Katholische Kirche und Gewalt im 20. Jahrhundert

Katholische Kirche und Gewalt im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Silke Hensel / Hubert Wolf, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.05.2010 - 21.05.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Debora Gerstenberger, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Cláucio Serra Domingues, Exzellenzcluster "Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Die Haltung der katholischen Kirche zu politischer Gewalt im 20. Jahrhundert hat im Mai 2010 eine internationale Tagung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ in Münster beleuchtet. Wie positionierte sich die katholische Kirche im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) gegenüber autoritären Regimes, welche sich als dezidiert katholisch oder – im Gegenteil – als antiklerikal verstanden? Unter welchen Umständen legitimierte die Kirche (revolutionäre) Gewalt gegen Terrorherrschaft? Die Debatten waren überwiegend der historischen und geographischen Differenzierung verpflichtet, die SILKE HENSEL (Münster) in ihrer Einführung gefordert hatte – denn „die Kirche“ existiere ebenso wenig wie „die Gewalt“.

Dementsprechend zeigte Kirchenhistoriker HUBERT WOLF (Münster) Pluralität und Heterogenität innerhalb der katholischen Kirche auf: Zwar habe sich diese seit der Französischen Revolution zu einer Papstkirche entwickelt, in der das Wort des Pontifex maximus endgültig sei („Roma locuta, causa finita“), jedoch habe die Institution nie einen „monolithischen Block“ dargestellt. Man müsse statt von einem „Einheitskatholizismus“ von unterschiedlichen „Katholizismen“ ausgehen. Als bedeutsam für das Verständnis unterschiedlicher Haltungen hob Wolf das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) mit seiner grundsätzlichen Bejahung einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft hervor. Die zum Teil widersprüchlichen Ergebnisse des Konzils stellten gleichsam einen „Steinbruch“ dar, aus dem sich liberale ebenso wie erzkonservative Angehörige der Kirche bedienten. Dem Begriff der religiösen Gewalt näherte sich HANS G. KIPPENBERG (Bremen), indem er mit Max Weber darauf hinwies, dass zu unterscheiden sei zwischen dem Motiv einer Gewalthandlung und ihrer Bedeutung. Anhand eines unmittelbar vor den Anschlägen vom 11. September 2001 von Mohamed Atta verfassten Schriftstücks legte er dar, dass die Bedeutung wiederum auf drei Ebenen untersucht werden kann: der instrumentellen (eine Gewalttat kann der Zerstörung eines Machtzentrums dienen), der kommunikativen (eine Gewalttat kann gleichzeitig eine Kriegserklärung sein) und der performativen (eine Gewalttat ist häufig die Inszenierung eines Skriptes). Das Massaker des später von jüdischen Fanatikern als „Märtyrer Gottes“ verehrten israelischen Offiziers Baruch Goldstein (25. Februar 1994) diente dem Experten für Vergleichende Religionswissenschaft als weiterer Beleg dafür, dass die heiligen Schriften der unterschiedlichen Religionen handlungsrelevante Elemente enthalten. Kippenberg folgerte, dass Religionen als solche nicht auf Gewalt setzten, dass sie jedoch Skripte für Gewalthandlungen bereitstellten.

