Demokratie und Wirtschaft

Demokratie und Wirtschaft

Organisatoren
Altstipendiatischer Arbeitskreis „Geschichte“ der Hans-Böckler-Stiftung
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.05.2010 - 30.05.2010
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Von
Knud Andresen, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH)

Auf dem zweitägigen Workshop des altstipendiatischen Netzwerks Geschichte der Hans-Böckler-Stiftung stand das für die Gewerkschaftspolitik konstitutive Spannungsverhältnis von Wirtschaft und Demokratie im Zentrum der Vorträge und Projektvorstellungen. Es sollten, so das zuvor formulierte Ziel, die theoretischen Debatten über wirtschaftsdemokratische Konzeptionen einer historisch-kritischen Perspektive unterzogen, die großen Linien des typisch deutschen Modells der Industriellen Beziehungen hinsichtlich ihrer Periodisierungen und ihrer Perspektiven diskutiert, und schließlich unter Einschluss soziologischer Forschungen die mikropolitische Ebene von Betrieb und Demokratie beleuchtet werden.

Der erste Block zum Thema „Steuerstaat und Markt“ wurde von FLORIAN SCHUI (London) eröffnet. Er entwickelte die historische Entwicklung des Steuerstaates – ein in der Fachterminologie verbreiteter, in der Öffentlichkeit jedoch eher negativ belegter Begriff – aus zwei wesentlichen europäischen Entwicklungssträngen der letzten zweihundert Jahre und brachte es auf die Formel: Kapitalismus plus Demokratie = Steuerstaat. Das Grundproblem der Eigentumssicherung und der Anspruch auf Volksherrschaft könne so gelöst werden. Ausgehend von Beobachtungen Tocquevilles zur „Tyrannei der Mehrheit“ und einigen volkswirtschaftlichen Debatten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert um die Ausführung des Steuerstaates zeigte er auf, dass die Grundlinien sich verfestigten: ökonomische Zurückhaltung des Staates, aber Kompensation der fehlenden Volkssouveränität durch Ausbau des Steuersystems. Die gegenwärtige Kritik zielt häufig auf ein postuliertes Eigeninteresse des Staates, weniger an den demokratietheoretischen Implikationen des Steuerstaates. In der Diskussion wurde darauf verwiesen, dass die Formel Kapitalismus plus Demokratie = Steuerstaat nicht einfach austauschbar sei, da Kapitalismus und Steuerstaat auch ohne Demokratie funktioniere, ebenso das der Steuersatz sich erst mit dem Ausbau des Sozialstaates etablierte.

Anschließend sprach HANNES GIESSLER (Leipzig) in einem theoretischen Zugriff über die planmäßige Kontrolle der Produktion als Fluchtpunkt Marxscher Überlegungen. Dabei hob er hervor, dass bereits Platon sich von Vorstellungen seiner Gelehrtenrepublik abwandte, da eine Herrschaft der Gelehrten gegenüber dem abstrakten Gesetz nicht möglich sei und auch sie von Leidenschaften geprägt blieben. Giesslers Ansicht nach stand Karl Marx vor demselben Problem, da die von ihm angestrebte Aufhebung des Wertgesetzes zu einer individuellen Wertsetzung für Arbeit führen sollte. Letztlich scheiterten Platon wie Marx an diesem Problem. In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass diese eher begriffsphilosophische Herangehensweise stärker mit den verschiedenen Diskussionen und Experimenten wie dem Prager Frühling verschränkt werden sollte.

Im zweiten Tagungsblock „Mitbestimmung als politisches Konfliktfeld“ sprach zuerst STEFAN MÜLLER (Duisburg) über die Mitbestimmung bei der AEG 1945 bis 1952. Die Nachkriegsgeschichte war von gewerkschaftlicher Seite lange als Frage nach „Neuanfang oder Restauration“ diskutiert worden, in den letzten Jahren ist die Betonung der Erfolgsgeschichte, insbesondere durch die Gewerkschaften selbst, in den Vordergrund gerückt. Hierbei werde jedoch zumeist die konkrete Betriebspolitik zuwenig beachtet. Bei der AEG wurde im Oktober 1946 vom Hauptbetriebsrat und Geschäftsführung eine Betriebsvereinbarung geschlossen, die den Betriebsräten eine sehr weitgehende Mitsprache erlaubte, auch über die Produktionsprozesse. Die Gewerkschaften spielten in diesem Prozess eher eine nebensächliche Rolle. Mit dem Betriebsverfassungsgesetz 1952 wurden dann auch in der AEG die allgemeinen Regelungen übernommen. Nach Müller war die Betriebsvereinbarung der AEG einem verbreiteten Machtvakuum in den Betrieben bis 1947 geschuldet. In der Diskussion wurde die solitäre Position dieser Mitbestimmung betont, aber auch die relative Ferne der Gewerkschaften zur Betriebsratsarbeit, da für diese eher gesamtwirtschaftliche Lösungen im Vordergrund standen.

