Die Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich. Geschichte, Akteure und archivische Überlieferung (1871–1918)

Die Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich. Geschichte, Akteure und archivische Überlieferung (1871–1918)

Organisatoren
Das Politische Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA), Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.08.2010 -
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Von
Holger Berwinkel, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin

Zu den ausgeprägt föderalen Merkmalen der Verfassung des Kaiserreiches gehörten die weit reichenden außenpolitischen Befugnisse der Bundesstaaten. Insbesondere das aktive und passive Gesandtschaftsrecht stand neben dem Reich auch den Ländern zu. Wie die Länder ihren außenpolitischen Bewegungsspielraum ausnutzten, wurde von der diplomatiegeschichtlichen Forschung bislang wenig beleuchtet. Das Politische Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA) nahm sich dieser Frage deshalb im Rahmen eines Kolloquiums zu seinem 90-jährigen Bestehen an. Am 3. August 1920 hatte das Auswärtige Amt sein damals noch so genanntes Hauptarchiv eingerichtet. Als Ressortarchiv, das die Akten des deutschen Auswärtigen Dienstes seit 1867 bzw. 1871 verwahrt, stellt es seitdem eine Besonderheit unter den deutschen Staatsarchiven dar.1

Anhand von Fallbeispielen sollten drei Aspekte untersucht werden: Die Geschichte der Außenpolitik und der Diplomatie der Länder, die Organisation der dafür zuständigen Auswärtigen Dienste und die heutige archivische Überlieferungslage. Mit über 70 Teilnehmern vor allem aus Archiven, universitärer Forschung, Presse und Diplomatie konnte eine erfreuliche Resonanz auf dieses Vorhaben registriert werden.2

Zur Eröffnung der wissenschaftliches Kolloquiums aus Anlass des 90. Gründungstages des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts, das im Besucherzentrum des Auswärtigen Amts stattfand, hob der Leiter der Zentralabteilung des Auswärtigen Amts HARALD BRAUN (Berlin) die gleichermaßen politische und kulturelle Bedeutung des Politischen Archivs als des Gedächtnisses der deutschen Außenpolitik hervor. Das im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen für jedermann zugängliche Archiv stehe auch für den transparenten Umgang des Auswärtigen Amts mit der eigenen Vergangenheit. Im Anschluss führte der Leiter des Politischen Archivs LUDWIG BIEWER (Berlin) in das Thema der Tagung ein.

Die Außenpolitik der Länder wird nur vor dem Hintergrund der Reichsaußenpolitik verständlich, den GREGOR SCHÖLLGEN (Erlangen) in seinem einleitenden Vortrag unter dem Titel „Gefangen im Erfolg“ erhellte: Die 1871 begründete halbhegemoniale Stellung des Reiches sei instabil und das deutsche Sicherheitsbedürfnis nicht mit dem Gleichgewicht der Großmächte vereinbar gewesen. Bereits Bismarck sei gezwungen gewesen, von seinen ursprünglichen außenpolitischen Maximen abzurücken und sich auf eine Verwicklung in die Orientalische Frage und das kolonialpolitische Abenteuer von 1884/85 mit seinen belastenden Folgen im Verhältnis zu Großbritannien einzulassen. Seine Nachfolger hätten sich trotz eines neuen außenpolitischen Stils, dem die alte Berechenbarkeit gefehlt habe, nicht aus dem Schatten der Vorgaben Bismarcks lösen können. Das grundsätzliche Optionsproblem, auf das Bismarck mit dem Geflecht seiner teilweise widersprüchlichen Bündnisverträge zu reagieren versucht habe, sei mit der Annexionskrise von 1908 endgültig für eine einseitige Bindung an Österreich-Ungarn entschieden worden. Angesichts der als solche wahrgenommenen Einkreisung des Reiches, die auch als Selbstauskreisung betrachtet werden könne, habe sich die Reichsleitung 1914 vor die Wahl gestellt gesehen, entweder Bismarcks Werk in Richtung auf eine volle Hegemonie offensiv zu vollenden oder dessen Zerschlagung durch die anderen Großmächte in Kauf zu nehmen.

