Religion, Nation und Säkularismus in der ruthenischen bzw. ukrainischen Kultur der Neuzeit

Religion, Nation und Säkularismus in der ruthenischen bzw. ukrainischen Kultur der Neuzeit

Organisatoren
Internationales Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“ (LMU München/Karls-Universität Prag); Peter Jacyk Centre for Ukrainian Historical Research, CIUS (University of Alberta); Ukrainische Freie Universität München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.06.2010 - 26.06.2010
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Von
Martina Niedhammer, Internationales Graduiertenkolleg "Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts", Ludwig-Maximilians-Universität München

Seit Oktober 2009 besteht an der Ludwig-Maximilians-Universität München in Kooperation mit der Prager Karls-Universität und dem Collegium Carolinum München das Internationale Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“. Es beschäftigt sich mit religionssoziologischen Aspekten der Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas, wobei der Erforschung der Heterogenität religiöser Erfahrungen und Modelle innerhalb des gemeinhin als homogen wahrgenommenen Kulturraums zentrale Bedeutung zukommt. Dieses Interesse spiegelte sich in besonderem Maße in der Konferenz zur Religionsgeschichte der ruthenischen bzw. ukrainischen Länder wider, die das Kolleg unter der Leitung von Martin Schulze Wessel und Frank Sysyn vom Peter Jacyk Centre for Ukrainian Historical Research der University of Alberta und der Ukrainischen Freien Universität München am 25. und 26. Juni 2010 veranstaltete.

Die ruthenischen bzw. ukrainischen Länder zeichnen sich in religionsgeschichtlicher Hinsicht durch eine ungewöhnliche Komplexität aus, die sich unter anderem anhand der konfessionellen Vielfalt des seit der frühen Neuzeit gleichermaßen von Juden, griechisch-katholischen und orthodoxen Christen bewohnten Landes aufzeigen lässt. Der erste Konferenztag, dessen drei Panels einerseits die Rolle des Klerus, andererseits die Deutung säkularer Strömungen innerhalb der ukrainischen Gesellschaft thematisierten, eröffnete den Blick auf diese Pluralität und stellte gleichzeitig immer wieder Bezugspunkte zu ähnlichen oder konträr verlaufenden Entwicklungen in anderen Teilen Ostmitteleuropas her. FRANK SYSYN (Alberta/München) und ALFONS BRÜNING (Nijmegen) setzten sich vor allem auf der Basis von Egodokumenten mit der Rolle und dem Image des Priesters im Prozess der ukrainischen Nationsbildung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auseinander. In eine ähnliche Richtung zielte der Vortrag von TOBIAS GRILL (München), der das seelsorgerische und politische Engagement ‚aufgeklärter‘ deutschsprachiger Rabbiner in den ukrainischen Ländern untersuchte. Ihre ursprünglich Akkulturation und damit Entnationalisierung intendierenden Projekte, so beispielsweise die deutsche Predigt und die Integration weltlicher Fächer in den Ausbildungskanon, seien Ende des 19. Jahrhunderts in ihr Gegenteil überführt worden, indem sie von einer neuen, zionistisch orientierten Rabbinergeneration als ein Medium der säkularen Renationalisierung genutzt wurden.

