zeitschriften gab. Claudia Wedepohl (London) sprach über Aby Warburgs Konzeption der "Wanderstraßen des Geistes" und untersuchte, inwieweit es sich hierbei um ein frühes Konzept für die Analyse kultureller Transfers gehandelt hat. Die stets präsenten Fragen von Transfer und Abgrenzung kamen auch in Marina Dmitrievas (Leipzig) Vortrag über den ukrainischen Futurismus zur Sprache, der einerseits in zahlreiche nationale und transnationale Netzwerke integriert war, aber gleichzeitig in Abgrenzung vom italienischen Futurismus und der sowjetischen Kulturpolitik Transferprozesse spezifischen Selektionsmaßnahmen unterzog.

Ein weiterer Schwerpunkt der empirischen Untersuchungen waren literarische Austauschprozesse und Rezeptionsvorgänge. Mariana-Virginia Lazarescu (Bukarest) sprach über die Rezeption deutscher und österreichischer Theaterstücke, vorrangig durch Schauspieltourneen, in Rumänien um 1900 bis in die 1920er Jahre, wobei die Aufführungen von Werken Hofmannsthals und Schnitzlers und die daraus bezogenen Wien-Bilder im Mittelpunkt standen. Dóri Takács (Szombathely) thematisierte ebenfalls Gastspiele, konkret die Aufführungen von Dramen der Wiener Moderne in Budapest durch deutschsprachige Ensembles vor 1914. Deutlich wurde dabei, wie über die Theaterkritiken ungarische Eigen- und österreichisch-wienerische Fremdbilder konstruiert wurden, in denen das dynamische, junge Budapest dem überfeinerten, "dekadenten" Wien gegenübergestellt wurde. Hedvig Ujvári (Budapest) berichtete über Max Nordau, der durch seine Herkunft und seine Arbeit als reisender Feuilletonist selbst in einem Spannungsfeld ungarisch-jüdischer, deutscher und französischer Prägung stand und durch seine Berichte, insbesondere über Berlin und Paris, selbst als Mittler nationaler Fremd- und Selbstbilder fungierte. Amália Kerekes (Budapest) und Alexandra Millner (Wien) referierten über die Übersetzungspolitik in der Habsburgermonarchie um 1900 anhand von ungarischen und deutsch-österreichischen Zeitschriften. Die kulturellen Hegemonialverhältnisse kamen dabei in der Annahme zum Ausdruck, dass deutschsprachige Texte keiner Übersetzung bedurften, während Auswahl und Übersetzung fremdsprachiger (im konkreten Fall: ungarischer) Werke stereotype Fremdbilder und Exotisierung erzeugten.

Die Brücke zu den einleitenden Fragen, die die Konzeptualisierung des kulturellen Transfers betrafen, schlugen die abschließenden, wieder theoretisch orientierten Beiträge. Mit seinem Thema "Kultur als Transfer" brachte Lutz Musner (Wien) jene Tendenz zur Auflösung des Kulturbegriffs zum Ausdruck, die schon in den einleitenden Bemerkungen angeklungen war. Sein zentrales Anliegen war die theoretische Verbindung von Ökonomie und Kultur, für die die Regulationstheorie (Michel Aglietta, Alain Lipietz) einen Ausgangspunkt darstelle. Kultur sei in diesem Modell, wie Musner an den Wiener Architekturbeispielen der Stadtbahn und des Karl-Marx-Hofes demonstrierte, als Textur des Sozialen aufzufassen, als Ensemble von Zeichen und Bedeutungen, das die jeweiligen Akkumulationsregimes und die Regulationsmodi, die vermittelnden Institutionen zwischen Markt und Gemeininteressen, verbindet. Kultur sei als Transfervorgang zu sehen, der auf der Grundlage von Traditionen, historischen Kontexten etc. sozioökonomische Strukturen in Bedeutungen übersetzt. Auch bei Wolfgang Schmale (Wien) klang Skepsis gegenüber dem Sprechen von "Kultur" an. Er wies auf die Ambivalenz hin, dass das Sprechen von kultureller métissage, insbesondere im Hinblick auf die ehemals kolonialisierte Welt, Machtgefälle entdramatisiere und verschleiere, gleichzeitig aber die Kulturtransferforschung (hierarchisierte) Nationalkulturen als Konstrukte kenntlich machen könne. Da der Weg von "Kultur" als heuristischer Einheit zu einer essentialisierten nur kurz sei, plädierte Schmale mit der Metapher des Hypertexts für den alternativen Begriff der "Kohärenz". Dieser würde es erlauben, zwar mit voneinander unterscheidbaren, nicht aber abgrenzbaren Einheiten zu arbeiten, kultureller Transfer wäre daher mit Transfers zwischen "Kohärenzclustern" unterschiedlicher sozialer, räumlicher und zeitlicher Reichweite gleichzusetzen.

Michael Werner (Paris) fasste schließlich zentrale Fragestellungen des Symposiums in seinem Referat zusammen. Ausgehend von einer Schilderung der Entwicklung der Kulturtransferforschung wies er auf wesentliche Probleme und Aporien hin. So sei trotz aller Ansprüche auf Auflösung von Grenzen der heuristische Rahmen zumeist ein nationaler, der Kulturbegriff sei im Grunde unzulässig territorialisiert - was den Transfer zwischen einer Vielzahl sozialer Räume ausschließe -, und in der Regel dominiere der Blick auf die "Hochkultur", während Kulturtransfer auf allen Ebenen zu untersuchen sei. Werner plädierte für eine Erweiterung der Perspektive in dieser Form und damit für eine höhere Komplexität der Sichtweise, indem die Verflechtung der Transferprozesse zwischen den Ebenen des Lokalen und des Transnationalen, der sozialen Gruppen wie der Gesellschaften verstärkt Berücksichtigung finde.

Das Grazer Symposium machte deutlich, dass zahlreiche empirische Arbeiten sich an das Konzept "Kulturtransfer" anschließen können, gleichzeitig aber nach wie vor wesentliche theoretische Fragen Gegenstand der Diskussion sind. Daraus lassen sich auch einige charakteristische Spannungsverhältnisse in der Kulturtransferforschung formulieren. Wahrnehmung von "kulturellem Transfer" findet in den Kulturwissenschaften vermutlich intensiver als je zuvor statt. Dennoch ist erkennbar, wie schwierig es ist, von (nationalen) Kulturräumen als vorgängigen, abgrenzbaren Referenzkonzepten in der Forschung abzugehen. Eine Auffassung von kulturellem Transfer als unvermeidbar mehrfachkodiert, z.B. als gleichzeitig zwischen national, regional, lokal und (in der Forschung bisher kaum thematisierten) sozial definierbaren "Kohärenzen", könnte hier die Komplexität der Forschungsansätze erhöhen und die Kontingenz der "Etikettierungen" deutlicher machen. Der aktuelle Stand in der Kulturtransferforschung scheint jedenfalls dazu beizutragen, dass die Vorstellung von authentischer Kultur als Grundlage von Identität nicht mehr haltbar ist.

Die Grazer Tagung "Entgrenzte Räume" informierte gleichermaßen über theoretische Debatten und Spannungsverhältnisse und empirische Anwendungen des Konzepts "kultureller Transfer" und ist als maßgebliche Standortbestimmung zu werten. Zu hoffen ist, dass davon ausgehend dessen interdisziplinäre Perspektiven in den Kulturwissenschaften mehr als bisher die ihnen zustehende Rezeption finden werden.

Kontakt

Email: <werner.suppanz@uni-graz.at>


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