Politisches Kartieren. Kartengebrauch in Mittelalter und Neuzeit

Politisches Kartieren. Kartengebrauch in Mittelalter und Neuzeit

Organisatoren
Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Werner Freitag, Institut für vergleichende Städtegeschichte, Universität Münster; Ute Schneider, Universität Duisburg-Essen; Martina Stercken, Universität Zürich
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.08.2010 - 02.09.2010
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Von
Stefan Fuchs, Universität Zürich

Vom 30. August bis 02. September 2010 fand die dritte interdisziplinäre Sommerakademie im Bereich der historischen Forschung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster statt und zum wiederholten Mal war das Institut für vergleichende Städtegeschichte Gastgeber der Veranstaltung. Unter dem Titel „Politisches Kartieren“ nahm sie sich zum Ziel, Karten aus Mittelalter und früher Neuzeit auf ihre Aussagedimensionen als historische Quellen hin zu befragen. Ausgehend von der These, dass Karten nicht einfach mehr oder weniger vollkommene Abbilder geographischer Tatsachen sind, sondern „unter dem Mantel der natürlichen Ordnung der Dinge“1 spezifische Wissensordnungen und soziale Kräfteverhältnisse ihres Entstehungsumfeldes reflektieren, standen die politischen Gebrauchsformen kartographischer Artefakte im Fokus: ihre Möglichkeiten und Grenzen als Medien der Inszenierung politischer Programme, als Träger territorialer Ansprüche und nicht zuletzt auch als Instrumente von Herrschaft und Verwaltung. Besonderer Wert wurde dabei darauf gelegt, Karten nicht isoliert, sondern im Kontext ihrer je spezifischen Herstellungs- und Überlieferungsbedingungen zu betrachten. Einen reichen Fundus an Anschauungsmaterial konnte das Institut für vergleichende Städtegeschichte zur Verfügung stellen.

MARTINA STERCKEN (Zürich) und UTE SCHNEIDER (Essen) führten anhand zweier zeitlich wie inhaltlich sehr unterschiedlicher Beispiele in die Thematik ein: der mittelalterlichen Hereford Map, die Ende des 13. Jahrhunderts hergestellt wurde einerseits, und einer Karte der Niederlande aus einer frühen Ausgabe von Abraham Ortelius' „Theatrum orbis terrarum“, der erstmals 1570 in den Druck ging andererseits. In Gruppenarbeiten stellte sich deutlich heraus, dass beiden Quellenbeispielen „politisch“ zu nennende Inhalte eingeschrieben sind, der mittelalterlichen Weltkarte ebenso wie der frühneuzeitlichen Regionalkarte: auf der Hereford Map fiel insbesondere eine in der Umrahmung der Karte dargestellte legendenhafte Szene auf, die den römischen Kaiser Augustus drei Landvermesser ausschicken lässt, die ihm die drei der Antike bekannten Kontinente beschreiben sollen. Aktualität für seine eigene Zeit stellte der Kartenzeichner dadurch her, dass er den römischen Kaiser mit päpstlichen Attributen versah und somit nicht nur die Kartenherstellung in einen religiös-klerikalen Rechtfertigungszusammenhang rückte, sondern auch die Idee einer päpstlichen Kaisernachfolge implizierte. Auch bei Ortelius' kartographischer Aufnahme der Niederlande erwies sich gerade der Blick auf das „Beiwerk“ der Karte als aufschlussreich. Der Begleittext ist es nämlich, der den politischen Fokus der Karte explizit hervorhebt: nicht „Flandern“ oder „ganz Niderland“ will Ortelius darstellen, sondern die „17 Herrschafften unnd Gebiete“ der habsburgischen Dynastie. Auch die visuellen Darstellungsmöglichkeiten der Karten selbst wurden, wie sich in der weiteren Diskussion zeigte, politisch genutzt. Die Hereford Map etwa rückt Jerusalem ins exakte Zentrum des Erdenrundes und macht damit christliche Ansprüche auf die Stadt geltend, während die Karte des Ortelius die einzelnen Herrschaftsgebiete der Niederlande in unterschiedlicher Kolorierung darstellt. Gerade der letztere Fall machte aber auch deutlich, wie sehr bei der Zuschreibung politischer Aussagen von Karten die konkreten Herstellungskontexte quellenkritisch berücksichtigt werden müssen: war doch die Kolorierung in der Frühzeit des Buchdruckes eine dem Druck nachträglich, oft unabhängig ausgeführte Arbeit, die nicht immer den Intentionen des ursprünglichen Kartographen zu entsprechen brauchte, sondern unter anderem auch den Wünschen des Verlags bzw. der Rezipienten unterlag.

