Metropolenkultur im Transfer. Orte – Inszenierungen – Netzwerke 1880-1930

Metropolenkultur im Transfer. Orte – Inszenierungen – Netzwerke 1880-1930

Organisatoren
Institut für vergleichende Städtegeschichte, Universität Münster; Kuratorium für vergleichende Städtegeschichte e.V.; Arbeitsbereich Zeitgeschichte, Freie Universität Berlin
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.03.2010 - 16.03.2010
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Von
Johanna Niedbalski / Anna Littmann, Berlin

Im Titel des diesjährigen Frühjahrskolloquiums des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster verbanden sich zwei große Begriffe, die ein viel versprechendes Forschungsfeld abstecken: die Metropolen und ihre Kultur. Die Transformationsprozesse der Jahrzehnte um 1900 ließen durch Industrialisierung und Verstädterung urbane Ballungsräume neuer Qualität entstehen. Ein zentrales Element dieser Veränderungen waren, so die der Konferenz zugrunde liegende Annahme, die Entstehung und Ausdifferenzierung einer neuen, spezifisch großstädtischen Vergnügungskultur. Diese metropolitanen Kulturformen – beispielsweise Theater, Zirkus, Panorama, Festumzug, Kino oder Kneipe – standen im Mittelpunkt der Vorträge und Diskussionen der Tagung. In den Sektionen „Orte“, „Medien“ und „Netzwerke“ wurde diskutiert, wie sich die Metropolenkultur in der Formierungsphase der Moderne herausbildete, inwiefern sie sich von früheren Formen des städtischen Vergnügens unterschied und welche spezifischen Ausdrucksformen sie im Kontext der Metropolen um 1900 annehmen konnte.

In seiner Keynote erinnerte KASPAR MAASE (Tübingen) zunächst an eine Kehrseite der Metropolenkultur: In weiten Kreisen – vor allem des Bürgertums – sei die Vergnügungskultur der Jahrhundertwende keineswegs als Bereicherung empfunden, sondern als „Schmutz“ und „Schund“ und somit als Gefahr angesehen worden. Er betonte, dass mit der Herausbildung der großstädtischen Vergnügungskultur eine zuvor unbekannte Fülle von Wissen produziert worden sei. Dieses Wissen sei in den Großstädten durch zahlreiche neue visuelle Medien jeder Bewohnerin und jedem Bewohner jederzeit zugänglich gewesen. Zahlreiche Zeitgenossen hätten dies allerdings als hoch problematisch eingeschätzt, da sich Kinder und Jugendliche die neuen Vergnügungs- und Wissenskulturen, die zuvor ausschließlich den Erwachsen zugänglich gewesen seien, eigenständig hätten aneignen können. Die bunt schillernde und omnipräsente „Kakophonie“ der Unterhaltungskultur habe eine ständige Verlockung dargestellt und daher – so Maase – die Sorgen von Eltern, Pädagogen, Kirchenvertretern und staatlichen Organen geweckt.

Die beiden folgenden Vorträge legten den Schwerpunkt auf die Orte der metropolitanen Vergnügungskultur. TOBIAS BECKER (Berlin) fragte in seinem Beitrag, ob Vergnügungsviertel in Metropolen um 1900 als Heterotopien im Sinne Foucaults verstanden werden könnten. Am Beispiel von fünf Städten aus Nordamerika, Europa und Asien und anhand von sieben Charakteristika entwarf Becker den Idealtypus eines Vergnügungsviertels um 1900. Vergnügungsviertel seien demnach Orte gewesen, die durch ihre Liminalität ungewöhnliches oder von der gesellschaftlichen Norm abweichendes Verhalten zugelassen haben. Klassengegensätze und die Trennung der Geschlechter seien hier tendenziell aufgeweicht worden. Theatrale und mediale Inszenierungen prägten die Viertel ebenso wie die eindeutig kommerzielle Ausrichtung ihrer Angebote. Vergnügungsviertel könnten – so das Resümee des Vortrags – nicht nur als Heterotopien und Gegenorte verstanden werden. Sie leisteten auch als Begegnungsräume einen wichtigen Beitrag zur Anpassung der Bewohnerinnen und Bewohner an das Leben in der Großstadt. Mit diesem Abschlussgedanken bezog sich Becker auf den Kulturwissenschaftler Gottfried Korff und dessen Konzept der „inneren Urbanisierung“.