Die Vormittagssektion wandte sich, moderiert von HOLGER BERWINKEL (Berlin), sodann dem engeren Thema der Tagung und hier zunächst den beiden – nach Preußen – „großen“ noch diplomatisch aktiven Ländern zu. Über das Königreich Bayern, das 1870 außenpolitische Reservatrechte hatte durchsetzen können, referierte GERHARD HETZER (München). Die Aufrechterhaltung von Teilen des Netzes bayerischer Gesandtschaften und Konsulate nach der Reichsgründung habe vor allem der demonstrativen Behauptung bayerischer Selbstständigkeit gedient. Der in der Reichsverfassung vorgesehene Bundesratsausschuss für die Auswärtigen Angelegenheiten, in dem Bayern der Vorsitz zukam, sei hingegen bedeutungslos geblieben. Umgekehrt hätten Frankreich und Russland versucht, durch die Beibehaltung oder Aufwertung ihrer Gesandtschaften in München die Karte der bayerischen Souveränität im preußisch dominierten Reich zu spielen. Das Ministerium des Königlichen Hauses und des Äußern als präsumtive Schaltzentrale bayerischer Außenpolitik sei dabei personell schwach besetzt und durch die Zuweisung sachfremder Aufgaben zusätzlich belastet gewesen. Erst ab 1916 habe die bayerische Außenpolitik wieder an Dynamik gewonnen, die sich in einer eigenen Kriegszielpolitik und der Entsendung eines Vertreters zu den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk geäußert habe. Die außenpolitischen Bestände im Bayerischen Hauptstaatsarchiv deckten das Ministerium und die Auslandsvertretungen ab, wobei für die zahlreichen Honorarkonsulate eine insgesamt mangelhafte Aktenführung festzustellen sei. Einen Schwerpunkt der Überlieferung bildeten die Akten des Gesandten in Berlin und Bundesratsbevollmächtigen, die als historische Quelle auch deshalb bemerkenswert seien, weil dieser Posten 38 Jahre lang, bis 1918, durch denselben Diplomaten, Graf Lerchenfeld, ausgefüllt worden sei. Bereits unmittelbar nach der Novemberrevolution seien die ersten Dokumente aus den bayerischen diplomatischen Akten veröffentlicht worden.

JÖRG LUDWIG (Dresden) trug für Sachsen einen Befund mit deutlichen Parallelen vor: Wieder habe das Beharren auf einem eigenen diplomatischen Apparat der ostentativen Behauptung von Restsouveränität gedient, wobei die Unterhaltskosten allerdings zum Anlass parlamentarischer Auseinandersetzungen zwischen konservativen Befürwortern und liberalen und sozialdemokratischen Kritikern geworden seien. Der Arbeitsalltag an den verbliebenen Gesandtschaften innerhalb Deutschlands und in Wien sei – entsprechend der eher symbolischen Bedeutung dieser Posten – in der Regel mehr vom gesellschaftlichen Leben als von politischer Gestaltung geprägt gewesen. Das 1831 eingerichtete Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten sei nach der kurzlebigen Reaktivierung sächsischer Außenpolitik unter dem Ministerpräsidenten von Beust personell schwach besetzt geblieben. Die Gesandtschaft in Berlin sei aber zum Instrument der Verfolgung innenpolitischer Ziele Sachsens im Reich geworden. Die Eingliederung Sachsens in den Norddeutschen Bund habe daher weniger eine Zäsur als eine Umwandlung der klassischen zu einer innerdeutschen Außenpolitik bedeutet. Diese Entwicklung habe archivisch in den größtenteils bereits mit Online-Findmitteln erschlossenen Beständen des Ministeriums und der Gesandtschaften Berlin, Darmstadt, Karlsruhe, München, Stuttgart, Weimar und Wien im Hauptstaatsarchiv Dresden einen reichhaltigen und differenzierten Niederschlag gefunden.

Die von MARTIN KRÖGER (Berlin) moderierte Nachmittagssektion eröffnete Frau Professor ANTJEKATHRIN GRAßMANN (Lübeck). Das Beispiel der Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen ließ einen grundsätzlichen anderen, handelspolitisch geprägten Blick auf die Unterhaltung eigener Auslandsbeziehungen der Länder erkennen. Zwischen 1825 und 1865 hätten die drei Städte mehr als 20 Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträge abgeschlossen; wegen des protokollarischen Vorranges Lübecks als ältester ehemaliger Reichsstadt seien diese Verträge im dortigen Stadtarchiv hinterlegt worden. Die hanseatischen außenpolitischen Interessen seien bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes durch ein weit gespanntes Netz von Honorarkonsuln, meistens in der Fremde ansässigen Kaufleuten, wahrgenommen worden. Die Überführung des Konsularwesens auf den Bund bzw. das Reich habe man daher als Verzicht verspürt, wobei die Reaktionen in den Hansestädten differenziert ausgefallen seien. Effektiv habe dies jedoch keinen Verlust bedeutet, da die neuen Berufskonsulate des Bundes bzw. Reiches über bessere operative Möglichkeiten verfügt und das außenpolitische Gewicht des neuen Nationalstaates das der unabhängigen Stadtstaaten bei weitem überstiegen hätten. Erfahrungen aus der konsularischen Praxis der drei Städte seien dabei in den Aufbau des neuen Konsularwesens eingeflossen.

