Die Begegnung mit Fremden in ihrer Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein

Die Begegnung mit Fremden in ihrer Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein

Organisatoren
Institut für Europäische Geschichte, Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.07.2010 - 24.07.2010
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Von
Ramona Lenz, Zentrum für Mittelmeerstudien, Ruhr-Universität Bochum

Den Einfluss von Fremdheitserfahrungen auf das Geschichtsverständnis näher zu beleuchten, war das Ziel eines internationalen Kolloquiums, das unter dem Titel „Die Begegnung mit dem Fremden in ihrer Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein“ vom 22. bis 24. Juli 2010 am Institut für Europäische Geschichte in Mainz stattfand. Entgegen soziologischer Ansätze, die von einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit infolge von Migrationsprozessen ausgingen, stellten die Veranstalterinnen Judith Becker (Mainz) und Bettina Braun (Mainz) das durch Fremdheitserfahrungen möglicherweise veränderte Geschichtsverständnis in den Mittelpunkt, das nicht nur Gegenwarts- und Zukunftsvorstellungen betreffe, sondern auch die Vergangenheit in einem anderen Licht erscheinen lassen könne, wie Braun in ihrer Einführung erklärte.

Die beiden Eröffnungsvortragenden versuchten, den Umgang mit Fremden in ein Ordnungsschema zu bringen. Auf der Grundlage seines systemtheoretischen Verständnisses der Selbstbeobachtung von Gesellschaften machte RUDOLF STICHWEH (Luzern) fünf verschiedene Weisen aus, auf die sich die Selbstbeschreibung von Gesellschaften in der Begegnung mit Fremden vollziehe. Er identifizierte 1. Gesellschaften, die nicht in der Lage oder bereit seien, Fremde als Fremde zu erkennen, was Stichweh als Ausnahme von der ansonsten universal gültigen These verstand, dass es in jeder Gesellschaft Beschreibungen von Begegnungen mit Fremden gebe; 2. Gesellschaften, die Fremde in ihrer Beunruhigungsqualität erkannten und sie durch Töten, Vertreiben oder Inkorporieren zum Verschwinden brächten; 3. stratifizierte Hochkulturen der letzten Jahrtausende, die im Unterschied zu den unter 1 und 2 beschriebenen tribalen Gesellschaften Fremde als Lückenfüller in bestimmten Rollen einsetzten. In Bezug auf die Bedeutung von Fremdheit in der Gegenwart lassen sich ihm zufolge zwei gegenteilige Diagnosen formulieren: Zum einen (4.) könne man von einer Universalisierung der Fremdheit sprechen, insofern Individualisierungsprozesse jede/-n zum/zur Fremden machten. Zum anderen (5.) sei jedoch auch die These vom Verschwinden der Fremdheit plausibel, da Differenz in der extrem pluralen Weltgesellschaft der Gegenwart zu einer Universalie geworden sei.

Ähnlich wie Stichweh versuchte auch THEO SUNDERMEIER (Heidelberg), verschiedene Verhaltensformen gegenüber Fremden allgemeingültig zu kategorisieren. Er unterschied drei Weisen der Wahrnehmung von und des Umgangs mit Fremden: 1. Fremde werden als Feind/-innen angesehen und dabei nicht einmal unbedingt als Menschen. 2. Fremde, die bestimmte Rollen erfüllen, werden toleriert, beispielsweise als Händler/-innen mit begrenzten Rechten. 3. Fremde, die nur wenige Tage bleiben, genießen Gastrecht. Diese drei Umgangsweisen entsprechen Sundermeier zufolge theoretisch dem Alteritätsmodell, dem Komplementaritätsmodell und dem Gleichheitsmodell. Letzteres werde insbesondere von Verfechtern und Verfechterinnen des Multikulturalismus vertreten, die die Gleichheit aller Menschen betonten. Ihm hingegen sei „die Würde der Differenz“ wichtig, und er ziehe den Begriff der Konvivienz dem des Multikulturalismus vor.

Die folgenden Vorträge veranschaulichten anhand ganz unterschiedlicher Fallbeispiele, die von Lateinamerika bis China reichten und den Zeitraum vom 16. bis zum 20. Jahrhundert umfassten, dass der Umgang mit Fremdheit und ihre Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein sich nur eingeschränkt durch abstrakte Modelle erfassen lassen. Im Gegensatz zu den theoretischen Modellen, die Aussagekraft für gesamtgesellschaftliche oder gar universale Umgangsweisen mit Fremdheit beanspruchen, verdeutlichten die empirisch fundierten Ansätze, die sich mit bestimmten sozialen Gruppen in klar umrissenen historischen Kontexten befassten, wie heterogen und vielschichtig Fremdheitserfahrungen, der Umgang mit Fremden und die Konsequenzen für das eigene Geschichtsverständnis sein können.