Der Beitrag von SVEN OLIVER MÜLLER (Bielefeld) konzentrierte sich auf Opern- und Konzerthäuser in Metropolen und auf den Wandel der Musikrezeption und der Interaktion zwischen Publikum und Bühnengeschehen im Laufe des 19. Jahrhunderts. Das öffentliche Leben in den Auditorien der Musikhäuser sei zunächst auf Sichtbarkeit und Kommunikation, Selbstinszenierung und Genuss ausgerichtet gewesen und im Gegensatz zu heute erheblich undisziplinierter. Das schweigende Hörverhalten des Publikums habe sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts verbreitet, als die Musikrezeption zunehmend zur Sinnstiftung und zum Repräsentationsbedürfnis des bürgerlichen Publikums beigetragen habe. Dieser Wandel sei – so Müller – von Deutschland ausgegangen und habe sich zum Beispiel in Großbritannien erst mit zeitlicher Verzögerung durchgesetzt. Eine Nationalisierung, etwa die massive Abgrenzung „nationaler“ Musikstile, sei bei diesem Prozess paradoxerweise mit einer gleichzeitigen Europäisierung des Publikumsverhaltens und der Musikrezeption einhergegangen.

In seinem Abendvortrag entwarf PAUL NOLTE (Berlin) ein Bild der Metropolen um 1900 als Kristallisationspunkte der Moderne, in denen sich gesellschaftliche und kulturelle Prozesse überlagerten und damit Orte von besonderer Qualität schufen. Er analysierte zunächst die Bedingungen und Voraussetzungen, die die Erfahrung und Lebenswirklichkeit der Bewohner einer sehr großen Stadt geprägt haben. Wichtig wären vor allem das Bevölkerungswachstum, die Verdichtung der Wohnflächen und des Verkehrs, der zunehmende Stadt-Land-Gegensatz und die Entnaturierung der Stadtlandschaft sowie die Kommerzialisierung und die Herausbildung der Konsumkultur gewesen. Noch gäbe es keine griffige Definition, man könne aber drei Merkmale als konstitutiv für die Metropolenkultur um 1900 ansehen: Sinnliche Wahrnehmung, vor allem die zahllosen visuellen sowie auditiven Reize und Ästhetisierung der Alltagsgegenstände und der Körper; die Re-Inszenierung der großstädtischen Erfahrungen und Erlebniswelten auf einer weiteren Erfahrungsebene (zum Beispiel in Weltausstellungen) sowie die mit der Metropolenkultur einhergehende Entgrenzung der sozialen Ordnung. Viele Aspekte müssten derzeit noch als Forschungsdesiderate angesehen werden. Auch dürfen über die Beschäftigung mit der Vergnügungskultur nicht die „Gegenwelten“ vernachlässigt werden. Gegenwelten zur Metropolenkultur wären die Arbeitswelten, die industriellen Produktionsstätten der Großstädte, die Sphären der Politik und der kommunalen Stadtplanung, der Religion und der Weltanschauungen. So lasse sich die Metropole um 1900 nicht allein auf ihre Vergnügungskultur reduzieren, auch wenn diese zweifellos eine entscheidende Erfahrungsebene ihrer Bewohnerinnen und Bewohner war.

Die zweite Sektion wurde durch einen Vortrag von HANNO HOCHMUTH und JOHANNA NIEDBALSKI (beide Berlin) eingeleitet. Sie zeigten am Beispiel eines kleinbürgerlich-proletarisch geprägten Stadtviertels im Berliner Osten, wie vielfältig die lokale Vergnügungslandschaft jenseits der bekannten innerstädtischen Vergnügungsviertel sein konnte. Die zahllosen Kneipen, das kleine Ladenkino um die Ecke, aber auch Theater und Konzerthäuser haben sich an die lokale Bevölkerung des unmittelbaren Einzugsgebiets gerichtet. Für diese Angebote der Metropolenkultur schlugen die beiden Vortragenden den Begriff des „Kiezvergnügens“ vor. Im Kiezvergnügen habe es Orte gegeben, die das gesamte soziale Spektrum der Bewohner des Viertels repräsentierten aber auch Orte, die die sozialen Unterschiede abbildeten und reproduzierten. Während im Kiezvergnügen also sowohl soziale Inklusion über Klassen- und Geschlechtergrenzen hinweg als auch klare Segregation erkennbar gewesen seien, beschäftigte sich MATTHIAS WARSTAT (Erlangen-Nürnberg) mit einer Kultur, die sich eindeutig einem bestimmten sozialen Milieu zuordnen lässt: der Kultur der Arbeiterbewegung. Warstat zeigte, dass sich auch die Feste der Arbeiterbewegung in den Metropolen nach 1900 stark gewandelt haben. Die früheren Arbeiterbewegungsfeste haben sich dabei in metropolitane Massenveranstaltung transformiert. Dieser Wandel sei in Anlehnung an und in Konkurrenz zur kommerziellen Vergnügungskultur erfolgt, aber auch unter dem Einfluss der Theateravantgarde. Insbesondere seit 1918 haben die Feste der Arbeiterbewegung zunehmend performative Darbietungen und Vergnügungen integriert. Mit Josette Férals Theatralitätsdefinition, die auf die Metapher der „Passage“ rekurriert, erläuterte Warstat, dass die neuen Feierpraktiken somit in Ansätzen einen Übergang zwischen den starren Grenzen der Milieus ermöglicht haben.

