5. Studientag Literatur und Wissenschaftsgeschichte

5. Studientag Literatur und Wissenschaftsgeschichte

Organisatoren
Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Freie Universität Berlin; Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte; Exzellenzcluster 16, Universität Konstanz
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.07.2010 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Hense, Institut für Deutsche und niederländische Philologie, Freie Universität Berlin; Uta Schürmann, Friedrich Schlegel Graduiertenschule, Freie Universität Berlin,

Im fünften Jahr in Folge luden das Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin, das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und das Exzellenzcluster 16 der Universität Konstanz am 10. Juli 2010 zu einem für alle Interessierten offenen Forum für Nachwuchswissenschaftler/innen ein, die sich im Feld von Literature and Science betätigen und vorläufige Ergebnisse noch nicht abgeschlossener Arbeiten zur Diskussion stellen wollten. Organisation und Durchführung des seit 2006 jährlich am MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, stattfindenden Studientages lagen wieder bei Jutta Müller-Tamm und Johanna Bohley (FU Berlin), Christina Brandt und Fabian Krämer (MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin) sowie Bernhard Kleeberg (Uni Konstanz).

Der Beitrag von ULRIKE KRUSE (Göttingen) befasste sich mit „Natur als Gegenstand und Metapher in der Hausväterliteratur vom späten 16. bis zum späten 18. Jahrhundert“ und stellte vor allem am Beispiel der Bienenkunde die Vermittlung von Naturobjekten als Topoi heraus, wobei vorgeprägte Aspekte auf traditionelle Weise besprochen würden. Die Hausväterliteratur behandele Natur sowohl als Gegenstand von Ökonomie und Naturkunde, ziehe sie aber auch als Metapher zur Erklärung von Welt heran und leiste durch den Wechselbezug dieser Aspekte gleichermaßen die Belehrung, Unterweisung und Erbauung des zeitgenössischen Lesers. URSULA PAINTNER (Berlin) wies in ihrem Kommentar darauf hin, dass Welterklärung in der Frühen Neuzeit per anologiam funktioniere, Mikro- und Makrokosmos sich gegenseitig erklärten. Die Topik diene vor allem zur Strukturierung und Handhabbarmachung von Wissen und stelle Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Wissengebieten her. Die naturkundliche und metaphorische Betrachtung von Natur sei im Hinblick auf die Vermittlung von Orientierungswissen logisch miteinander verknüpft und stehe nicht in einem Entweder-Oder-Verhältnis. Die Diskussion konzentrierte sich auf die Frage, wie die festgestellte historische Ausblendung von neuen Erkenntnissen zu interpretieren und differenzieren sei: hingewiesen wurde hier auf das (meta-)ökonomische Selbstverständnis der Gattung, auf ihre Ausrichtung auf ein spezielles Publikum, auf Wissenshierarchien, auf veränderte Verständnisse von Beobachtung und sich transformierende Evidenzerzeugungs- und Beglaubigungsstrategien, und es wurde betont, dass bei der Generierung von Wissen fließende Übergänge und Verschiebungen und die Diskurspraxis zu beachten seien.

