Frauen- und Geschlechterforschung in der Historischen Pädagogik

Frauen- und Geschlechterforschung in der Historischen Pädagogik

Organisatoren
Pia Schmid, Institut für Pädagogik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ort
Wittenberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.06.2010 - 26.06.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Nadine Humpert / Karla Verlinden, Universität Köln

Unter der Leitung von Prof. Dr. Pia Schmid trafen sich am 25. und 26. Juni 2010 in Wittenberg bereits zum neunten Mal historisch arbeitende Erziehungswissenschaftler/innen zu einer Arbeitstagung. In jeweils 25minütigen Vorträgen mit anschließender Kommentierung und Diskussion wurden insgesamt sieben Forschungsprojekte und Qualifizierungsarbeiten vorgestellt, die sich in unterschiedlichen Stadien befinden.

Die Tagung wurde eröffnet durch die aufeinander bezogenen Vorträge von KATJA LISSMANN (Halle) und JESSIKA PIECHOCKI (Halle) mit dem gemeinsamen Titel „Geschlechtsspezifische Schreibsituationen? Bedingungen des Korrespondierens in Pietismus und Bürgertum“. Anhand von Briefen aus dem frühen Pietismus und dem entstehenden Bürgertum legten sie den Fokus ihrer Vorträge auf spezifisch weibliche Schreibsituationen. Dabei wurde zunächst der theoretische Rahmen vorgestellt, um dann in einem zweiten Schritt das ‚kulturelle Setting’ zu erläutern, in dem die Korrespondenzen entstanden. Anschließend wurden die Schreibsituationen der historischen Subjekte anhand der Briefe analysiert.

Lißmann stützte sich in ihrer Untersuchung „’mit flüchtiger feder…’: Schreibsituationen im frühen Pietismus (1692-1704)“ auf die Briefkorrespondenz zwischen Anna Magdalena von Wurm und Sophia Maria von Stammers. Während von Stammers sich Gelegenheiten schuf, in denen sie in Zurückgezogenheit und Ruhe Briefe schreiben konnte, thematisierte von Wurm dagegen in ihren Briefen den Zeitmangel, die Eile und Unterbrechungen der Schreibmöglichkeiten. Beide Formen des pietistischen Schreibens erfüllten eine zentrale Funktion in der Subjektkonstitution: sie dienten dazu, sich als Mitglieder der pietistischen Gemeinschaft zu konstituieren.

Im Vortrag von Jessika Piechocki mit dem Titel „’Von Menschen umgeben…’. Schreibsituationen in den Briefen von Wilhelmine und August Hermann Niemeyer (1779-1847)“ standen die Korrespondenzen zwischen dem Ehepaar Niemeyer im Fokus der Analyse. Aufgrund ihres geselligen Lebens wurde das Ehepaar in seinem Schreiben häufig unterbrochen. Durch die Angaben von Zeiten und Räumlichkeiten nehmen die Verfasser/innen – so Piechocki – Bezug auf den Vorgang des Schreibens an sich, wodurch die Adressatinnen und Adressaten in die Lebenswelt mit einbezogen werden sollten. Im Rahmen des Briefeschreibens konnten sich Frauen und Männer als bürgerliche Subjekte produzieren. Aufgrund des überlieferten Quellenmaterials ließen sich allerdings keine verallgemeinernden Aussagen zur Geschlechtsspezifik von Schreibsituationen ausmachen, so das Resümee von Piechocki und Lißmann.

PIA SCHMID (Halle) beschrieb in ihrem Vortrag das Wirken der sozialen Innovatorin Amalie Sieveking (1794-1859), die sich im Zuge des gesellschaftlichen Aufbruchs von 1848 in Hamburg der sog. „Lösung des Armutsproblems“ verschrieben hatte. Durch diesen Beitrag leitete sie in das Themengebiet „Soziale Arbeit“ ein, dem sich anschließend noch zwei weitere Vorträge des Tages widmeten. Schmid fokussierte in ihren Ausführungen die christlich motivierte Wohltätigkeit Sievekings, die nicht nur der besseren Versorgung der Armen dienen, sondern insbesondere auch die „Klassenversöhnung“, die durch die Systematisierung und Rationalisierung der Armenfürsorge an Brisanz gewonnen hatte, hervorbringen sollte. In dem darauf folgenden Plenumsgespräch wurde vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Sievekings „Liebe im Geiste des Glaubens“ ihrem Wunsch nach einer Einordnung und „Klassifizierung“ der Armen und Hilfsempfangenden diskutiert.

WALBURGA HOFF (Erfurt) stellte in ihrem Beitrag zur „Entwicklung von Sozialer Arbeit als Disziplin“ einen Zusammenhang zwischen Sozialer Arbeit und empirischer Sozialforschung aus einer historiographischen Perspektive her. Dabei ging sie von der These aus, dass dieses Zusammenspiel als Anfang einer Disziplinentwicklung Sozialer Arbeit interpretiert werden kann, wofür die frühen empirischen Forschungen im Kontext bürgerlicher Sozialreform von zentraler Bedeutung sind. Diese Entwicklung stellte sie als eine doppelte Bewegung dar: Die empirischen Studien, die sich mit der Lebenswelt der arbeitenden Klassen befassen und die zur Lösung der Problemlagen beitragen sollten, werden als Voraussetzung sowohl für die Entwicklung sozialer Arbeit als Disziplin wie auch als Motor der Entstehung quantitativer und qualitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung interpretiert. Hoff legte hier ein besonderes Augenmerk auf die Rolle und Position von Frauen als „Wanderinnen zwischen Welten“, die durch praktische Tätigkeiten und Erfahrungen die männlich dominierte Welt der Akademie bereicherten.