Der dritte Vortrag der Tagungssektion „Inszenierungen“ konzentrierte sich auf die rein kommerziellen Vergnügungsorte der Zirkusse, Panoptiken und Varietés. SYLKE KIRSCHNICK (Potsdam) zeigte anhand zahlreicher Beispiele, mit welchen Strategien zum Beispiel Zirkusbetreiber ihre Angebote als „Schauläden der Großstadt“ inszenierten, bei denen die Anschaulichkeit und der Schauwert der einzelnen Attraktionen im Vordergrund gestanden haben. Da die Aussicht auf einen kommerziellen Erfolg hier das wichtigste Kriterium für die Gestaltung der Vorführungen gewesen sei, wurden Publikumswünsche, aber auch aktuelle Ereignisse in die Darbietungen eingewoben. Anhand des Beispiels der populäreren Zirkusvorstellungen lässt sich die bereits im Vortrag von Paul Nolte angesprochene Ebene der Verarbeitung großstädtischer Erfahrungen in der Metropolenkultur nachvollziehen.

In der abschließenden Sektion standen transnationale Netzwerke der metropolitanen Kultur im Vordergrund. PETER W. MARX (Bern) beschäftigte sich mit Transferprozessen und Vernetzungen zwischen den Theaterstars der europäischen Metropolen sowie mit Adaptionen von Schauspielsstilen, Rollenstereotypen oder Repertoires. Am Beispiel der Schauspielerin Jenny Groß, die um 1900 am Berliner Lessingtheater wirkte, machte Marx deutlich, wie die Modeindustrie den „Dernier Cri“ durch das Medium des Theaters von der Bühne in die Großstadt vermittelt habe. In der Person Jenny Groß vereinten sich aber auch zahlreiche Ambivalenzen und Schattenseiten eines Lebens als internationaler Star: Das Ringen um Selbständigkeit bzw. Emanzipation sei häufig als Gier diffamiert worden und konnte sich durchaus in das Gegenteil verwandeln und in Abhängigkeit (bis hin zur Prostitution) führen. Dies habe auf Jenny Groß in besonderer Weise zugetroffen, da sie als Frau und als Jüdin zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt gewesen sei. Ihre Emanzipation konnte nur innerhalb der Logik der Metropolenkultur erfolgen: Der Körper der Schauspielerin sei zur Ware auf der Bühne, zum lebenden Modejournal geworden. Die Inszenierungen der Bühnenschauspielerin haben sich mit ihrem strategisch inszenierten Privatleben vermischt.

KERSTIN LANGE (Leipzig) untersuchte in ihrem Vortrag den Transfer des argentinischen Tango in die europäischen Metropolen, die Reaktionen der professionellen Tanzlehrer und die Praktiken, die sie im Umgang mit der Herausforderung des „fremden“ Tanzes entwickelten. Während Tanzlehrer zuvor als moralische und physische Erzieher fungiert haben, die die nationale Kultur in die Körper ihrer zumeist bürgerlichen Schüler eingeschrieben haben, sahen sie sich ab dem Ende des 19. Jahrhunderts einer Fülle neuer und „fremder“ Einflüsse ausgesetzt. Zuvor ungewohnte Körperpraktiken, veränderte Sehgewohntheiten und akustische und musikalische Neuerungen haben die bisher eurozentrisch geprägten Tanzgewohnheiten in den Metropolen verändert. Eine regelrechte „Tango-Manie“ habe sich ausgebreitet. Auf diese Veränderungen sei seitens der Tanzlehrer in Paris und Berlin unterschiedlich reagiert worden. Während in Paris der Tango aufgenommen und durch gezielte Veränderungen der Choreographie „französisiert“ worden sei, haben ihn die Tanzlehrer in Berlin als Unterschichtentanz zunächst grundsätzlich abgelehnt. Die neuen Tänze seien hier als Bedrohung einer nationalen Tanzkultur empfunden und die zunehmende Transnationalität der metropolitanen Kultur – und hier lässt sich ein Bogen zum Vortrag von Kaspar Maase spannen – als Gefahr und nicht als Bereicherung wahrgenommen worden.

