Buchpraktiken und Bücherwissen 1450-1750

Buchpraktiken und Bücherwissen 1450-1750

Organisatoren
Lucas Burkart / Hole Rössler, Historisches Seminar, Universität Luzern; Michael Gnehm / Tristan Weddigen, Kunsthistorisches Institut, Universität Zürich; Stiftung Bibliothek Werner Oechslin
Ort
Einsiedeln
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.06.2010 - 23.06.2010
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Von
Anne-Chantal Zimmermann / Heinz Nauer, Universität Luzern

Vom 21. bis 23. Juni veranstalteten das Historische Seminar der Universität Luzern und das Kunsthistorische Institut der Universität Zürich in Kooperation mit der Stiftung Bibliothek Werner Oechslin in Einsiedeln ein Symposium zum Thema „Buchpraktiken und Bücherwissen 1450-1750“. Mit der Bibliothek Werner Oechslin und ihren über 40.000 Bänden zur Geschichte der Architektur und Architekturtheorie sowie zur europäischen Geistes- und Kulturgeschichte haben die Organisatoren Lucas Burkart (Luzern), Michael Gnehm (Zürich), Hole Rössler (Luzern) und Tristan Weddigen (Zürich) einen geeigneten Ort ausgewählt, um über inhaltliche und praktische Aspekte der vormodernen Buchkultur nachzudenken.
Die Auseinandersetzung mit Buchpraxis und Inhalten von Büchern in der Frühen Neuzeit besitzt durchaus seine Aktualität. Im Zeitalter des Internets wird oft vergessen, dass zumindest der Topos der „Bücherflut“ nicht neu ist und sich bereits im 17. Jahrhundert im Umgang mit der ins Unrezipierbare gewachsenen Fülle von Informationen weitgehend dieselben Fragen stellten wie heute. Viel ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten geklagt worden über die Flut von qualitativ ungenügenden Online-Publikationen, Sammelbänden, die besser ungeschrieben geblieben wären und Digitalisierungsprojekten, die das materielle Buch in gar nicht allzu ferner Zukunft überflüssig werden lassen sollen. Eine mögliche Antwort auf die Frage, wie man dieser Totalität von Informationen begegnen soll, hat im Jahr 2007 der Pariser Literaturprofessor Pierre Bayard gegeben: Durch Nicht-Lesen. In seinem lesenswerten Büchlein „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ unterscheidet Bayard vier Haupttypen von Büchern: Unbekannte Bücher, Bücher, die man quer gelesen hat, Bücher, die man nur vom Hörensagen kennt, und solche, deren Inhalt man schon wieder vergessen hat. Alle vier zugrunde liegenden Praktiken, so die auch im eigenen Buch demonstrierte Pointe, seien letztlich legitime und nicht notwendig irreführende Formen des Umgangs mit Bücherwissen.

WERNER OECHSLIN (Einsiedeln) plädierte in seinem Eröffnungsvortrag für das Gegenteil: Man solle sehr wohl lesen, und zwar wenn immer möglich in konkreten Büchern und nicht in ihrem Digitalisat. Das Buch als materieller Gegenstand – nicht selten mit deutlichen Lektürespuren – sei für eine historische Betrachtung ebenso wichtig wie dessen Inhalt, denn die meisten Bücher seien keine Krimis, die man von vorne nach hinten durchlesen könne, sondern Behältnisse für alles Mögliche, unter sich vernetzte Wissenssammlungen, von denen jede eine eigene Geschichte habe. So ist denn auch die Ordnung der Bücher nie zufällig, sondern geschichtsgegeben. Auch deshalb plädierte Oechslin dafür, die Bücher in ihrer realen Umgebung zu besuchen. Am besten in den selten gewordenen Freihandbibliotheken, denn nicht nur das Buch allein erzählt Geschichten, sondern – wie bereits Aby Warburg bemerkte – auch seine Nachbarn. Man hat also zwei Möglichkeiten in einer Bibliothek: Entweder die Bücherwände zu bestaunen oder ein Buch herauszunehmen und zu lesen.