CARSTEN SCHLIWSKI (Köln) und KERSTIN ARMBORST-WEIHS (Mainz) konzentrierten sich in ihren Vorträgen über jüdische Intellektuelle gar auf einzelne historische Personen und arbeiteten am Einzelfall die gesellschaftliche Relevanz heraus. Schliwski beschäftigte sich mit dem Leben des Historiographen Joseph ha-Kohen (1496-1577), das er als typisch für das Leben eines jüdischen Intellektuellen im Exil begriff, und zeigte, wie die Erfahrung von Vertreibung und Fremdheit in dessen historiographisches Werk eingeflossen ist. Die Verwendung der hebräischen Sprache in ha-Kohens Zusammenstellung der Verfolgungen von Juden und Jüdinnen deutete Schliwski als Versuch, die jüdische Identität zu bewahren.

Um die Bewahrung jüdischer Identität ging es auch im Vortrag von Armborst-Weihs. Am Beispiel des jüdischen Schriftstellers und Rechtsanwalts Sammy Gronemann, der als Zionist Anfang des 20. Jahrhunderts den „Ostjudenkult“ gepflegt habe, verdeutlichte sie, wie sich die in Deutschland verbreitete Vorstellung von den Juden und Jüdinnen in Osteuropa als rückständig infolge der direkten Begegnung zwischen deutschen und osteuropäischen Juden und Jüdinnen im Ersten Weltkrieg veränderte. Fortan sei es im Westen zu einer Glorifizierung des stark religiös geprägten jüdischen Lebens in Osteuropa gekommen und die Juden und Jüdinnen in Osteuropa seien als Hüter und Hüterinnen der jüdischen Tradition im Gegensatz zu den assimilierten Juden und Jüdinnen im Westen begriffen worden.

Auch VIVIANE ROSEN-PREST (Paris) zeigte, wie sich Geschichtsschreibung durch Begegnung verändern kann. Anhand von fünf Beispielen aus drei Jahrhunderten legte sie dar, wie sich das Bild der Hugenotten und Hugenottinnen in historiographischen Werken wandelte. Galten die Hugenotten und Hugenottinnen in der Zeit, als man in Deutschland noch mit den Problemen ihrer Aufnahme beschäftigt war, als arme Flüchtlinge, so wurden sie später zu „Lehrern der Nation“ oder gar „Werkzeugen der Germanisierung“ erklärt.

Ein Schwerpunkt des Kolloquiums lag auf der Rolle christlicher Missionare und Missionarinnen. Die verschiedenen Vorträge zu diesem Thema kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, was im Falle der christlichen Mission den Einfluss der Begegnung mit Fremden auf das Geschichtsbewusstsein anbelangt. Sowohl HACIK RAFI GAZER (Erlangen) als auch JUDITH BECKER (Mainz) stellten Forschungen zur Basler Missionsgesellschaft im 19. Jahrhundert vor. Während Gazer die Tätigkeit der Missionare und Missionarinnen im Kaukasus beschrieb, zeigte Becker anhand ihrer Analyse von zwischen 1828 und 1840 erschienenen Ausgaben des Evangelischen Heidenboten Zusammenhänge auf zwischen der Begegnung mit Fremden und dem Geschichtsbewusstsein der Missionare und Missionarinnen. Sie kam zu dem Ergebnis, dass das geschlossene Welt- und Geschichtsbild der Missionare und Missionarinnen kaum Irritationen zugelassen habe. Sowohl Missionserfolge als auch -misserfolge seien als Beweise für die nahende Endzeit gewertet worden. ENO BLANKSON IKPE (Lagos) beleuchtete die andere Seite der christlichen Mission und verdeutlichte, dass die Ankunft der Europäer/-innen in Ost-Nigeria in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Geschichtsbewusstsein der Ibibio, einer am Niger-Delta angesiedelten nigerianischen Minderheit, entscheidend beeinflusst hat. Entgegen der verbreiteten Ansicht, dass Missionare und Missionarinnen in erster Linie Werkzeuge des Imperialismus und Kolonialismus gewesen seien, hob Ikpe hervor, dass die Ibibio sich mit großer Wertschätzung an die Begegnung mit christlichen Europäer/-innen erinnerten, weil sie mit grausamen kultischen Praktiken wie Zwillingsmorden und Menschenopfern aufgeräumt hätten.