Das Projekt PASCAL SCHILLINGS’ (Köln) wurde vorgestellt unter dem Beitrag: „Die Exotisierung der Antarktis. Die Antarktis im europäischen Blick. Antarktisvorstellungen 1772–1914“. Er befasste sich mit dem Verhältnis von wissenschaftlicher und fiktionaler Literatur am Gegenstand von Erzählungen der Nimrod-Expedition sowie insbesondere anhand der Frage, welche Techniken und Praktiken der Durchdringung, Erfassung und Darstellung herangezogen wurden angesichts der physischen und psychischen Herausforderungen einer derart monotonen Eislandschaft. Die Anwendung von Exotismen (im Sinne von Otheringstudien und Orientalismusdebatten) sei ein auf beiden Seiten gewählter Ausweg aus der linguistic poverty, aus dem Mangel an Repräsentierbarem und an Darstellungscodes. CHRISTINA BRANDT (Berlin) verwies in ihrem Kommentar darauf, dass hier nach einer anderen Exotisierungstradition gesucht werden müsse, da Exotisierung als Umgang mit einem (vermeintlich) Anderen am Natur-Kultur-Verhältnis festgemacht würde, Kultur in der Antarktis aber fehle. Gerade das Phantastische und seine intertextuelle Geschichte um 1900 stehe hier in einem direkten Bezug, ebenso das Verhältnis der Antarktis zu den historischen Diskursen um nationale Identitäten. Jenseits des motivischen Vergleichs machte sie auf gemeinsame strukturelle Schreib- und Erzählweisen aufmerksam und problematisierte die dichotomische Unterscheidung von wissenschaftlicher und fiktionaler Literatur gegenüber vielfältigeren Formen des Erzählens. Wissenschaftliche Objektivität gäbe es so nicht, wurde in der Diskussion angeschlossen. In Bezug auf die Sprachlosigkeit betonte man zudem die ästhetische Tradition des Erhabenen und hob das Unsagbare der Antarktis damit vor allem als Topos und gezielte Darstellungsstrategie um 1900 heraus. Überdies wurde unter anderem auf vielfältige Aspekte der Körperlichkeit und auf nichtsprachliche Techniken und Probleme der Eroberung hingewiesen.

PRIYANKA BASU (Los Angeles) untersuchte in ihrem Beitrag „Kunstwissenschaft and the ‚Primitive’: Excursions in the History of Art History, 1880–1925“ die Funktion des Konzepts des Primitiven für die junge Kunstgeschichte um 1900 an Schriften von Dessoir, Grosse, Worringer, Riegl und anderen. Die Konfrontation mit einem neuen Typus von nichteuropäischen Kulturobjekten habe zur Neudefinition einer Kunstwissenschaft und ihres Gegenstandsbereich geführt, die einerseits mit einer Suche nach den Ursprüngen der Kunst und einem ursprünglichen Kunsttrieb und andererseits mit einer psychophysisch orientierten „Ästhetik von unten“ einhergehe. In ihrem Kommentar differenzierte NICOLA GESS (Berlin) eine genealogische von einer ontologisch-ungeschichtlichen Auffassung ursprünglicher Kunst um 1900, verwies auf den zur Kunstgeschichte parallelen Ursprungsdiskurs in Musikwissenschaft und Philologie und fragte nach dem historischen Verhältnis zum Primitivismus in den bildenden Künsten, welcher sich sowohl als Versuch einer neuen wesentlichen Kunst als auch als Dekonstruktion der Vorstellung vom Primitiven interpretieren lasse. Die Diskussion führte insbesondere die im Kommentar erbrachten Hinweise auf die historische Engführung von paläoanthropologischen und physiologischen Argumentationen weiter und unterstrich zum einen den Übergang vom kantianischen Kunstverständnis zur darwinistischen Auffassung. Zum anderen wurde eine deutliche Unterscheidung in der Auffassung von Kunst und Kunstmachen bzw. Produktion und Rezeption bemüht – sowohl im Hinblick auf die Tradition der Zivilisationstheorie und der idealistischen Morphologie als auch im Hinblick auf die Helmholtz-Schule der Kunstwahrnehmung und auf jene Evolutionstheorien, die Kunstwahrnehmung und -produktion zusammendenken.