Der Religionswissenschaftler GIANMARIA ZAMAGNI (Münster) analysierte im Rahmen der Sektion „Kirche und autoritäre Regime“ die Stellungnahmen des Vatikans zur Gewaltanwendung vor und nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges (1936–1939). Während Papst Benedikt XV. (1914–1922) durch seine „Friedensnote“ von 1917 Gewalt weitgehend delegitimierte, zeichnete sich sein Nachfolger Pius XI. (1922–1939) durch eine weniger pazifistische Haltung aus. Schon als Mussolini am 9. Mai 1936 – nach einem Angriffs- und Eroberungskrieg gegen Äthiopien – das faschistische Imperium ausrief, hätten der Papst und der italienische Klerus eine überwiegend zustimmende Position eingenommen. Im Fall Spaniens habe Pius XI. physische Gewalt in einer Rede in Castel Gandolfo am 14. September 1936 ausdrücklich legitimiert, auch wenn zum Verständnis des Gesagten bis heute eine theologische Entzifferung notwendig sei. Somit legitimierte der Vatikan nach Ansicht Zamagnis – und dies wurde in der anschließenden Diskussion als Ausnahme hervorgehoben – Gewalt im Spanischen Bürgerkrieg relativ eindeutig. Grund hierfür sei nicht zuletzt die Verknüpfung von spanischem Staat, katholischer Kirche und Naturrecht gewesen. Auch der Historiker CARLOS COLLADO SEIDEL (Marburg) thematisierte den Spanischen Bürgerkrieg, wobei er zunächst militärhistorische Dimensionen hervorhob. So hätten nationalistische und antidemokratische Generäle den Krieg gegen die „gottlosen Marxisten“ in Spanien ähnlich gedeutet wie den Kampf gegen die „unzivilisierten Kabylen“ während des Kolonialkrieges in Marokko (1926). Da die Gewalthandlungen der Republikaner im Bürgerkrieg antiklerikal geprägt waren (13 Bischöfe und 10 Prozent des spanischen Klerus wurden ermordet), verbündete sich der spanische Klerus mit den Nationalisten, diese wiederum bedienten sich einer religiösen Symbolik. Der „Nationalkatholizismus“ war Collado Seidel zufolge so gefestigt, dass die Staatskirche den politischen Projekten des Franco-Regimes auch in den Nachkriegsjahren Legitimation verschaffte; Franco blieb Regierungschef „von Gottes Gnaden“.

Die folgenden Vorträge führten die Zuhörer räumlich über den Atlantik und zeitlich näher an die Gegenwart. Der Soziologe FORTUNATO MALLIMACI (Buenos Aires) konstatierte im Hinblick auf das „Argentinien des Staatsterrors“, dass es unmöglich sei, Katholizismus und Kirche moralisch einseitig zu bewerten: Während des Gewaltregimes habe es sowohl katholische Opfer als auch katholische Täter gegeben. Ausgehend von der These, dass „die Gewalt“ und „das Heilige“ stets eng miteinander verbunden seien, skizzierte Mallimaci die langsamen Prozesse der Militarisierung, Katholisierung und Nationalisierung Argentiniens. Demnach entstand seit dem Militärputsch von 1943 ein von politischen Parteien unabhängiger „katholischer Patriotismus“, der später die „Rationalisierung des Staatsterrors“ möglich machte. Der Historiker STEPHAN RUDERER (Münster) knüpfte an diese Befunde an und beleuchtete eine wichtige Kraft der vergleichsweise brutalen Militärdiktatur Argentiniens: das Militärvikariat. 1957 gegründet zum Zwecke der Strukturierung der Seelsorge für die Soldaten, diente es dem Militärklerus bald dazu, Generäle, Offiziere und Soldaten ideologisch zu formen. Der Kampf gegen Kommunismus und „politische Subversion“ wurde im Kalten Krieg zunehmend auch ein Kampf um religiöse Werte. Militärführung und Militärklerus gingen eine Symbiose ein, das Militär wurde nicht mehr nur als Instrument des Staates, sondern zunehmend als Werkzeug der Gewalt Gottes selbst interpretiert.