Auch MARTIN SCHULZE WESSEL (München) beschäftigte sich mit der Selbstpositionierung religiöser Institutionen während und nach einer politischen Umbruchsituation. Sein Vergleich der orthodoxen Geistlichkeit in der Ukraine und der römisch-katholischen in den Böhmischen Ländern nach 1918 zeichnete die den Schismen vorausgehenden Phasen der Versammlung und Mobilisierung nach, die der Reformklerus durchlief. Obwohl dabei in beiden Ländern durchaus ähnliche Strategien verfolgt wurden, wie etwa die Anknüpfung an vorimperiale Erinnerung, innerhalb derer einzelne historische Figuren zu Symbolen für den Bruch mit Moskau bzw. Rom werden sollten, gestaltete sich die Abspaltung selbst disparat: Während sich die 1920 gegründete ukrainische autokephale Kirche als Staatskirche verstand, blieb die Tschechoslowakische Hussitische Kirche eine unter vielen Optionen. Das komplexe identitäre Gemengelage innerhalb der ‚traditionellen‘ Kirchen der heutigen Ukraine diskutierte OLEH TURIJ (L’viv), der die Frage der Anerkennung bzw. Nichtanerkennung des ukrainischen Staates als entscheidendes Moment innerhalb der Debatte benannte. Die ukrainische Diaspora in Europa und Nordamerika wurde vor allem im Zusammenhang mit Aspekten der Säkularisierung innerhalb einzelner ukrainischer Kirchen erörtert: Besonders augenfällig wurde dies in den Vorträgen von MARTHA BOHACHEVSKY-CHOMIAK (Washington) und OLEH PAVLYSHYN (L’viv/München). Erstere analysierte anhand von Fallbeispielen das Wechselspiel zwischen der griechisch-katholischen Kirche und der Intelligenzija, während Pavlyshyn die Auswirkungen einer nur ansatzweise durchgeführten Kalenderreform innerhalb der griechisch-katholischen Kirche im In- und Ausland darstellte. Den Bogen zurück ins 19. Jahrhundert spannte YAROSLAV HRYTSAK (L’viv/München), der das Aufkommen säkularer Ehekonzepte unter ukrainischen Linksintellektuellen in Galizien zwischen 1850 und 1880 untersuchte. Trotz einer starken Verortung innerhalb eines sozialkritischen russischen literarischen Kontextes sei die Idee der ‚nationalen‘, gemeinschaftstiftenden Liebe ein ukrainisches Spezifikum. Gebündelt wurden die Perspektiven aller drei Panels im Abendvortrag, in dem JOSÉ CASANOVA (Georgetown), ausgehend von einer kritischen Beleuchtung der Säkularisierungsthese, die religiöse Struktur der Ukraine im europäischen und US-amerikanischen Vergleich als Ergebnis einer zwischen De- und Rekonfessionalisierung schwankenden Dynamik deutete. Ähnlich wie die USA zeichne sich die Ukraine daher durch eine stetig wachsende Zahl verschiedener Konfessionen aus, wohingegen für den religiösen Markt des übrigen Europa eine gewisse Monotonie charakteristisch sei, die sich in der Dominanz einzelner Kirchen äußere. Anders als in den USA oder der Ukraine spiele dort die Koexistenz verschiedener Konfessionen kaum eine Rolle, was im Falle von Zweifeln eher den Austritt aus der Institution als eine Konversion zur Folge habe. In der anschließenden Diskussion wurde unter anderem die Problematik der religiösen Selbstzuschreibung angesprochen, die gerade im Hinblick auf die Ukraine von großer Bedeutung sei. Angesichts der vielfach als identisch empfundenen Riten der einzelnen „Orthodoxien“ sei es fraglich, inwiefern die religiöse Pluralität lediglich ein Phänomen der Außenwahrnehmung darstelle. Des Weiteren wurde die in der Westukraine besonders markante Rekonfessionalisierung thematisiert, die dort paradoxerweise zu sowjetischen Zeiten einsetzte, da die orthodoxe Kirche dort die exzeptionelle Erlaubnis erhielt, neue Diözesen einzurichten, die den Einfluss der mit Rom unierten griechisch-katholischen Kirche und damit letztlich des Westens schwächen sollten.