Das Projekt „Der forensische Detektivroman: Gegen die Fiktion schreiben“ von INGRIDA POVIDISA (München) forderte erneut zur Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität heraus. Die Tatsache, dass die Autoren forensischer Detektivromane selbst Wissenschaftler und somit auch Autoren rein faktualer Sachbücher seien sowie die Rahmung der Detektivromane mit Paratexten, die für die überprüfbare Wissenschaftlichkeit des Geschriebenen einstehen, erschafften laut Povidisa ein kontributives Netzwerk. Dieses Netzwerk umspanne über die engen Grenzen des Romans hinaus verschiedenste Co-Texte und bewirke dadurch eine „Hybridisierung literarischer Genres und Wissensordnungen“. In einer weiteren Gegenbewegung werde der Roman zum kompensatorischen Raum forensischer Wissenschaft. ACHIM SAUPE (Potsdam) konzentrierte sich in seinem Kommentar zunächst auf das Zusammenspiel und die Gegenbewegungen von Fakt und Fiktion innerhalb des kontributiven Netzwerks. Er warf die grundsätzliche Frage auf, wie Wissenschaftlichkeit sich eigentlich selbst legitimiert und schlug in diesem Zusammenhang vor, wissenschaftliche Texte nach narrativen Mustern zu untersuchen. So gebe es als Gegenstück zum Fiktionspakt vielleicht auch einen wissenschaftlichen oder faktualen Kontrakt (mögliches Signalelement wäre hier etwa die Fußnote). Weitere Überlegungen widmeten sich der zeitlichen Dimension des forensischen Detektivromans, der sich auf die Deutung des Vergangenen konzentriere, während beispielsweise der Profilerroman eine Form der Zukunftsdeutung verkörpere. In dieses Feld der Vergangenheitsstruktur forensischer Literatur gehörte auch Saupes Frage nach den Gegenständen – die man als Dinge einer Material Culture kennzeichnen kann –, welche die Protagonisten deuten würden: Was heiße es für unsere Gesellschaft, dass Erkenntnis aus Überresten und materiellen Dingen gewonnen werde? Die Diskussion verhandelte verschiedene gattungsspezifische Fragen; so legte Povidisa dar, dass der klassische Begriff des Detektivromans, und nicht etwa der weiter gefasste Begriff des „Krimis“, deshalb in ihrem Projekt verwendet werde, weil es in den von ihr untersuchten Texten um die ‚alte Formel‘ der Detektiverzählung gehe, nämlich um den hermeneutischen Prozess des Spurenlesens sowie das intellektuelle Spiel der Aufklärung.

VERONIKA THANNER (Berlin) stellte mit ihrem Beitrag „Der gefährliche Ort – Poetologien von Gefahr im 19. Jahrhundert“ eine Verbindung literarischer und kriminalistischer Texte vor, die sie vor allem am Beispiel Karl Gutzkows und einer „Poetik des polizeilichen Blicks“ beleuchtete. Ausgehend vom Diskurs des gefährlichen Menschen, der sich in einer parasitären Form der Tarnung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bewege und als „gefährlicher Durchschnittsmensch“ in der „Welt seiner Opfer“ unsichtbar bleibe, entwickle Gutzkow sein „Konzept des ‚vermischten Charakters’“. Diesen Figurentypus, der um 1850 Kriminologie, Statistik und Literatur beschäftigte, näherte Thanner dem Konzept von „Mimikry und Mimese als spezifischer Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Erzählweise im Modus der Gefahr“ an. Tarnung, Spurlosigkeit und Durchschnittlichkeit würde in Gutzkows Texten nicht aufgedeckt und geordnet, sondern im Gegenteil nachgeahmt werden, um eine „tückische Textur des Realen“ zu erzeugen; seine Literatur fungiere als „Mimikry zweiter Ordnung, in Gestalt einer Nachahmung von Imitationsprozessen“. INGRID KLEEBERG (Berlin) griff die Begriffe der Mimikry und Mimese auf, um diese in ihren jeweiligen evolutionsbiologischen und historischen Verwendungsweisen noch einmal zu differenzieren. In diesem Zusammenhang schlug sie vor, die beiden Termini durch die der simulatio und dissimulatio zu ersetzen. Parallel zu Saupes Bemerkungen der entgegengesetzten zeitlichen Dimensionen im Genre des Wissenschaftskrimis pointierte Kleeberg das konträre Verhältnis von Nähe und Ferne der Wissensfelder Spurensicherung und Statistik: Während der Kriminalist mit der Lupe das Detail untersuche, nehme der Statistiker die Makro-Perspektive ein und arbeite nach dem Gesetz der großen Zahl. Die Diskussion konzentrierte sich auf Fragen nach den verschiedenen Konzepten des Realismus, die in Thanners Beitrag vor allem an den gegensätzlichen Poetiken Gustav Freytags und Karl Gutzkows behandelt wurden und welche sich in einem Spannungsfeld von Ordnung und Chaos, Hierarchisierung und Vielfältigkeit sowie Makro- und Mikro-Perspektive bewegten.