UTE WARDENGA (Leipzig) präsentierte die Ergebnisse des interdisziplinären Projektes „Kartenproduktion als Weltbildgenerierung“ am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig. Am Beispiel des wissenschaftlichen Verlages Justus Perthes in Gotha, dessen „Mittheilungen“ in der Zeit der Mitarbeit des Kartographen August Petermann (1855-1884) für die wissenschaftliche Geographie ein Publikationsorgan von europäischem Rang waren, zeichnete sie die komplexen, von vielen „außerwissenschaftlichen“ Faktoren beeinflussten Transferprozesse geographischen Wissens nach: vom Entdeckungsbericht über die Auswahlverfahren des Editors und die darstellerischen Erwägungen des Kartographen bis hin zur gedruckten Karte. Dabei das kartographische Produkt als Ergebnis eines sozialen Aushandlungsprozesses darstellend und insofern den Konstruktionscharakter der zu Papier gebrachten geographischen Tatsache betonend, stellte sie dennoch als Ergebnis fest, dass die Kartographen des Verlags Perthes großen Wert auf die intersubjektive Nachvollziehbarkeit ihrer Karten legten – gewährleistet durch Mitabdruck der Quellen und oft sehr ausführlicher Berichte zur Kartenherstellung.

PETER HASLINGER (Gießen) zeigte eindrücklich die Nutzung von Karten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als visuelles Transportmittel für politische Intentionen. Er erläuterte dies anhand mehrerer tschechischer und deutscher Beispiele, wobei deutlich wurde, dass je nach Produzent mit verschiedenen Mitteln, wie der Kolorierung, die Wahl des Ausschnitts etcetera, dem Rezipienten ein bestimmtes Bild vermittelt werden sollte. Dies geschah allerdings nicht willkürlich, sondern unterstützte bereits bestehende Meinungen, wie er unter anderem am Beispiel der Furcht der Tschechen vor einer möglichen „Germanisierung“ thematisierte. Karten waren ein Mittel, politische Diskurse in Bilder zu fassen, aber auch um politische Ansprüche, ob berechtigt oder unberechtigt, zu visualisieren. Dabei ist unbestritten, dass die Karten stark emotional aufgeladen waren. Haslinger erläuterte, dass bei einigen dieser „politischen“ Karten eine „Publikationstradition“ feststellbar sei, die sich anhand der Häufigkeit ihrer Verwendung sowie ihrer Vervielfältigungsrate zeige. Er verdeutlichte, dass sich mit Hilfe von Karten nahezu jede politische Botschaft visualisieren lasse und dass neben den Karten auch immer die schriftlichen Quellen sowie die Sekundärliteratur im Blick behalten werden sollten.

Im Rahmen einer Einführung in die kartographische Praxis erläuterten DIETER OVERHAGEBÖCK (Münster) und BENJAMIN HAMANN (Münster), wie der Entstehungsprozess von der Idee bis zur fertigen Karte ablaufe, von der Vermessung der Erdoberfläche über die eigentliche Kartographie bis hin zur drucktechnischen Verarbeitung sowie der schlussendlichen Anwendung bzw. des Gebrauchs der fertigen Karte. Dabei gaben sie auch Einblicke in den zeitlichen Wandel innerhalb der Kartographie, unter anderem in Bezug auf die Genauigkeit der Vermessung moderner Karten und damit einhergehend die technischen Innovationen. Sie stellten unterschiedliche Kartentypen sowie die Werkzeuge ihrer Tätigkeit vor. Sie verdeutlichten, dass bei der Kartenerstellung immer die Frage der „Lesbarkeit“ im Vordergrund stehe. Anhand des Beispiels der Stadt Braunschweig wurde abschließend erläutert, wie zukünftig dem Nutzer Karten, unter Einsatz digitaler Medien und Programme, interaktiv und dynamisch zur Verfügung gestellt werden können.