ROBERTO BLANCARTE (Mexiko-Stadt) demonstrierte anhand des Aufstands der marxistisch-maoistischen Zapatisten im mexikanischen Chiapas, wie das Religiöse politisch werden kann. Politischer Dissens fände in dem noch immer bestehenden Konflikt religiöse Ausdrucksformen, ebenso wie religiöser Dissens sich politischer Ausdrucksformen bediene. Das von Paramilitärs in einer Kapelle verübte „Massaker von Acteal“ (Dezember 1997) sah der Sozialwissenschaftler als Beleg dafür, dass „religiöse“ Gewalt ökonomische, sozial-politische und kulturelle Ursprünge haben kann. Er betonte, dass eine Ursache religiös konnotierter Gewalt in Mexiko in dem Unvermögen des Staates liege, religiösen Pluralismus zu organisieren. Den Konflikt der antiklerikalen Regierung und den in der „Liga Nacional para la Defensa de la Libertad Religiosa“ organisierten Katholiken im Mexiko der 1920er-Jahre behandelte der Kirchenhistoriker NORBERT KÖSTER (Münster) aus vatikanischer Sicht. Der Vatikan habe hinsichtlich der „Cristiada“, die etwa 90.000 Menschenleben forderte, eine ad- hoc-Politik betrieben und aufgrund des Einflusses von nach Rom exilierten mexikanischen Bischöfen den bewaffneten Kampf zeitweise unwissentlich legitimiert. Als der Vatikan später die „Liga“ aufforderte, zur friedlichen und vom Vatikan geförderten Laienbewegung der „Katholischen Aktion“ überzutreten, reagierte er auf die mexikanische Problemlage mit einem dezidiert europäischen Lösungsmodell. Die Diskussion über den Vortrag brachte den Eurozentrismus als doppeltes Problem zur Sprache: zum einen als einen Standpunkt, der die konkreten politischen Handlungen (des Vatikans) leitete, zum anderen als ein theoretisch-methodisches Problem, das weiterhin die wissenschaftlichen Perspektiven prägt.

MICHAEL KIßENER und ANDREAS LINSENMANN (beide Mainz) widmeten sich den widersprüchlichen Reaktionen des deutschen Episkopats beziehungsweise der katholischen Laien auf nationalsozialistische Gewalttaten. Hatte der Episkopat Gewalt in der Spätphase der Weimarer Republik noch eindeutig verurteilt, relativierte er laut Kißener zu Beginn des „Dritten Reichs“ den Staatsterror zunächst und schwieg schließlich. Ursachen für das Schweigen zur Judenverfolgung sah Kißener sowohl in der Unkenntnis über deren Ausmaß und Ziel als auch im katholischen Antijudaismus. Auch Priester und Laien hätten das Regime und dessen Gewaltanwendung nur bis März 1933 eindeutig abgelehnt, stellte Linsenmann fest, wobei er für den Stimmungsumschwung mehrere Gründe hervorhob: die Anerkennung des Regimes durch die Bischöfe, das Reichskonkordat (20. Juli 1933), den Gleichschaltungsdruck sowie die allgemeine Euphorie über die „nationale Erhebung“. Als Feldzug gegen den Bolschewismus gedeutet, habe insbesondere der Krieg gegen Russland die Legitimation eigener Gewaltausübung erleichtert, wobei der Kriegsdienst als Sühneleistung gegenüber Gott interpretiert worden sei. Der wertgebundene Abstand des katholischen Milieus zum Regime, eine in der Diskussion hinterfragte These Konrad Repgens, habe nur in Ausnahmefällen zum aktiven Widerstand geführt. So leistete die Kirche laut Kißener und Linsenmann zwar moralischen Widerstand, trat der Gewaltherrschaft aber nicht entschieden entgegen. THOMAS BREMER (Münster) trug zunächst den Beitrag von LAURA PETTINAROLI (Rom) vor, die ihre Teilnahme kurzfristig absagen musste. Die Verfolgung der katholischen Kirche in Russland und der UdSSR zwischen 1917 und 1939 zeichnete sich ihrer Ansicht nach dadurch aus, dass sie sich im Namen des Atheismus gegen jede Form von Religion richtete. Sie habe weitreichende Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen der katholischen und der russisch-orthodoxen Kirche in der Sowjetunion und weltweit gehabt. Rom engagierte sich Pettinaroli zufolge auf dem Feld der internationalen Beziehungen gegen die Unterdrückung der orthodoxen Kirche, bewahrte zugleich aber auch Distanz. Die katholische Reaktion auf die Gewalt und die Ausarbeitung einer Spiritualität der verfolgten Kirche über die Grenzen der traditionellen ethnischen Solidaritäten hinweg sei jedoch etwas absolut Neues gewesen. Bremer selbst beleuchtete vergleichend unterschiedliche Strategien der katholischen Landeskirchen in der westlichen Ukraine und in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der sowjetischen Machtübernahme. Auf die Phase staatlicher Verfolgung und die Entstalinisierung sei eine Phase der Akzeptanz gefolgt, bevor die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Landeskirchen als Minderheiten- beziehungsweise Mehrheitskirche zu heterogenen Entwicklungen geführt hätten, sodass man weder von einem einheitlichen kommunistischen Regime noch von einer einheitlichen katholischen Kirche sprechen könne.