JENS HILDEBRANDT (Mannheim) stellte für die Wirtschaftsprogrammatik des DGB in den 1950er-Jahren die These auf, dass diese nicht ohne den Einfluss der deutschen Teilung zu verstehen sei. Der DGB vertrat bis zum Mauerbau einen Alleinvertretungsanspruch und entwickelte seine verschiedenen Programmatiken immer auch in Hinblick auf die DDR, so zum Beispiel Überlegungen zu einer „sozialpolitischen Magnetwirkung“ der bundesdeutschen Wirtschaft. Das in den 1970er- und 1980er-Jahren teils als reformistische Kehrtwende gezeichnete DGB-Grundsatzprogramm von 1963 sei daher nicht nur als Abkehr vorheriger, weitergehender Ziele, sondern auch als Anerkennung der Bundesrepublik zu lesen, da der Alleinvertretungsanspruch auch gegenüber den Beschäftigten in der DDR aufgegeben wurde.

KARL LAUSCHKE (Dortmund) fragte nach den Wirkungsmöglichkeiten der Arbeitsdirektoren, die mit dem Montangesetz von 1951 als eine völlig neue Institution eingerichtet wurden. Die Arbeitsdirektoren standen in dem Dilemma der „doppelten Loyalität“ und wurde entsprechend kritisiert: Die Unternehmensvorstände versuchten ihre Arbeit möglichst einzuhegen, während Teile der Gewerkschaften ihre Loyalität zur Kapitalseite kritisierten. In einer „antagonistischen Kooperation“ (Peter von Oertzen) hätten sie jedoch an der Gestaltung und Funktionalisierung der Personalpolitik einen erheblichen Anteil gehabt.

WERNER ABELSHAUSER (Bielefeld) sprach in dem Abendvortrag über den Zusammenhang von Wirtschaftskultur und der Mitbestimmung. Dabei entfaltete er die beiden unterschiedlichen institutionellen Pfade des (kontinentaleuropäischem) „Rheinischem Kapitalismus“ und (amerikanischen) „Standardkapitalismus“. Kennzeichen der deutschen Wirtschaftskultur sei auch eine institutionell abgesicherte Mitbestimmung, deren Entwicklung schon im ausgehenden 19. Jahrhundert begann. Zur Zeit sieht Abelshauser einen transatlantischen „Wirtschaftskulturkampf“ walten, in dem die Gewerkschaften sich auf die Seite Europas stellen sollten. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Vorteile der „deutschen Wirtschaftskultur“ sollten, so Abelshauser, von den Gewerkschaften stärker in den Vordergrund der Debatte gerückt werden.

Im letzten Block „Mitbestimmung als Forschungsfeld“ sprach HELMUT MARTENS (Dortmund) über die Mitbestimmung im Epochenbruch. Dabei griff er auf Untersuchungen der Sozialforschungsstelle Dortmund über die Wirksamkeit des Mitbestimmungsgesetzes von 1976 zurück, in denen der gewerkschaftliche Einfluss in den Aufsichtsräten untersucht wurde. Angesichts ritualisierter Abläufe und bereits vorher ausgehandelter Beschlüsse sei der Einfluss bereits in den 1970er-Jahren wenig gestaltend gewesen. In der gegenwärtigen Diskussion sei die wirtschaftliche Effizienz der Mitbestimmung in den Vordergrund der Debatten gerückt. Die Paradoxie sei, dass die Beteiligungspotentiale in der Wirtschaft erheblich höher als noch vor dreißig Jahren seien, die Frage nach der Mitbestimmungswirksamkeit werde in der Industriesoziologie wieder mehr untersucht.