Die Westukraine sollte sich denn auch am zweiten Konferenztag zum geographischen Schwerpunkt der Diskussion entwickeln. Dies wurde bereits in den beiden ersten Panels deutlich, die das ukrainische nation building im Hinblick auf sprachpolitische und erinnerungsgeschichtlich geprägte Diskurse analysierten. MICHAEL MOSER (Wien/München) verwies auf den von der Forschung häufig vernachlässigten Beitrag des griechisch-katholischen Klerus zur Herausbildung der modernen ukrainischen Standardsprache und kontrastierte dessen Ansatz mit gänzlich anders gelagerten Bestrebungen ‚kleinrussischer‘ Intellektueller, die in der Regel dem Laienstand entstammten. Daran anknüpfend erörterte ANNA VERONIKA WENDLAND (Marburg) das Scheitern einer westukrainischen bzw. ruthenischen Staatsbildung, deren zentraler Bezugspunkt in einer religiösen Loyalität gelegen habe. Stattdessen habe sich die ukrainische Option durchgesetzt, der eine erfolgreiche nationalsprachliche Integration, wenn auch um den Preis des Traditionsabbruchs, gelungen sei. Die von ruthenischer Seite angestrebte Nationalisierung des Religiösen sei damit obsolet geworden, die Religion stelle seither lediglich eine unter vielen gesellschaftlichen Bezugsmöglichkeiten dar. Die sprachlichen und habituellen Praktiken des interkonfessionellen Konflikts in der Westukraine untersuchte LILIYA BEREZHNAYA (Münster), die dabei auch das spezielle Verhältnis von Kirche und Staat, das für die Ukraine charakteristisch sei, aufzeigte. Die daran anschließende Diskussion betonte noch einmal den konfessionellen Gegensatz in der Westukraine, der nicht nur bis heute von der Debatte um den Anspruch auf historische Gerechtigkeit geprägt ist, sondern bereits im 19. Jahrhundert die politische Orientierung maßgeblich beeinflusste: so sind polonophile Tendenzen unter den Ruthenen heute nahezu vergessen und der linksruthenische Strang, der eine Volkssprache in lateinischen Lettern propagierte, ebenso wie der russophile Strang in der Erinnerung marginalisiert. Dass jedoch die Auseinandersetzung mit der ukrainischen Geschichte sowohl von polnischer als auch von russischer Seite auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahre 1991 nicht aufhörte, zeigte MARTIN AUST (Kiel) anhand einer vergleichenden Analyse zweier Literaturverfilmungen: Ogniem i mieczem (Polen 1999) und Taras Bul’ba (Russland 2009). Während die polnische Version des Sienkiewicz-Romans ein säkulares Bild der Ukraine zu präsentieren suche, in der die dichotome nationale Struktur der Vorlage in eine polnisch-ukrainische Gemeinschaft verwandelt werde, positioniere sich die russische Produktion konträr, indem sie die Ukraine als Teil des orthodoxen Russlands deute, das das wesensfremde katholische Polen abwehren müsse. BURKHARD WÖLLER (Wien) beleuchtete daraufhin die historiographische Auseinandersetzung mit der Union von Brest im Galizien des späten 19. Jahrhunderts, deren Interpretation zwischen einer religiösen und nationalen Sichtweise changierte. Nationale Selbstzuschreibungen und damit verknüpfte Fremdwahrnehmungsschemata in der heutigen Westukraine thematisierte LEONID HERETZ (Bridgewater), der ein entsprechendes Oral History Projekt vorstellte, an dem er derzeit mit Frank Sysyn arbeitet.

Die beiden letzten Panels der Konferenz zeichneten sich durch einen dezidiert transnationalen Ansatz und die Einbeziehung politologischer Aspekte aus. NICOLAS SZAWOFAL (München) schilderte das national- und religionspolitische Wirken des aus Galizien gebürtigen Geistlichen Petro Werhun, der im nationalsozialistischen Deutschland zu einer Identifikationsfigur ukrainischer Emigranten werden sollte. Auch KERSTIN JOBST (Leipzig) verwies am Beispiel des griechisch-katholischen Heiligen Jozafat Kuncevyč, der in Ostgalizien zu einem intrakonfessionellen, transethnischen Symbol gegen die orthodoxe Bevölkerung stilisiert wurde, auf die integrative Funktion der Heiligenverehrung. KATRIN BOECKH (München/Regensburg) arbeitete anhand einer Fallstudie im Raum L’viv stalinistische Strategien der Verfolgung und Repression von Religionsgemeinschaften heraus. Die im Falle der Westukraine angewandten Verfahren der likvidacija und regulacija hätten eine Differenzierung religiösen Lebens verhindert, deren Folge, eine ‚Pseudo-Säkularisierung‘, nach 1990 rasch verschwunden sei. Ebenfalls mit dem sowjetischen Verhältnis zu religiösen Institutionen beschäftigte sich SERHII PLOKHY (Harvard), der eine Verknüpfung von Diplomatie- und Religionsgeschichte vornahm. Dabei untersuchte er bislang vernachlässigte Bezüge zwischen der Konferenz von Jalta, amerikanischem Engagement im Bereich der sowjetischen Religionspolitik und der Liquidation der griechisch-katholischen Kirche im Jahr 1946.

