HT 2010: Globalgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht. Sektion des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands

HT 2010: Globalgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht. Sektion des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands

Organisatoren
Hans Woidt, Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2010 - 01.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Wolfgang Geiger, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt; Thomas Lange, Seminar für Didaktik der Geschichte, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Einführend wies HANS WOIDT (Tübingen) auf ein erstaunliches Paradox hin: Die Welt ist durch den Globalisierungsschub der letzten Jahren stärker zusammen gewachsen als je zuvor, in der Öffentlichkeit wird Globalisierung als zentrales gesellschaftliches Thema wahrgenommen, in wachsendem Maße wird die Lebenswelt unserer Schüler in vielfältigre Weise bis in ihren Alltag hinein von globalen Faktoren bestimmt. Doch weder in der wissenschaftlichen Ausbildung noch im Geschichtsunterricht selbst sind bisher überzeugende Konsequenzen gezogen worden. Zwar gab es fachwissenschaftlich einzelne Vorstöße in Richtung weltgeschichtlicher Konzeptionen seit den 1960er-Jahren und auf der Forschungsebene gibt es großartige Fortschritte vor allem seit den 1990er-Jahren, parallel dazu trat auch das Thema Globalisierung ins öffentliche Bewusstsein. So erscheine es selbstverständlich, dass das Fach Geschichte auch globalgeschichtliche Perspektiven vermittelt. Dabei gehe es nicht um eine völlige Neuorientierung des Faches, betonte Herr Woidt, sondern um neue Sichtweisen auf weltweite Transfers und Interdependenzen, Wechselwirkungen in historischer Perspektive, um „eine besondere Art und Weise des Hinsehens und des Fragens“ (J. Osterhammel).

Die erste Runde der Vorträge galt dem geschichtswissenschaftlichen Aspekt. Aufgrund technischer Pannen (keine Beamer-Projektion) konnten die Vorträge der Sektion nur unter Einschränkungen gehalten werden, dies betraf negativ vor allem den Vortrag von UNSUK HAN. Er erläuterte die Hintergründe für das Interesse an Globalgeschichte in Korea. Ausgangspunkt hierfür war und ist die Kritik des Kolonialismus und seiner Folgen sowie des Eurozentrismus im damit verbundenen Geschichtsbild. Der Zusammenbruch des Realsozialismus hat hierfür einen Impuls geliefert in den Kreisen der südkoreanischen Intellektuellen. Hier wurde mittels zahlreicher Übersetzungen die entsprechende wissenschaftliche Literatur aus den USA, Europa, Japan und China rezipiert, vor allem jedoch Edward Saids Kritik des „Orientalismus“ in seinem gleichnamigen Buch. Man stellte Analogien zu den von Said analysierten Klischees, also eurozentrische Sichtweisen in koreanischen Schulbüchern fest. Es entstand ein Interesse an der Darstellung der Geschichte Asiens, der islamischen Welt, Afrikas und Lateinamerikas sowie an übergreifenden globalgeschichtlichen Themen wie Umweltgeschichte, in Anlehnung an die „kalifornische Schule“. In den 1980er-Jahren entstand unter japanischen Wirtschaftshistorikern eine Richtung regionalgeschichtlicher Erforschung der Zusammenhänge eines asiatischen Wirtschaftsraumes. Im Weiteren ging Herr Han auf den Eurozentrismus ein (in Asien „Okzidentalismus“ genannt und damit Nordamerika auch begrifflich einbeziehend), der sich von anderen Zentrismen (zum Beispiel Sinozentrismus) durch sein universalistisches Selbstverständnis auszeichne. Nebenbei gab Herr Han seiner Verwunderung Ausdruck, dass in vielen deutschen Schulbüchern immer noch vom „Zeitalter der Entdeckungen“ gesprochen werde, wo es sich doch um Eroberungen handelte. Der missionarische Kolonialismus des 16./17. Jahrhunderts und der Imperialismus des 19./20. Jahrhunderts weisen durch ihre universalistische Legitimation strukturelle Ähnlichkeiten auf, betonte Herr Han. Die Aufklärung lieferte für den modernen Ethnozentrismus Kriterien wie das Fehlen von Rationalismus, Menschenrechten und Privateigentum in nicht-europäischen Kulturen. Auf der anderen Seite gelte es aber auch die Tradition der Kolonialismuskritik in Europa zu würdigen, deren Grundlagen Las Casas bereits 1550 in der Kontroverse von Valladolid legte. Abschließend ging Herr Han noch einmal auf den Zwiespalt ostasiatischer Länder zwischen eigener Tradition und europäischer Beeinflussung ein, was in Japan ein besonderes Problem darstelle, da es sich heute als Teil der westlichen Zivilisation betrachte. Die Kritik des Eurozentrismus erzeuge in Korea eine Höherwertung der eigenen Kultur bis hin zu nationalistischen Tendenzen, was dann jedoch den Zielsetzungen einer globalgeschichtlichen Perspektive zuwiderlaufe. Es sei dadurch auch zu befürchten, dass die „wirklichen Leistungen Europas“ – gemeint waren damit diejenigen, die auch ohne Identitätsverlust übernommen und als Bereicherung verstanden werden können – auf Ablehnung stoßen.