Mit der wechselseitigen Beeinflussung zwischen der Geschichtsschreibung der europäischen Kolonialmächte und der der indigenen Bevölkerung beschäftigten sich MARET KELLER (Heidelberg) und ANJA BRÖCHLER (Köln). Keller verglich die Anfang des 17. Jahrhunderts verfassten Geschichtswerke über Peru des indigenen Autors Felipe Guaman Poma de Ayala und des baskischen Mercedarier-Mönchs Martín de Murúa. Mehr als realgeschichtliche Informationen böten die Werke Einblicke in das Erkenntnisinteresse bezüglich des jeweils Anderen. Während der baskische Autor sich vorwiegend für die untergegangene Kultur der Inka interessiert habe, sei es dem indigenen Geschichtsschreiber in erster Linie darum gegangen, die andine Geschichte gleichberechtigt in die Weltgeschichte zu integrieren. Nachdem sie zeitweilig zusammengearbeitet hätten, hätten sich die beiden Autoren schließlich überworfen.

Bröchler verdeutlichte am Beispiel der im Florentiner Codex (1578-80) dargestellten Eroberung Mexikos von Bernardino de Sahagún die Bedeutung der Einführung eines neuen Schriftsystems durch die Spanier/-innen, das die vorwiegend orale und visuelle indigene Geschichtsschreibung transformiert habe. Im zwölften Buch des Florentiner Codex’, das in der indigenen Sprache Nahuatl verfasst ist und durch spanische Übersetzungen und Illustrationen ergänzt wird, dienten die von Indigenen gezeichneten Bilder – anders als Sahagún vermutlich gedacht habe – nicht nur der Illustration des Textes, sondern brächten eine zusätzliche, durchaus subversive Dimension in die Erzählung von der Eroberung Mexikos ein.

Eng verbunden mit Reisen, die zwecks Kolonisierung oder Mission unternommen wurden, waren Reisen, die dem Erwerb von Wissen über Fremde dienten. Oft gingen die Reisemotive ineinander über. FELIX WIEDEMANN (Berlin) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der ambivalenten Repräsentation von Beduinen und Beduininnen in den Berichten europäischer Reisender des 19. Jahrhunderts, die er als „komplexes Netzwerk von Projektionen und Identifikationen“ begriff. SIMON MILLS (London) zeigte am Beispiel der Reiseberichte von zwei Geistlichen, die zugleich Gelehrte waren und Ende des 17. Jahrhunderts im Auftrag der englischen Levant Company die Levante bereisten, wie das von ihnen gesammelte Wissen zu einem historischen Verständnis der biblischen Texte bei englischen Protestanten und Protestantinnen beitrug. JEFFREY JAYNES (Ohio) untersuchte anhand von vier Beispielen aus dem 15. und 16. Jahrhundert, wie Reiseerfahrungen und insbesondere die Begegnung mit afrikanischen Christen und Christinnen in frühmoderne Kosmographien einflossen. Und DOMINIK COLLET (Göttingen) beschäftigte sich am Beispiel der von Reisen mitgebrachten Dinge dreier Personen im Umfeld der Kunstkammer Gotha mit der Repräsentation von „fremden Dingen“ in frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern. Er zeigte unter anderem, wie aufgrund der Parallelisierung des exotisch Fremden mit der eigenen, europäischen Vergangenheit letztere zunehmend als fremd empfunden wurde. Die These, dass sich frühneuzeitliche Kunst- und Wunderkammern im Gegensatz zu Kolonialmuseen durch einen offeneren und respektvolleren Umgang mit dem Fremden auszeichneten, wies Collet zurück.

Welche Rolle der Export „fremder Dinge“ für das Herkunftsland spielen kann, verdeutlichte JAN P. JOHANNSON VIG (Stockholm) am Beispiel Chinas in der Zwischenkriegszeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gegen die Praxis westlicher Archäologen und Archäologinnen, ihre Funde mit nach Hause zu nehmen, formierte sich in dieser Zeit zunehmend Widerstand von im Westen ausgebildeten chinesischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. Dies interpretierte Johannson Vig als Kampf um die Definitionsmacht über das, was China ist und sein soll. Die Kontrolle über die historischen Quellen sei zentral für den Nationsbildungsprozess in China gewesen.