Anhand des Behaim-Globus, des ältesten erhaltenen Erdglobus aus dem Jahr 1492, erläuterte GÜNTHER GÖRZ (Erlangen) das Projekt einer digitalen Stellenerschließung aller wichtigen hoch- und spätmittelalterlichen Weltkarten.2 Die Erstellung einer umfassenden Datenbank, die sämtliche geographischen Orte, aber auch Inschriften und Miniaturen der aufgenommenen Karten umfasst und miteinander verknüpft, soll künftig komplexe digitale Anfragen ermöglichen, die für verschiedenste kulturhistorische Problemstellungen von Interesse sind. So werde es nicht zuletzt auch möglich sein, politische Symbole wie beispielsweise Wappen oder Herrscherdarstellungen auf Karten zu lokalisieren und untereinander zu vergleichen.

Unter dem Oberthema „Grenzziehung und Grenzkonflikte“ lud WERNER FREITAG (Münster) zu einer halbtägigen Exkursion in das östliche Münsterland ein. Er erläuterte anhand verschiedener Beispiele vor Ort die unterschiedlichen Varianten von Grenzen und mögliche daraus resultierende Konflikte. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf die Kirchhöfe, die eine Grenze zwischen dem profanen und dem sakralen Raum ziehen, sowie den Stadthagen, der die Grenze der Stadt im rechtlichen Sinne markierte. Dabei erklärte er nicht nur die Nutzung der Orte in ihrem ursprünglichen Entstehungskontext, sondern auch ihre Umnutzungen und neuen Bedeutungszusammenhänge.

Zwei Sitzungen waren der Arbeit mit Karten im Archiv gewidmet, wozu das Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen in Münster freundlicherweise seine Bestände zur Verfügung stellte. Unter der Leitung von UTA KLEINE (Hagen) und CHRISTIAN LOTZ (Stuttgart) bearbeiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sommerakademie in Gruppen diverse Karten des 15. bis 17. Jahrhunderts, worunter sich neben umfassenderen Regionalkarten auch Aufnahmen lokaltopographischer Gegebenheiten befanden. Besonderer Wert wurde in allen Fällen auf die Erschließung der jeweiligen Herstellungskontexte gelegt, wobei trotz der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit einige wichtige Aufschlüsse gewonnen werden konnten. So zeigte sich etwa, dass gerade klein- und kleinsträumige Lokalkarten oft im Verlauf von Gerichtsprozessen entstanden, dass auf ihnen also Gebiete beansprucht, Streitfälle ausgehandelt und aufgezeichnet wurden. Es wurde aber auch deutlich, dass der jeweilige Status der Karte im Verfahren kein einheitlicher war und dass nur eine genaue Untersuchung der zugehörigen Akten Aufschluss darüber geben kann, ob es sich bei einer Karte um eine bloße Skizze, ein Beweisstück oder um eine überparteiliche Aufnahme lokaler Gegebenheiten handelt.

PETER JOHANEK (Münster) verdeutlichte anhand des Werkes von Johannes Gigas sowie weiterer Beispiele den Zusammenhang zwischen Kartographie und Herrschaft im ausgehenden Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Dabei zeigte er konkret anhand der Karten, wie Herrschaft mit Hilfe von Symbolen und schriftlichen Einfügungen auf diesen verortet wurde. Er verdeutlichte, dass nicht nur die „reine“ Karte im Fokus der Aufmerksamkeit stehen darf, sondern dass auch dem Bildprogramm um die Karte herum die nötige Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Bei dem Großteil der vorgestellten Karten, wie auch der Pauluskarte von Gigas handelte es sich um anthropomorphe bzw. theriomorphe Darstellungen, mit deren Hilfe unter anderem auch ein jeweiliger Herrschaftsanspruch verdeutlicht werden konnte. Diese Art der Verortung von Herrschaft war allerdings kein genuines Phänomen der Epochengrenze, sondern tauchte bereits im Frühmittelalter auf und zog sich bis in die Neuzeit.