Ebenso wie Walburga Hoff, ging DAYANA LAU (Halle) in ihrem Vortrag „Social Case Work in Being: Empirische Sozialforschung und Soziale Arbeit bei Mary E. Richmond (1861-1928)“ von der These aus, dass sich in den USA systematische Wohlfahrtspflege und Methoden empirischer Sozialforschung als sich wechselseitig beeinflussende Ereignisse entwickelt haben, und dass sich diese gemeinsame Entwicklung als Begründungsfigur für die Disziplin „Soziale Arbeit“ lesen lasse. Dieses Zusammenspiel machte sie an den zwei großen Bewegungen (der Charity Organization und der Settlement Bewegung) systematischer Wohlfahrtspflege Ende des vorletzten Jahrhunderts in den USA deutlich. Lau zeigte vergleichend, wie sich jeweils eigene Formen der empirischen Sozialforschung entwickelten und inwiefern sich die normativen Zielsetzungen und das empirische Vorgehen der Bewegungen unterschieden. Das vorgestellte Thema fand großen Anklang im Plenum und wurde vor allem mit Blick auf die neue Lesart der Richmond-Quellen (besonders die Einzelfallstudien, so genannte „case records“, scheinen ‚ertragreich’ zu sein) als lohnendes, engagiertes Projekt angesehen.

KIRSTEN BROMBERG (Magdeburg) stellte ihr geplantes Projekt „Akademische Welten im Wandel“ mit dem Focus auf das „Berufliche Handeln von Hochschullehrenden zwischen Intentionalität und Indexikalität“ vor. Dabei möchte sie ihren Blick mit Hilfe von 16 Vergleichskriterien auf verschiedene Akteursperspektiven von Organisation und Profession richten. Über zwei Sammelwerke zur historischen Betrachtung von akademischen Lebenswelten näherte sich Bromberg über den Zeitraum vom 18. bis zum 20. Jahrhundert den beruflichen Identitätsdimensionen und versuchte dabei die jeweils historisch gültigen Bedingungen für das berufliche Handeln der akademischen Profession zu identifizieren und systematisch zueinander in Beziehung zu setzen. Die anschließende Diskussion widmete sich vor allem dem als zu groß befundenen Untersuchungszeitraum sowie der als Quellen herangezogenen Sammelbände zur Universitätsgeschichte, die sich aus zu vielen unterschiedlichen Theorien zusammensetzen und die eine Verschiebung bzw. Neubestimmung der Kategorien erforderten.

Die Tagung schloss mit dem Beitrag von WOLFGANG GIPPERT (Köln) „’Pioniere unseres Volkstums’ – Kulturimperialistische Agitationen der deutschen Journalistin Leonore Nießen-Deiters im frühen 20. Jahrhundert“. Anhand der im Titel genannten Protagonistin, die in der Forschung bislang kaum Beachtung gefunden hat, erörterte Gippert die Beteiligung von Frauen an konservativen, deutschnationalen und völkischen Diskursen zur Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik“. Als Mitarbeiterin der national-liberalen Kölnischen Zeitung bereiste Nießen-Deiters 1913 als erste weibliche Auslandsreporterin für mehrere Monate Südamerika. In seinem Vortrag stellte Gippert dar, welche Form von ‚Wissen’ über die ‚Fremde’ in den Berichten produziert wurde. Ihr Blick auf das ‚Fremde’, so Gippert, weise starke rassisierende Merkmale auf. Weiterhin thematisierte Nießen-Deiters durchgängig die ‚Kulturleistungen’ von Deutschen in Argentinien und setzte sich zum Ziel, die ‚Errungenschaften’ der Deutschen im Ausland zu schützen sowie das nationale Zugehörigkeitsbewusstsein speziell von deutschen Frauen zu wecken.

In der abschließenden Diskussionsrunde wurde konstatiert, dass die Vorträge zur Sozialen Arbeit ein Forschungsdesiderat verdeutlicht hätten – besonders hinsichtlich einer Genderperspektive. Ebenso ergaben sich Fragen bezüglich einer international-vergleichenden Ebene in der Sozialen Arbeit, die bislang ebenfalls wenig Beachtung gefunden habe. Weiterhin wurde ein möglicher Gewinn aus einer Verknüpfung von Professionalisierung und Organisation zu einem neuen Themenbereich in den Gender Studies überdacht. Die Bedeutung von Denk- und Sprechräumen von Frauen, die in den Analysen von Briefwechseln und der Auslandskorrespondenz herausgearbeitet wurden, könnte als vertiefender Aspekt im Kontext der nächsten Tagung aufgegriffen werden. Abschließend wurde angeregt, Forschungsprojekte aus der Vormoderne zukünftig stärker zu berücksichtigen.

Konferenzübersicht:

Katja Lißmann (Halle): „mit flüchtiger feder ...“: Schreibsituationen im frühen Pietismus (1692-1704)

Jessika Piechocki (Halle): „Von Menschen umgeben ...“: Schreibsituationen in den Briefen von Agnes Wilhelmine und August Hermann Niemeyer (1779-1847)

Pia Schmid (Halle): Amalie Sieveking (1794-1859): Zu den Anfängen Sozialer Arbeit von Frauen

Walburga Hoff (Erfurt): Zur Entwicklung sozialer Arbeit als Disziplin

Dayana Lau (Halle): Social Case Work in Being: Empirische Sozialforschung und Soziale Arbeit bei Mary E. Richmond

Kirsten Bromberg (Magdeburg): Akademische Welten im Wandel. Berufliches Handeln von Hochschullehrenden zwischen Intentionalität und Indexikalität

Wolfgang Gippert (Köln): „Pioniere unseres Volkstums“ - Kulturimperialistische Agitation der deutschen Journalistin Leonore Nießen-Deiters im frühen 20. Jahrhundert