Anschließend sprach DAVID GILGEN (Bielefeld) über „Cooparate Social Responsibility“ (CSR). CSR-Konzepte waren Ende der 1960er-Jahre im angelsächsischen Raum vom Management eingeführt worden, um Mitbestimmungsdefizite auszugleichen. Angesichts eines internationalen Wettbewerbs rücke die Frage nach einem moralisch grundierten, dennoch erfolgreichen Wirtschaften mehr in den Blickpunkt. CSR-Konzepte breiten sich vor allem in den OECD-Ländern aus. Aber die CSR-Konzepte werden oft von den Unternehmen selbst verfasst und als PR-Aktion kritisiert. Dennoch geht Gilgen davon aus, dass CSR-Konzepte eine zunehmende Rolle im globalen Wettbewerb spielen werden.

Als letztes berichtete JOHANNES PLATZ (Köln) über die Entwicklung der Industriesoziologie in den 1950er-Jahren. Neben dem Wirtschaftswissenschaftlichen Institut des DGB übernahm auch das Frankfurter Institut für Sozialforschung Auftragsarbeiten aus der Industrie, um Mitbestimmung zu untersuchen, ebenso die konservative Sozialforschungsstelle in Münster. Trotz unterschiedlicher Herkünfte hätte die Industriesoziologie mit ihren Forschungen dazu beigetragen, einen Leitbildwandel in den Unternehmen vom autoritär-paternalistischen Stil hin zu kooperativen Arbeitsformen zu begründen. Für die Soziologie forcierten die industriesoziologischen Untersuchungen den Wandel von substantialistisch Begriffen wie „Betriebsgemeinschaft“ zu funktional-relationalen Beschreibungen.

Die Tagung zeigte anhand der ausgewählten Beispiele, dass das Verhältnis von Wirtschaft und Demokratie insbesondere für die bundesrepublikanische Geschichte noch viele Fragen aufwirft. Zwar kann auf eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Arbeiten insbesondere der 1970er- und 1980er-Jahren zurückgegriffen werden. Die Bedeutung von Demokratie in der Wirtschaft bleibt aber ein letztlich ungelöstes Problem, dem angesichts der Krisenerscheinungen der letzten Jahre und schärferer sozialer Spannungen wieder erneut eine größere Bedeutung zukommen könnte. Dabei bleibt offen, ob es sich in der bundesdeutschen institutionalisierten Mitbestimmung oder angesichts von Beteiligungspotentialen auch in neuen Formen zeigen wird. Die Tagung hat Anregungen für die historische Betrachtung gegeben, zugleich auf Forschungsdesiderate verwiesen.

Konferenzübersicht:

Ralf Richter, Stefan Müller: Begrüßung und Einführung in den Workshop

Florian Schui (London): Kapitalismus und Demokratie: Grundlinien der Entwicklung des europäischen Steuerstaats seit 1789.

Hannes Gießler (Leipzig): Der Markt – seine historischen Errungenschaften und das sozialistische Ansinnen seiner Aufhebung.

Stefan Müller (Duisburg): Der Konflikt um die Mitbestimmung in der AEG 1945-1952.

Jens Hildebrandt (Mannheim): Wirtschaftsprogrammatik des DGB im Spannungsfeld des Kalten Krieges.

Karl Lauschke (Dortmund): Rolle, Funktion und Selbstverständnis von Arbeitsdirektoren in der Montanindustrie.

Werner Abelshauser (Bielefeld): Deutsche Wirtschaftskultur und Mitbestimmung.

Helmut Martens (Dortmund): Mitbestimmung im Epochenbruch – Ein Beitrag aus sozio-logischer Sicht.

David Gilgen (Bielefeld): Soziale Verantwortung von Unternehmen – Instrument des neoliberalen Kapitalismus oder Modell für Europa? Entwicklung und Verbreitung von CSR Konzepten seit 1970.

Hannes Platz (Köln): Mitbestimmung im Fokus der empirischen Sozialforschung – Deutungskontroversen und Gemeinsamkeiten im Feld der Industriesoziologie 1950-1960.


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Deutsch
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