Die Schlussdiskussion unter der Leitung von Martina Stercken betonte noch einmal die Vielschichtigkeit der Karte als historische Quelle. Karten besäßen keine Evidenz: sie einfach als „transparente“ Medien der Darstellung geographischer Räume zu betrachten, bedeute eine Verkürzung der Perspektive. Eine moderne „Fortschrittsgeschichte“ der Kartographie vom Mittelalter in die Gegenwart zu schreiben, greife daher zu kurz. Karten seien vielmehr als vielseitige, Schrift und Bild vereinende Wissensträger aufzufassen, deren Darstellungsmöglichkeiten gerade auch für politische Botschaften verschiedenster Art genutzt würden. Auf die Relevanz des politischen und sozialen Kontextes für die Kartenproduktion wurde noch einmal nachdrücklich hingewiesen. Karten dokumentierten einen sozialen Umgang mit Raum, dessen Regeln für jeden einzelnen Fall neu zu rekonstruieren sind. Zu guter Letzt hoben mehrere Teilnehmerinnen und Teilnehmer hervor, dass ihnen die viertägige Auseinandersetzung mit historischen Karten aller Art einen Zugewinn an „Sehfähigkeit“ beschert habe. Gerade für viele Studierende der Geschichtswissenschaften bedeutet der Umgang mit Karten Neuland, da im Fokus der Aufmerksamkeit nach wie vor schriftliche Quellen stehen. Die verschiedenen Formen der Wissensvermittlung – Vorträge, Exkursion und Gruppenarbeit - erleichterten den Zugang zu dieser Materie. Karten werden ebenso wie Bilder nach wie vor zu unkritisch „gelesen“. Die Tagung ermöglichte es den Teilnehmern daher, ihre methodische Kompetenz weiter auszubauen. Die Kenntnis der zahlreichen bildlichen, schriftlichen und schriftbildlichen Möglichkeiten, die Karten zur Darstellung politischer Programme und Ansprüche böten, werde sie, so ihr Fazit, bei der weiteren Arbeit mit oder an Karten begleiten.

Konferenzübersicht:

Werner Freitag (Münster): Begrüßung

Ute Schneider (Essen), Martina Stercken (Zürich): Kriterien politischen Kartierens I, Gemeinsame Textlektüre

Ute Wardenga (Leipzig): Kriterien politischen Kartierens II, Geographical Thought

Martina Stercken (Zürich): Politische Kartographie im Mittelalter – Diskussion am Beispiel der Hereford Map (um 1300)

Ute Schneider (Essen): Länder konzipieren – Diskussion am Beispiel von Abraham Ortelius' Karte der Niederlande (1571)

Peter Haslinger (Gießen): Nationalstaatliche Karten – Diskussion am Beispiel tschechischer Territorialkarten 1880-1938

Dieter Overhageböck (Münster), Benjamin Hamann (Münster): Kartenmachen – Karten(h)erstellung am Institut für vergleichende Städtegeschichte

Günther Görz (Erlangen): Zur semantischen Tiefenerschließung mittelalterlicher Kartographie. Das Beispiel des Behaim-Globus von 1492

Werner Freitag (Münster): Exkursion zu Grenzziehung und Grenzkonflikten im östlichen Münsterland

Uta Kleine (Hagen), Christian Lotz (Stuttgart): Gruppenarbeit an ausgewählten Materialien des Staatsarchivs Münster

Peter Johanek (Münster): Johannes Gigas' Pauluskarte (ca. 1621)

Anmerkungen:
1 Christian Jacob, The Sovereign Map. Theoretical Approaches in Cartography throughout History, Chicago 2006 (frz. 1992), S. 370.
2 mappae: Kognitive Karten des Mittelalters. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. <http://www8.informatik.uni-erlangen.de/mappae> (27.09.2010).


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