In seinem Schlusskommentar beschrieb HABBO KNOCH (Celle) die Populär- und Metropolenkultur als Schmelztiegel, der geprägt war von permanenter Innovation – der Vermischung und (Neu)-Erfindung von Stilen, Gattungen und Räumen des Vergnügens. Anhand von zehn Punkten fasste er Gemeinsamkeiten der in den Vorträgen geschilderten Phänomene zusammen, zeigte aber auch Brüche und Spannungsfelder auf und konstatierte Forschungslücken. Die Metropolenkultur als Herausforderung der bestehenden normativen Ordnung, das Spannungsfeld zwischen Auflösung und Fortbestand der sozialen Segregation, die Rolle der Metropolenkultur bei der Entstehung der modernen Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft und die Erzeugung von illusionären Welten in der Kultur der Metropolen haben in den Vorträgen immer wieder eine Rolle gespielt. Andere Aspekte hingegen müssten noch stärker beleuchtet werden, zum Beispiel stehe eine sorgfältige Periodisierung der Metropolenkultur noch aus. Auch mahnte Knoch, dass eine stärkere Berücksichtigung der Akteure und Rezipienten der Metropolenkultur erfolgen müsse und der Imperialismus, die Globalisierung und die Nationalisierung noch intensiver in den Blick genommen werden sollten.

Auch in der Abschlussdiskussion zeichnete sich ab, was anfangs bereits angedeutet wurde: Die beiden Begriffe „Metropole“ und „Kultur“ zu definieren, geschweige denn ihren Zusammenhang umfassend zu klären, konnte auch diese anderthalbtägige Konferenz nicht endgültig leisten. Sowohl die Vorträge als auch die Diskussionen zeigten aber, dass die Metropolenkultur der „langen Jahrhundertwende“ zahlreiche herausfordernde – und nicht zuletzt vergnügliche – Forschungsfelder und Forschungsfragen bereithält, die längst noch nicht erschöpfend bearbeitet und beantwortet sind.

Konferenzübersicht:

I. Einführung
Moderation: Werner Freitag (Münster)

Paul Nolte (Berlin): Einführung in das Thema

Kaspar Maase (Tübingen): „Quellen öffentlicher Sinnenerregung und Geistesverwirrung“. Metropolenkultur und Sichtbarkeit des Wissens vor dem Ersten Weltkrieg

II. Orte
Moderation: Armin Owzar (San Diego/Münster)

Tobias Becker (Berlin): Das Vergnügungsviertel. Heterotopischer Ort in der Metropole?

Sven Oliver Müller (Bielefeld): Das Publikum als Metropole. Das Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert

Paul Nolte (Berlin): Die Modernität der Metropole. Internationale Aufbrüche um 1900

III. Inszenierungen
Moderation: Martin Baumeister (München)

Hanno Hochmuth, Johanna Niedbalski (beide Berlin): Kiezvergnügen in der Metropole. Zur sozialen Topographie des Vergnügens im Berliner Osten

Matthias Warstat (Erlangen-Nürnberg): Milieu und Metropole. Theatrale Passagen der deutschen Arbeiterbewegung nach 1900

Sylke Kirschnick (Potsdam): Schauläden der Großstadt. Über Zirkus, Panoptikum und Varieté

IV. Netzwerke
Moderation: Thomas Großbölting (Münster)

Peter W. Marx (Bern): Als Großkapitalistin im Bühnenreich. Die Schauspielerin Jenny Groß und der Starkult im Wechselspiel der Metropolen

Kerstin Lange (Leipzig): „Les danses nouvelles“ in der alten Welt. Akteure in Paris und Berlin vor neuen Herausforderungen

Habbo Knoch (Celle): Schlusskommentar