HERMANN HIERY (Bayreuth) lehnte seinen Vortrag eng an die Vorgabe seines Vorredners an. Zunächst thematisierte er eine grundlegende Fragestellung: Warum ist die Globalisierung von Europa ausgegangen? Diese Frage sei lange Zeit vernachlässigt worden. Eroberungen und Missionierungsabsicht (im weitesten Sinne) seien Teil der europäischen Identität geworden und, wie allerdings auch die Hinterfragung dieser Entwicklung, legitimatorisch in der Aufklärung verwurzelt. Die Wahrnehmung fremder Kulturen ist dabei nicht einheitlich, sondern durchaus differenziert, man unterscheide zwischen näheren und ferneren Kulturen, letztere in Richtung „Primitivität“, und diese Klischees gelten heute noch. Dabei seien die rationale Klassifizierung und die emotionale Einordnung keineswegs kongruent, sondern können sich auch geradezu umgekehrt proportional zueinander verhalten (China: hohe Kultur, aber „gelbe Gefahr“; auf der anderen Seite das Klischee des „edlen Wilden“). Die Aufklärung an der Schnittstellte zwischen frühem und späterem Kolonialismus sei in ihrer Relativierung des europäischen Wissens von der Welt ein Resultat der europäischen Expansion, habe aber auch, janusgesichtig, den Eurozentrismus neu begründet. Herr Hiery unterschied auch inhaltlich zwischen den beiden Kolonialismen. Der erste habe die indigenen Kulturen weitgehend zerstört, zum Teil absichtlich, zum Teil unabsichtlich, wobei letzteres, nämlich die Verbreitung von Krankheiten, auch unter der Lupe der neuesten Forschung noch einmal zu überdenken sei, da es offenbar auch eine intentionale Verbreitung von Krankheiten gegeben habe (Crosby). Andererseits gab es neben der radikalen Missionierungsabsicht aber auch Tendenzen synkretistischer Vermischung. Die Aufklärung stelle mit dem ihr eigenen universellen Anspruch sowohl die eigenen alten christlichen Werte in Frage als auch die fremder Kulturen, sie richte sich somit gegen die Spiritualität (Religion) in ihrer eigenen wie in den fremden Kulturen und betrachte den Rationalismus als spezifisch europäische Entwicklung. Hieraus ergibt sich eine Spannung, so war das zu verstehen, durch den (scheinbaren) Widerspruch zwischen europäischer Exklusivität und universalistisch-diffusionistischem Anspruch. Als ein bleibendes Resultat der Globalisierung bilanzierte Herr Hiery, dass aus geschlossenen Gesellschaften offene wurden.

In der anschließenden Diskussion ging Herr Han auf den nationalistischen Aspekt des neuen Selbstbewusstseins in Korea ein. Es gäbe in der jeweiligen Wahrnehmung des Anderen in den Schulbüchern eine große Diskrepanz: Aus einer von ihm unternommenen Schulbuchanalyse gehe hervor, dass ein Anteil von ca. 30 Prozent des Inhalts koreanischer Schulgeschichtsbücher europäischer Geschichte gelte, aber umgekehrt Asien entsprechend nur zu ca. 3 Prozent in deutschen Schulbüchern thematisiert werde. Auf die Kritik aus dem Publikum an einer zu einseitigen Interpretation der Aufklärung als Legitimationsinstanz für Eurozentrismus und Kolonialismus und der entsprechenden Unterbewertung der kolonialkritischen Autoren (Condorcet, Kant…) entgegnete Hiery, ihm sei der kritische Aspekt wohl bewusst, und zitierte dabei aus Kants „Zum ewigen Frieden“. In der Gesamteinschätzung sehe er aber eine Parallele zwischen der Kritik der Aufklärung am alten spirituell geprägten Weltbild in Europa (Christentum) und der Kritik an der spirituellen Identität anderer Kulturen mit den daraus folgenden Konsequenzen dieser rationalistischen Sicht. Insgesamt stehe aus der Sicht der Kolonisierten der europäische Kolonialismus als sehr ähnlich da und die Unterschiede seien kaum relevant. In welcher Weise und in welchem Maße wurden und werden jedoch europäische Werte in anderen Teilen der Welt übernommen? Singapur z.B. sei vordergründig ein westlich geprägter Staat, legte Herr Hiery dar, lehne aber die Werte der Aufklärung ab. Auf der anderen Seite gäbe es jedoch auch einen intrinsischen Widerspruch zwischen dem Universalismusanspruch der Aufklärung und dem ebenfalls postulierten Selbstbestimmungsrecht der Völker. Wie weit dürfe letzteres gehen? Die Übernahme des europäischen bzw. angloamerikanischen Modells des Parlamentarismus halte er nicht für eine unabdingbare Voraussetzung für die Anerkennung des Anderen.