An diese Fallbeispiele schloss sich eine problemorientierte Untersuchung der Tragfähigkeit des „Systems der zwei Ebenen“ von Reichs- und Länderaußenpolitik an, für die SEBASTIAN DAMM (Berlin) den Indikator des Krieges als Belastungsprobe heranzog. Der Vergleich dokumentierte das Arrangement der Länder mit dem weit gehenden Verlust ihres außenpolitischen Spielraums: 1867 habe Hessen während der Luxemburger Krise trotz der anteiligen Mitgliedschaft im Norddeutschen Bund und seiner Militärkonvention mit Preußen noch ein militärisches Zusammengehen mit Frankreich erwogen; 1870 habe die nationale Stimmung die anfängliche Irritation der Länder wegen der Kriegsgefahr rasch überwogen. Eine fatalistische Haltung zu den auswärtigen Angelegenheiten habe die Länder schließlich in den Ersten Weltkrieg hineinschlittern lassen. Die Zustimmungsbedürftigkeit eines Angriffskrieges gemäß der Reichsverfassung sei eine Formsache gewesen; auch in der Kriegszielpolitik sei die Rolle der Länder marginal geblieben. Erst in der Spätphase des Krieges sei im Gefolge der bayerischen Präsenz in Brest-Litowsk und der „Luxburg-Affäre“ die bayerische und sächsische Außenpolitik reaktiviert sowie in den Hansestädten eine Neuausrichtung der Reichsaußenpolitik gefordert worden. Solche Bruchlinien in dem für das Kaiserreich charakteristischen „System der doppelten Außenkompetenz“ hätten auftreten können, wenn und soweit spezifische Interessen der Länder von der Politik des Reiches abgewichen seien. Zum Ausbruch aus diesem System hätten den Ländern militärische wie diplomatische Mittel zur Verfügung gestanden.

MARTIN KRÖGER (Berlin) kehrte zum Anlass des Kolloquiums zurück und erhellte die Gründungsgeschichte des Politischen Archivs in den Jahren 1918 bis 1920. Diese sei eng verbunden gewesen mit groß angelegten Dokumentenveröffentlichungen aus den Akten des Auswärtigen Amts: unter der Revolutionsregierung zunächst im Zeichen der innerstaatlichen Aufklärung der Verantwortung für den Kriegsausbruch, dann im Kampf gegen die so genannte „Kriegsschuldlüge“. Die Sammlung, Auswertung und Publikation von Unterlagen, zunächst für die durch Karl Kautsky angestoßene Edition zum Kriegsausbruch, dann für die monumentale Reihe „Die Große Politik der europäischen Kabinette“, die in 54 Teilbänden binnen sechs Jahren erschien, habe als Grundlage einer geordneten Überlieferungsbildung und eines professionellen Archivbetriebs bedurft. Die Ordnung der von der Registratur abgegebenen Bestände im Archiv sei nach Territorien erfolgt und habe die politischen Umbrüche in Europa nach dem Versailler Vertrag in der archivischen Bestandsbildung – allerdings inkonsequent – nachvollzogen.

Zum Abschluss zog JOHANNES FREIHERR VON BOESELAGER (Berlin) ein Resümee der ertragreichen Tagung. An alle Vorträge schloss sich jeweils eine engagierte Diskussion an. Es gelang, die versammelten Fallstudien in Beziehung zueinander zusetzen. Historische Parallelen und Sonderentwicklungen erschlossen sich Referenten wie Diskutanten ebenso wie aktuelle Bezüge, etwa zur weiteren Entwicklung der nationalen Diplomatie im Verhältnis zu dem im Aufbau befindlichen Europäischen Auswärtigen Dienst. Auch wurden Forschungsdesiderate benannt, etwa Spezialuntersuchungen zu einzelnen Auslandsvertretungen der Länder oder prosopographische Studien zu ihrem diplomatischen Korps; es sei darauf hingewiesen, dass sich mit dem vom Auswärtigen Amt herausgegebenen Biographischen Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945 ein Referenzprojekt derzeit der Fertigstellung nähert. Den Veranstaltern bleibt zu hoffen, mit diesem Kolloquium einen Impuls zur weiteren Bestellung eines wichtigen Forschungsfeldes gegeben zu haben. Die Drucklegung des Tagungsbandes ist für 2011 vorgesehen.

Konferenzübersicht:

Harald Braun (Berlin): Eröffnung

Ludwig Biewer (Berlin): Einführung

Gregor Schöllgen (Erlangen): Deutsche Außenpolitik 1871–1918

Gerhard Hetzer (München): Auswärtige Politik als deutscher Bundesstaat: Das Königreich Bayern

Jörg Ludwig (Dresden): Sächsische Außenpolitik 1871–1918: Grundzüge, Behördenorganisation und Archivbestände

Antjekathrin Graßmann (Lübeck): Das Ende souveräner hanseatischer Außenpolitik seit 1867 – nur ein Verzicht?

Sebastian Damm (Berlin): Landesaußenpolitik unter Waffen

Martin Kröger (Berlin): Zur Gründung des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts

Anmerkungen:
1 Nähere Informationen unter www.diplo.de/archiv (09.09.2010).
2 Vgl. Die Welt vom 31. Juli 2010 und Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. August 2010.


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