Auch in LUKAS MAIRHOFERs (Wien) Projekt „A-tom und In-dividuum. Als Bertolt Brecht in Heisenbergs Mikroskop blickte“ wurde ein – metaphorischer – Blick durchs Mikroskop getan. Bertolt Brecht habe ein Phänomen der Quantenmechanik auf die „soziale Welt“ übertragen: „Nämlich dass sich der Beobachter in den beobachteten Prozess einschaltet, ihn stört und in ihn eingreift.“ Wie die hier thematisierte Heisenbergsche Unschärferelation literarisiert und die Quantenmechanik allgemein in Brechts Werk eingegangen sei, entwickelte Mairhofer anhand seiner zentralen These, dass eine strukturelle Analogie bestehe „zwischen dem Atom in der Quantenmechanik und dem Individuum bei Bertolt Brecht.“ CHRISTIAN JOAS (Berlin) hob die sehr explizit ausgearbeitete Wechselwirkung zwischen Kultur und Wissenschaft hervor; außerdem sei es ein ambitionierter Anspruch des Projekts, die Quantenmechanik auf einem populären Niveau zu vermitteln. Joas ermunterte dazu, nicht nur die Quantenmechanik ins Zentrum zu stellen, sondern nach weiteren naturwissenschaftlichen Einflüssen in Brechts Werk zu suchen, die sich bereits in den von Mairhofer vorgestellten Textstellen andeuteten, wie Thermodynamik, Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. Generell wäre es lohnend, die Historizität der Diskurse noch deutlicher zu schärfen, vor allem in den Fragen, mit welchen Wissenschaftlern sich Brecht konkret auseinandergesetzt habe, auch zwischen Heisenbergs und Bohrs Beiträgen zur Quantenmechanik müsse differenziert werden. In der Diskussion tat sich unter anderem das für die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Literatur und Wissen virulente Problem der Darstellungs- und Vermittlungspotentiale populärwissenschaftlichen Schreibens auf. So stellte sich in diesem Zusammenhang auch die generelle Frage, worauf das Erkenntnisinteresse eines Projekts im Bereich der literature and science-Forschung abziele: Gehe es um einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte? Oder können hier innovative Ansätze für die Literaturwissenschaft gewonnen werden?

Konferenzübersicht:

Ulrike Kruse, Göttingen: Natur als Gegenstand und Metapher in der Hausväterliteratur vom späten 16. bis zum späten 18. Jahrhundert

Pascal Schillings, Köln: Die Exotisierung der Antarktis. Die Antarktis im europäischen Blick. Antarktisvorstellungen 1772–1914

Priyanka Basu, Los Angeles: Kunstwissenschaft and the ‚Primitive’: Excursions in the History of Art History, 1880-1925

Ingrida Povidisa, München: Der forensische Detektivroman: Gegen die Fiktion schreiben

Veronika Thanner, Berlin: Der gefährliche Ort – Poetologien von Gefahr im 19. Jahrhundert. Karl Gutzkow auf der Spur des gefährlichen Menschen

Lukas Mairhofer, Wien: A-tom und In-dividuum. Als Bertolt Brecht in Heisenbergs Mikroskop blickte.

Kontakt

Martin Hense <hense@germanistik.fu-berlin.de>
Freie Universität Berlin
Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften
Institut für Deutsche und
Niederländische Philologie
Habelschwerdter Allee 45
14195 Berlin

Uta Schürmann <uta.schuermann@fu-berlin.de>
Freie Universität Berlin
Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien
Habelschwerdter Allee 45
14195 Berlin


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