Im zweiten Teil der Sektion traten didaktische Perspektiven in den Vordergrund. HILKE GÜNTHER-ARNDT (Berlin), URTE KOCKA (Berlin) und JUDITH MARTIN (Berlin )verwiesen auf die mögliche Umsetzung globaler Sichtweisen im Unterricht an fünf Beispielen:
- Der 17. Juni 1953 als globales Phänomen im Zusammenhang des Kalten Krieges
- Regionalgeschichte (Industrialisierung) „im glokalen Blick“ (global-lokale Verknüpfung)
- Das Rittertum im Vergleich (z. B. Samurai)
- Sklaverei in globalen Bezügen
- Klimaglobale Auswirkungen auf das menschliche Verhalten

Eine globalgeschichtliche Orientierung bedeutet nicht Beliebigkeit, sie erfordert vielmehr eine sorgfältige Ausbildung von Kompetenzen des historischen Denkens und zwar sowohl von historischen Begriffen, Kategorien und Konzepten als auch von historischen Methoden: Begriffs- und Strukturierungskompetenz liefern den Rahmen für historisches Denken, in dem sich Kompetenzen und kategoriales Wissen verbinden. Hier wurde eine Hierarchisierung von Konzepten ersten Ranges (Staat, Bürger, Minderheit…), zweiten Ranges (Zeit, Raum, Quelle, Beweis, Ursache, Erklärung…) zum thematischen Wissen auf der dritten Stufe (zum Beispiel Imperialismus) vorgestellt. Wenn damit ernst gemacht wird, eröffnet sich angesichts der vielen Defizite ein weites Arbeitsfeld (Bildungspläne, zentrale Abiturthemen und Schulgeschichtsbücher). Während es in einigen Bundesländern in den Lehrplänen für Sek. I neue Ansätze zu globalgeschichtlichen Perspektiven gäbe, kritisierten die Referentinnen auf der anderen Seite die Verengung der thematischen Perspektiven in der Oberstufe durch die Vorgaben des Zentralabiturs. Dort sei Globalgeschichte zwar nicht als solche enthalten, werde aber auch nicht unmöglich gemacht. In den Lehrbüchern bilde die westliche Zivilisation immer noch das Kerncurriculum, außereuropäische Länder würden meist bezugslos thematisiert, also nicht im Rahmen eines globalgeschichtlichen Konzepts, mit Ausnahme des „Kursbuch Geschichte“ (Oberstufe). Möglichkeiten einer individuellen globalgeschichtlichen Akzentsetzung auch durch die einzelne Lehrkraft sehen die Referentinnnen durch den Spielraum im Rahmen des Anforderungsbereichs III. Ein realistisches Ziel könne daher in der „Globalisierung der Nationalgeschichte“ bestehen.

MATTI MÜNCH (Rottweil) stellte das von den Mitgliedern der AG Globalgeschichte des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) erarbeitete Quellenheft vor1.. Dabei werden gängige Themen (z.B. die Verkehrs- und Kommunikationsrevolution, Industrialisierung, Migration, Weltwirtschaftskrise) in globaler Perspektive und unter globalen Fragestellungen behandelt. Die Materialien ermöglichen den Schülern Einblicke in weltweite Zusammenhänge und Verflechtungsprozesse, die aus nationaler Perspektive allein schwer verständlich wären. An kulturellen Globalisierungsphänomenen lässt sich besonders deutlich die Attraktivität von Globalgeschichte für die Schüler zeigen. Abschießend wurde noch einmal betont, dass die Integration von Globalgeschichte in den Geschichtsunterricht in vielfältiger Weise möglich sei, von der Neuperspektivierung ausgewählter klassischer Themen bis hin zur „Big History“, die den ganzen Geschichtsunterricht globalgeschichtlich ausrichten will. Für alle Ansätze aber gilt: Der Blick auf die Geschichte muss sich vor dem Hintergrund gegenwärtiger Phänomene ändern. Dies erfordert bei allem Beteiligten ein Umdenken: an der Universität, in der Schulverwaltung, in der der Lehrerausbildung, bei den Verlagen und vor allem im Geschichtsunterricht selbst.

Sektionsübersicht:

Hans Woidt (Tübingen): Einführung und Leitung

Unsuk Han (Seoul): Globalisierung aus asiatischer Sicht

Hermann J. Hiery (Bayreuth): Globalisierung aus europäischer Sicht

Hilke Günther-Arndt (Berlin) – Urte Kocka (Berlin) – Judith Martin (Berlin): Globalgeschichte im Unterricht (Theorie und Praxis)

Matti Münch (Rottweil): Globalgeschichte im Unterricht (Themen und Materialien)

Anmerkung:
1 Werner Abelein, Wolfgang Geiger, Bernd-Stefan Grewe, Globale Perspektiven im Geschichtsunterricht. Quellen zur Geschichte und Politik, Stuttgart 2010.