Dass die katholische Kirche während der Diktatur Pinochets in Chile (1973–1990) mit unterschiedlichen Stimmen sprach, demonstrierte ANTJE SCHNOOR (Münster). Thema ihres Vortrags, der die Sektion „Legitimation von (Gegen-)Gewalt? Kirche als Anwalt für die Unterdrückten und Armen“ eröffnete, war ein Skandal im November 1975, der unter anderem den Erzbischof von Santiago, Raúl Silva Henríquez, und einen Berater Pinochets, Jaime Guzmán, gegeneinander aufbrachte: Jesuitenpriester hatten mutmaßlichen Guerilleros und Mitgliedern der revolutionären Linken (MIR) zur Ausreise verholfen, anstatt sie auszuliefern. Während das Erzbistum zur Rechtfertigung auf das Evangelium und die christliche Pflicht zur Barmherzigkeit verwies, pochte Guzmán auf das Gesetz. Auf Basis von Artikeln der Jesuitenzeitschrift „Mensaje“ ordnete die Historikerin die Argumente der involvierten Akteure drei analytischen Kategorien zu: Identifikation mit nationalen Interessen, Verpflichtung gegenüber dem Evangelium beziehungsweise staatlichem Recht und Bezug auf die Menschenrechte. JOHANNES MEIER (Mainz) wählte einen biographischen Zugang zum Thema und sprach exemplarisch über zwei Katholiken, die in Lateinamerika mutig für Frieden und Gerechtigkeit eingetreten sind: Bischof Juan Gerardi Conedera (1922–1998) leitete in Guatemala die Kommission zur „Wiedererlangung der historischen Erinnerung“; er wurde zwei Tage nach der Präsentation des Kommissionsberichts ermordet. María Julia Hernández Chavarría (1939–2007) baute im Dienst der Bischöfe Oscar Arnulfo Romero und Arturo Rivera y Damas die Rechtsschutzhilfe „Tutela legal“ auf und setzte sich für Versöhnung und Frieden in El Salvador ein. LEO O’DONOVAN (Washington) widmete sich den Gewaltdefinitionen von Befreiungstheologen, die vielfach unterschieden zwischen struktureller Gewalt (ungleicher Zugang zu Ressourcen), repressiver Gewalt (Einschüchterung, Folter) und revolutionärer Gewalt (mit dem Ziel der Schaffung einer neuen Ordnung). Befreiungstheologen hätten, wenn überhaupt, meist letztere legitimiert, die sich „reaktiv“ gegen strukturelle Gewalt richte. VICENTE DURÁN CASAS (Bogotá) nahm eine philosophische und politisch-kritische Perspektive auf die von der Befreiungstheologie geforderte „Option für die Armen“ ein. Seine Hauptthese lautete, dass die Befreiungstheologie sich am Marxismus orientierte, weil christliche Gerechtigkeit und Demokratie für deren Vertreter weiter auseinander gelegen hätten als christliche Gerechtigkeit und Sozialismus. In der katholischen Kirche fehlte, wie auch Hubert Wolf in der Diskussion betonte, eine starke demokratische Tradition.