ANTHONY GRAFTON (Princeton) sprach in seinem Abendvortrag "Jewish Books and Christian Readers: Another Renaissance" über jüdische Einflüsse auf christliche Bücher der Frühen Neuzeit. Die Exegese biblischer Originaltexte war aufgrund der schlechten oder inexistenten Kenntnis der hebräischen Sprache für Christen oft unmöglich. Mancher Gelehrter suchte sich deshalb einen jüdischen Lehrer, um die Sprache des Alten Testamentes zu lernen. Durch den Austausch mit ihren Lehrern aber lernten sie schliesslich mehr als nur die Sprache: Die Lehrer brachten ihnen auch die jüdische Kultur näher. Obwohl Christen in der Frühen Neuzeit ihrem Selbstverständnis nach die jüdische Kultur als minderwertig betrachteten, entwickelten sie in der Zusammenarbeit ein zunehmendes Verständnis, das sich auch in ihrer Buchkultur spiegelte. So konnten Gelehrte der Frühen Neuzeit, so die Pointe Graftons, im Lesen und Schreiben von Büchern religiöse und kulturelle Grenzen überschreiten.

MARIE THERES STAUFFER (Genf) sprach in ihrem Vortrag über "Die Darstellung katoptrischer Praktiken in frühneuzeitlichen Schriften". Sie untersuchte die Spiegel-Experimente in den Büchern des jesuitischen Polyhistors Athanasius Kirchers anhand ihrer bildlichen Darstellungen und Erklärungen. Das Reden über Katoptrik sei von der Imagination beflügelt und weit spektakulärer gewesen als die tatsächlichen Effekte des realen Experiments. Dies zeigt das Beispiel einer (an Schrödingers gemahnende) Katze in einer mit Spiegeln ausgekleideten Kiste, die, so die Legende, fast durchgedreht sei ob der vielen Katzen, die sie von allen Seiten angestarrt hätten. Aber woher ist denn eigentlich das Licht in diese Kiste gekommen? Und wie konnten die Gelehrten der Katze dabei zusehen? Die Funktion der Maschine bleibt für die Leser letztlich rätselhaft, was, so die Erklärung Stauffers, auch der Grund sei, weswegen den Experimenten in den Büchern geglaubt wurde. In seinen Büchern erzeugte Athanasius Kircher so etwas wie „Science Fiction“. Im Medium „Buch“ konnte das funktionieren, mit den Maschinen in Kirchers römischen Museum nicht.

TINA ASMUSSEN (Luzern) versuchte daran anschliessend, diesen Widerspruch zwischen dem Musaeum Kircherianum und den Publikationen Kirchers aufzuheben. Sie hob dabei die Symbiose von Museum und Buch hervor. Das Medium „Buch“ (illustriert am Beispiel von Giorgio de Sepis Museumskatalog "Romani Collegii Societatis Jesu Musaeum Celeberrimum" von 1678) sei tatsächlich der einzige Ort gewesen, an dem Kirchers Experimente funktioniert hätten und habe keine realen Verhältnisse abgebildet, sondern einen „idealen Raum“ produziert. In der Folge zeigte Asmussen die „selbstreferenzielle Endlosschleife“ auf, in der sich Kircher mit seinen Publikationen bewegte. Das Museum sei zwar ein „imaginierter Wissensraum“ gewesen, allerdings einer, der in seiner Darstellung mit der Naturphilosophie Kirchers korrespondierte. Kircher dachte in Analogien und übertrug dieses Denken auf sein Museum, in dem er die ganze Welt im Kleinen abbilden wollte. Nach demselben Verweissystem („omnia in omnibus“) also, nach dem auch die Wissenschaft Kirchers funktioniert habe.

Gleich mehrere Vorträge kreisten um die Begriffe „Wahrheit“, „Glaubwürdigkeit“ und „Authentizität“ im Zusammenhang mit der Verwendung von Bildern im gedruckten Buch. So konstatierte PETER SCHMIDT (München) für das 17. Jahrhundert eine inflationäre Zunahme von Publikationen, die das Wort „wahr“ im Titel führten. DOROTHEE SCHMIDT (Basel) hob am Beispiel der Reiseberichtsammlung „petits voyages“ der niederländischen Verlegerfamilie de Bry die Wichtigkeit der Augenzeugenschaft für die Glaubwürdigkeit von Reiseberschreibungen in den Augen der Leser um 1600 hervor. „Wahrheit“ habe sich in diesen reich bebilderten Texten nur durch Betrachtung von Bild und Text ergeben können.