Beendet wurde die Tagung mit einem Vortrag von WALTER JAESCHKE (Bochum) über die Bedeutung des Fremden für Hegels Denken und einem Schlusskommentar von WOLFGANG REINHARD (Erfurt), der sich auf der Tagung eine stärkere Beschäftigung mit multiplen Identitäten und Fremdheiten gewünscht hätte und meinte, dass Xenophobie ein unvermeidbares universales Phänomen sei, was er mit Verweis auf eine Studie aus der Hirnforschung unterstrich. Die differenzierten, auf geisteswissenschaftlichen Methoden beruhenden Vorträge der Tagung lassen hingegen keine Schlussfolgerungen von universaler Reichweite zu. Ihr Verdienst liegt vielmehr in der kleinteiligen Ausleuchtung der vielschichtigen und häufig widersprüchlichen Bedeutung, die die Begegnung mit Fremden oder das eigene Fremdsein für das Geschichtsbewusstsein haben können.

Konferenzübersicht:

Heinz Duchhardt (Mainz):
Begrüßung

Judith Becker, Bettina Braun (Mainz):
 Einführung; Präsentation der BMBF-geförderten Nachwuchsgruppe:
Transfer und Transformation der Europabilder evangelischer Missionare im Kontakt mit dem Anderen, 1700–1970. Geisteswissenschaftliche Nachwuchsgruppe: Europa von außen gesehen.

Leitung: Judith Becker (Mainz); Moderation: Irene Dingel (Mainz)

Rudolf Stichweh (Luzern): Die Begegnung mit Fremden und die Selbstbeobachtung von Gesellschaften

Theo Sundermeier (Heidelberg):
 Begegnung mit dem Fremden. Plädoyer für eine Hermeneutik des Vertrauens

Der Fremde im eigenen Land
Moderation: Thomas Weller (Mainz)

Maret Keller (Heidelberg):
 Geschichte und aktueller Status der indigenen Andenbevölkerung in den Chroniken M. Murúas (1616) und G. P. Ayalas (1615)

Anja Bröchler (Köln): 
Bilder/Schreiben/Geschichte: Die Conquista im Geschichtsbewusstsein der Nahuas im kolonialen Mexiko

Moderation: Heinz Duchhardt (Mainz)

Jan P.J. Vig (Stockholm):
Discovering history in China

Eno Ikpe (Lagos):
 Those obnoxious cultures: European encounters with Ibibio people of eastern Nigeria (1880–1960)

Fremd im anderen Land
Moderation: Johannes Wischmeyer (Mainz)


Judith Becker (Mainz): 
Die Christianisierung fremder Völker – ein Zeichen für die nahende Endzeit?

Hacik Rafi Gazer (Erlangen):
 Die Basler Missionsgesellschaft in Schuschi (Arzach/Karabach) 1824–1838 Begegnung der Armenier mit den deutschen Missionaren aus der Schweiz

Moderation: Lucian Hölscher (Bochum)

Carsten Schliwski (Köln):
 Joseph ha-Kohen (1496–1577) als Historiograph im Exil

Kerstin Armborst-Weihs (Mainz):
 Westjüdische Wahrnehmungen jüdischer Lebenswelten im Osten

Moderation: Bettina Braun (Mainz)

Viviane Rosen-Prest (Paris): Willkommene Fremde? Hugenottische und deutsche Geschichtsschreibung über Franzosen im deutschen Refuge, 17.–19. Jahrhundert

Rezeptionen von Erfahrungen mit Fremden

Simon Mills (London): The Chaplains to the English Levant Company: Exploration and biblical scholarship in 17th and 18th century England

Moderation: Silke Strickrodt (London)

Felix Wiedemann (Berlin):
 Heroen der Wüste und Kulturzerstörer. Zur Repräsentation der Beduinen in kulturhistorischen Narrativen des 19. Jahrhunderts

Jeffrey Jaynes (Ohio):
 African Christians, Christians visiting Africa: the Early Modern Narrative Cosmographics from Breydenbach to al-hassan Ibn Muhammad al-Wazzan (Leo Africanus)

Moderation: Achim Landwehr (Mainz)

Dominik Collet (Göttingen):
Von der exotischen zur historischen Fremdheit.»„Fremde Dinge« in Kunst- und Wunderkammern

Walter Jaeschke (Bochum):
Vom ruhigen Ufer der Selbstsucht zur Selbsterkenntnis des Geistes. Hegels Begegnung mit den Kulturen des Orients

Wolfgang Reinhard (Erfurt):
Schlusskommentar


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