Das Verhältnis des später zum „katholischen Che Guevara“ erhobenen Camilo Torres (1929–1966) zur Gewalt beleuchtete DANIEL H. LEVINE (Ann Arbor, Michigan). Er bettete Biographie und Werk des Priesters und Soziologen in den Kontext einer erstarrten kolumbianischen Gesellschaft und eines sich wandelnden Katholizismus ein. Dezidiert widersprach der Politikwissenschaftler der Ansicht, dass Torres die Befreiungstheologie vorweggenommen habe. Er sah die Motive für den Übertritt des Priesters zu einer kolumbianischen Guerillabewegung vor allem in seiner politischen Naivität und spezifischen Interpretation des Marxismus. Insbesondere die Skizzierung von Torres als tragische Gestalt und das Urteil der Sinnlosigkeit seines Todes wurden nach dem Vortrag kontrovers diskutiert. Im letzten Vortrag der Tagung stellte SILKE HENSEL (Münster) die befreiungstheologische Debatte in den historischen Kontext des Kalten Krieges und der politischen Radikalisierung der späten 1960er-Jahre. Dabei zeigte die Historikerin, dass die „Option für die Armen“ der beiden von ihr untersuchten Priestervereinigungen „Cristianos por el Socialismo“ und „El Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo“ innerkirchliche Spannungen mit dem jeweiligen Episkopat hervorrief: im Chile der Allende-Zeit, vor allem aber in der von den Landesbischöfen gestützten Diktatur Argentiniens. Diese politischen Positionierungen veränderten auch das Verhältnis der Priestergruppen zur Gewalt: Sie legitimierten schließlich „gerechte“ Gewalt gegenüber der von ihnen verurteilten strukturellen und staatlichen Gewalt. Die katholische Kirche, so betonte Hensel, könne nicht pauschal als „Friedensstifterin“ oder „Gewaltbefürworterin“ bezeichnet werden, vielmehr sei ihre Funktion immer von der jeweiligen historischen Situation abhängig gewesen.

Die empirischen Beiträge strukturierend hielt KLAUS GROßE KRACHT (Münster) in der Abschlussdiskussion fest, dass die katholische Kirche im 20. Jahrhundert sowohl als Komplizin gewalttätiger Regimes als auch als deren Gegnerin aufgetreten ist. Die Beiträge seien der Ausgangsforderung nachgekommen, grundsätzlich von pluriformen Katholizismen auszugehen. Die Lateinamerika-Experten betonten, dass diese Region nicht als ein religionsgeschichtlich homogenes Gebilde betrachtet werden könne. Gerade weil die Teilnehmer der Konferenz den interdisziplinären und internationalen Austausch als anregend und fruchtbar empfunden hatten, trat am Ende deutlich zutage, dass synchron und diachron vergleichende Studien in der akademischen Auseinandersetzung mit „Kirche und Gewalt“ bisher noch Ausnahmen darstellen – sowohl in Europa als auch in Lateinamerika. Auch wurde deutlich, dass das methodische Instrumentarium zur Untersuchung von Gewaltphänomenen, welche mit Religion in Verbindung stehen, noch weiterer Präzisierung bedarf.

Die abschließende öffentliche Podiumsdiskussion „Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Katholische Kirche und staatliche Gewalt heute“ moderierte DANIEL DECKERS (Frankfurt am Main), Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Teilnehmer debattierten mit Blick auf die Heterogenität des Katholizismus, inwieweit das Zweite Vatikanische Konzil und die Befreiungstheologie als Stationen hin zu einem Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit und zur Demokratie zu verstehen seien. Hubert Wolf diagnostizierte fehlende demokratische Strukturen auch in der nachkonziliaren Kirche, beispielsweise bei Bischofsernennungen. Wenn die Kirche glaubwürdig und zukunftsfähig sein wolle, dürfe es keine Diskrepanz von nach außen hin vertretenem Anspruch und interner Praxis geben. JOSEF SAYER (Aachen), Hauptgeschäftsführer des katholischen Hilfswerks „Misereor“, verwies aufgrund persönlicher Erfahrungen in Peru auf die geringe Bedeutung der Kirchenstrukturen für die konkrete seelsorgerische Arbeit, wenn er auch gleichzeitig die Rolle des Episkopats für die Demokratisierung Lateinamerikas hervorhob. Dass die katholische Kirche trotz der Säkularisierungsprozesse und des Verlusts ihres religiösen Monopols in Lateinamerika als überparteilicher Friedensvermittler funktioniere, unterstrich Vicente Durán Casas, indem er auf den Konflikt zwischen der marxistischen Guerillabewegung FARC und der Regierung in Kolumbien hinwies.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung

Sektion 1: Kirche und Gewalt im 20. Jahrhundert – Die Begriffe
Moderation: Silke Hensel (Münster)

Hubert Wolf (Münster): Eine Kirche oder viele Kirchen? Pluralität und Heterogenität innerhalb der hierarchisch strukturierten Institution „katholische Kirche“

Hans G. Kippenberg (Bremen): Religiöse Gewaltsprachen – religiöse Gewalthandlungen: ihr Verhältnis zueinander

Sektion 2: Kirche und autoritäre Regime
Moderation: Heike Bungert (Münster)

Gianmaria Zamagni (Münster): Friede, Martyrium, Christenheit. Theologische Modelle im Spanischen Bürgerkrieg (1935–1937)

Carlos Collado Seidel (Göttingen): „Kreuzzug“ und „Nationalkatholizismus“. Zur Legitimierung von Krieg, Nachkriegsrepression und Herrschaft General Francos

Fortunato Mallimaci (Buenos Aires): Catolicismos y militarismos: la violencia y lo sagrado en la Argentina del terrorismo de Estado.

Stephan Ruderer (Münster): „Der Kaplan soll uns sagen, dass unser Kampf ein Kreuzzug ist“ – Das Militärvikariat und die Diktatur in Argentinien

Sektion 3: Kirche im Konflikt mit den „weltanschaulichen Häresien“
Moderation: Hubert Wolf (Münster)

Roberto Blancarte: (Mexiko-Stadt): Violencia socio-política y violencia religiosa en un contexto de hegemonía católica: el caso de México

Norbert Köster (Münster): „Il Governo ha avuto una lezione molto efficace... “ Pius XI., Kardinal Gasparri und die Cristiada in Mexiko

Thomas Bremer (Münster): Katholische Kirche und kommunistische Machtübernahme. Strategien von Anpassung und Widerstand

Laura Pettinaroli (Rom): The Catholic Church faced with the Persecution of the Churches in Russia and in the USSR (1917-1939): between physical annihilation and spiritual renewal in a multidenominational context [Vortragstext vorgestellt von Thomas Bremer (Münster)]

Michael Kißener (Mainz): Katholische Kirche und Gewalt im nationalsozialistischen Deutschland – Die Bischöfe, der Tyrannenmord und der Krieg

Andreas Linsenmann (Mainz): Obrigkeit mit oder ohne Gott? Katholiken in der Diktaturerfahrung des „Dritten Reiches“

Sektion 4: Legitimation von (Gegen-)Gewalt? Kirche als Anwalt für die Unterdrückten und Armen
Moderation Thomas Großbölting / Klaus Große Kracht (beide Münster)

Antje Schnoor (Münster): Gewalt, Gegengewalt und die vielen Stimmen der katholischen Kirche. Chile 1975

Johannes Meier (Mainz): Justitia et Pax. Beispiele aus der Menschenrechts- und Friedensarbeit der Katholischen Kirche in Lateinamerika seit dem II. Vatikanischen Konzil

Leo O’Donovan (Washington): Die Theologie der Befreiung und das Problem der revolutionären Gewalt

Vicente Durán Casas (Bogotá): Die Befreiungstheologie aus philosophischer und politisch-kritischer Sicht: Option für die Armen und Demokratie

Daniel H. Levine (Ann Arbor, Michigan): Camilo Torres and Violence

Silke Hensel (Münster): Religion, Politik und Gewalt aus der Sicht der Priestervereinigungen “Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo” und “Cristianos por el Socialismo” (Argentinien und Chile in den 1960er und 1970er Jahren)

Schlussdiskussion
Moderation: Klaus Große Kracht (Münster)

Öffentliche Podiumsdiskussion: Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Katholische Kirche und staatliche Gewalt heute
Moderation: Daniel Deckers (Frankfurt am Main)

Vicente Durán Casas S. J. (Bogotá)

Josef Sayer (Aachen)

Hubert Wolf (Münster)

Kontakt

debora.gerstenberger@uni-muenster.de; domingues@uni-muenster.de


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Deutsch
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