Die abschließende Diskussion betonte noch einmal Kontinuitäten, wie sie die sowjetische Religionspolitik darstellte, die sich letztlich als Fortführung der Politik des russischen Imperiums deuten lässt. Beeindruckend waren die ungewöhnliche Dichte und Vielfalt der Vorträge, die nicht nur im Hinblick auf die von der frühen Neuzeit bis ins 21. Jahrhundert reichende Zeitspanne, sondern auch in methodischer Hinsicht ein weites Feld absteckten.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Martin Schulze Wessel (München), Frank Sysyn (Alberta)

Panel I – Klerus
Moderation: Yaroslav Hrytsak (L’viv)

Frank Sysyn (Alberta): Religion within the Populist Credo: The Ideal Pastor, Mykhailo Zu-bryts’kyi

Alfons Brüning (Nijmegen): „Eine Kirche für das Volk? - Geistliche und Gemeinden in der ukrainischen nationalen Romantik

Panel II –Klerus (Fortsetzung)
Moderation: Michael Brenner (München)

Tobias Grill (München): Rabbis as agents of modernization in the lands of the Ukraine

Martin Schulze Wessel (München): Reformierte Geistlichkeit im östlichen Europa in den Revolutionsjahren 1917/18

Oleh Turij (L’viv): Auf der Suche nach der Tradition: das Problem der Identität bei den „traditionellen“ Kirchen in der heutigen Ukraine

Panel III – Säkularisierung und Säkularismus
Moderation: Martin Baumeister (München)

Martha Bohachevsky-Chomiak (Washington): Shadow boxing: the Ukrainian Catholic Church and the Ukrainian intelligentsia

Oleh Pavlyshyn (L’viv): Religious Calendar in the Ukrainian Greek Catholic Church in the 20th century

Yaroslav Hrytsak (L’viv): Making Marriages, Breaking Marriages: the Ukrainian left and secular matrimonial practices

Öffentlicher Abendvortrag
José Casanova (Georgetown): Poland, Ukraine and Western paradigms of secularization

Panel IV – Sprache
Moderation: Oleh Turij (L’viv)

Michael Moser (Wien/München): Clerics and laymen in the history of the Modern Standard Ukrainian Language

Anna Veronika Wendland (Marburg): Sakrales und politisches Sprechen im Übergang von der ruthenischen zur ukrainischen Nation: Galizien 1800-1900

Liliya Berezhnaya (Münster): The Language of interconfessional Conflicts in the 1990s in Western Ukraine

Panel V – Geschichts- und Identitätskonzepte
Moderation: Yvonne Kleinmann (Leipzig)

Martin Aust (Kiel): Ogniem i mieczem vs. Taras Bul’ba: the Polish-Russian Struggle for Ukraine at the Movies

Burkhard Wöller (Wien): Die Union von Brest – (k)ein nationales Ereignis? Ukrainische und polnische historiographische Bewertungen der Kirchenunion im Kontext der Nationsbildungsprozesse im österreichischen Galizien

Leonid Heretz (Bridgewater): ‘Temnota’ and ‘Svidomist’’: Tradition and Modernity as Articu-lated by the Interwar Generation of Galician Ukrainians

Panel VI – Komparative und internationale Aspekte
Moderation: Franz Xaver Bischof (München)

Nicolas Szafowal (München): Zwischen Himmel und Hölle – Denken und Wirken des Seli-gen Petro Werhun in Deutschland: 1927-1945

Kerstin Jobst (Leipzig): Transnational und transkonfessionell? Überlegungen zum Jozafat-Kuncevyč-Kult (19./20. Jahrhundert)

Panel VII – Politik und Religion
Moderation: Klaus Buchenau (München)

Katrin Boeckh (Regensburg/München): Strategien der Religionsverfolgung unter Stalin: Fallstudie Westukraine

Serhii Plokhii (Harvard): The Echoes of Yalta: Roosevelt, Stalin and the Liquidation of the Greek Catholic Church


Redaktion
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