HOLE RÖSSLER (Luzern) sprach über die literarische Figur des „ungelesenen Buches“. Er legte drei Argumentationsstränge dar, mit denen in der Frühen Neuzeit die Praktiken des Nicht-Lesens verteidigt oder verurteilt wurden. So gab (und gibt) es nach Rössler den Vorwurf der „Bibliomanie“, des wahllosen Anhäufens von Büchern, die jedoch nicht gelesen werden. Hier wurde von Gelehrten eine betrügerische Buchpraxis kritisiert: Bücher sollte man lesen und nicht mit zum Schein der Gelehrsamkeit anhäufen. Bei der „Bibliophobie“ wurde das ungelesene Buch zum Sinnbild einer moralischen Gefährdung. Man sollte möglichst wenige lesen, um das eigene Denken nicht in schon vorgeschriebene Bahnen zu lenken: Genies lesen nicht, sondern denken. Bis heute habe die Praxis des „Nicht-Lesens“ ihren festen Platz im „Self-fashioning“ der Gelehrten. Als dritten (und auch historisch neuesten) Strang nannte Rössler die „Bibliopathie“, die Ansicht also, dass Bücherlesen Leib und Seele schwäche. Heilung davon versprachen Mediziner durch frische Landluft und Ruhe. Führt das ungelesene Buch als konkreter Gegenstand eine meist spurenlose Existenz, ist es als rhetorische Figur jedoch wichtig für die symbolische Konstruktion von Gelehrsamkeit.

Auch FLEMMING SCHOCK (Darmstadt) betonte im Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen Publikationsflut die Kritik an Gelehrten, die „vor lauter Wissen“ zu „bersten“ schienen. Anhand von Wissenskompendien von barocken Polygraphen wie Eberhard Werner Happel und Erasmus Francisci schilderte Schock die Praxis des sammelnden Lesens als Kunst zwischen Exzerpt und „Copy-Paste“. Bücher wurden im 17. Jahrhundert zunehmend kommerzialisiert und popularisiert. „Wissensmanagern“ wie Happel oder Francisci ging es auch darum, Wissensbestände „zurechtzustutzen“, um sie auf dem kommerziell ausgerichteten Buchmarkt auch einem nicht-akademischen Publikum zugänglich zu machen. Man bewegte sich in einem schier unendlichen Kontinuum von Büchern und Verweisen, wobei Bücher vermehrt auch Gegenstand des Gesprächs und nicht nur der Lektüre wurden. Man musste die antiken Klassiker nicht mehr zwingend im Original gelesen haben, um sie zu kennen und mit ihnen zu glänzen. Bücher wurden im 17. Jahrhundert zu „Steinbrüchen“, die von Kompilatoren immer wieder neu zusammengesetzt werden konnten.

MARTIN MULSOW (Erfurt/Gotha) erzählte die tragisch-komische Geschichte von Herrmann von der Hardt, Professor für orientalische Sprachen an der Universität Helmstedt. Durch allzu eigenwillige Bibelauslegungen wurde dieser mit einem Publikationsverbot belegt und einige seiner Manuskripte eingezogen. Er beschickte alsbald den verantwortlichen Herzog eine Reihe reich bebilderter „Comic-Strips der Verzweiflung“, unter anderem mit Fledermäusen, die auf emblematische Weise die Geschichten seiner kassierten und unveröffentlichten Bücher erzählten. Die kräftige Bildsprache führte Mulsow darauf zurück, dass nach von der Hardt auch der Bibel Bildstrukturen unterlägen, die eine Abfolge von Sinn-Bildern sei, welche er dann ganz real in seiner Verteidigungsschrift einsetzte. Ohne Erfolg allerdings: Die Fledermäuse verwandelten sich nicht in Tauben.

MICHAEL THIMANN (Florenz) stellte in einem als „Problemskizze“ konzipierten Vortrag sein Buchprojekt zu Künstlerbildung und Künstlerlektüre vor. Bisher sei Thimann zufolge noch nicht zusammenhängend untersucht worden, in welcher Weise Sprachbarrieren oder hohe Buchpreise in der Frühen Neuzeit die Beziehung zwischen dem Künstler und dem Buch behindert haben könnten. Das vorliegende Material (etwa überlieferte Register der Bibliotheken von Künstlern) wurde in der Vergangenheit oft vorschnell für einzelne Fälle nutzbar zu machen versucht. Thimann möchte sich nicht mit der Feststellung von Größe und Inhalt von Künstlerbibliotheken begnügen, sondern erhofft sich darüber hinaus Aufschluss über Künstlerbildung, -lektüre und wissen in der Frühen Neuzeit.

Die insgesamt 14 Referenten boten eine große fachliche und methodische Spannbreite: Einen architekturgeschichtlichen Vortrag hielt TOBIAS BÜCHI (Einsiedeln). Darin skizzierte er die Systematisierung von Fortifikationswissen im 16. und 17. Jahrhundert auf Grundlage der in Logik und Rhetorik entwickelten Kategorien. Einen technikgeschichtlichen Zugang zum Thema zeigte KARIN LEONHARD (Eichstätt): Sie beleuchtete den Übergang von handgemalten zu gedruckten Farben im Buch im späten 17. und 18. Jahrhundert, was damals noch, zumindest kommerziell, wenig Erfolg hatte. Kommerziell nutzbar gemacht sollten farbig gedruckte Bilder in Bücher erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden. LOTHAR SCHMITT (Zürich) sprach über Erasmus von Rotterdam, die Materialität von Buchwidmungen und davon, wie Erasmus, einer der ersten Gelehrten, die vom Schreiben leben konnten, das neue Medium des Buchdrucks zu Werbezwecken in eigener Sache benutzte. ACHATZ VON MÜLLER (Basel) sprach über Robert Burtons Buch "Anatomy of Melancholy" und stellte die Frage, ob das Buch eine „neue Theologie“ enthalte, oder eher „ein Buch zum Blättern“ sei.

Resümierend darf festgehalten werden, dass es der Organisation des Symposions gelungen ist, trotz einer großen fachlichen und methodischen Spannbreite eine Kohärenz der Beiträge zu erzielen, die vielfältige Bezüge unter den Einzelergebnissen ermöglichte. Etwas Grundsätzliches in der Bücherforschung wurde dabei deutlich sichtbar: Man weiss zwar viel über die Buchinhalte, noch immer aber ist wenig über den konkreten und persönlichen Umgang mit Büchern in der Frühen Neuzeit bekannt, denn das bloße Feststellen der Besitzverhältnisse von Büchern sagt noch wenig über deren Leserschaft und gängige Lesepraktiken aus.

Konferenzübersicht:

Werner Oechslin (Einsiedeln): Ausgewählte Bücher zum Thema

Anthony Grafton (Princeton): Jewish Books and Christian Readers: Another Renaissance

Peter Schmidt (München/Frankfurt a.M.): „Wahre Abbildung“. Bemerkungen zu einem Vermittlungsanspruch von Bildern zur Zeit des frühen Buchdrucks

Dorothee Schmidt (Basel): Kunst des Malens – Truck der Schrift. Intermedialität in den „petits voyages“ der Verleger de Bry

Marie Theres Stauffer (Genf): Bücher-Bilder. Die Darstellung katoptrischer Praktiken in frühneuzeitlichen
Schriften

Tina Asmussen (Luzern): Sinn-Bilder des Wissens. Die Exegese der Natur bei Athanasius Kircher

Achatz von Müller (Basel): Robert Burtons „Anatomy of Melancholy“. Eine neue Theologie oder ein
Buch zum Blättern?

Hole Rößler (Luzern): Das ungelesene Buch. Konjunkturen einer polemischen Figur

Martin Mulsow (Erfurt/Gotha): Comic-Strips der Verzweiflung. Zensur, akademische Freiheit und die
Personalisierung von Büchern

Lothar Schmitt (Zürich): Der doppelte Text: Zur Materialität von Buchwidmungen

Tobias Büchi (Einsiedeln): Synopsen in der Fortifikationsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts

Flemming Schock (Darmstadt): Die geschrumpfte Bibliothek. Das Buch als Gegenstand sammelnder
Lektüre im Barock

Michael Thimann (Florenz): Buch und Bücher. Intensive und extensive Lektüre bei Künstlern der
Frühen Neuzeit

Karin Leonhard (Eichstätt): Farbe im Buch