Vom Ostblock zur EU: Systemtransformation in den Jahren 1990 bis 2010 – vergleichende Perspektiven

Vom Ostblock zur EU: Systemtransformation in den Jahren 1990 bis 2010 – vergleichende Perspektiven

Organisatoren
Hannah-Arendt-Institut Dresden
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.06.2010 - 26.06.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Andreas Kötzing, Historisches Seminar, Universität Leipzig.

Der Zusammenbruch des Ostblocks in den Jahren 1989/90 hat Europa so nachhaltig verändert wie kaum ein anderes Ereignis seit dem Ende des II. Weltkriegs. In den ehemals von der Sowjetunion dominierten Staaten setzte ein historisch einzigartiger Transformationsprozess ein, der bis heute andauert: der Wandel des Wirtschaftssystems von einer sozialistischen Plan- zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft, der Aufbau eines demokratischen Staats- und Verwaltungswesens, die Etablierung einer rechtsstaatlichen Gerichtsbarkeit bis zur Gründung unabhängiger Medien – die Veränderungen erstreckten sich auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche. Die Dresdner Tagung, die vom Hannah-Arendt-Institut (HAIT) veranstaltet und von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur finanziell unterstützt wurde, machte es sich zur Aufgabe, den Verlauf des Transformationsprozesses in den vergangenen 20 Jahren zu resümieren und die individuelle Entwicklung der einzelnen Staaten miteinander zu vergleichen. Als vorteilhaft erwies sich dabei die Konzeption des Tagungsleiters und Direktors des Hannah-Arendt-Instituts, Günther Heydemann (Leipzig), die einzelnen Vorträge zu standardisieren. Die meisten Referenten orientierten sich daher an einer vorgegebenen Gliederung und rückten die Themenfelder Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu jeweils gleichen Teilen in den Mittelpunkt ihrer Länderbetrachtungen. Die angestrebte Vergleichsperspektive ergab sich dadurch wie von selbst.

Das erste Panel der Tagung beschäftigte sich mit den baltischen Staaten, wobei sich schnell abzeichnete, dass eine gemeinsame Klassifizierung von Estland, Lettland und Litauen nur aufgrund ihrer geographischen Lage möglich ist. Ansonsten überwiegen die Unterschiede zwischen den drei Ländern, die gleichwohl häufig zu einem scheinbar einheitlichen „Baltikum“ zusammengefasst werden. RALPH WROBEL (Zwickau) bezeichnete die Entwicklung Estlands als einen „Extremfall der Systemtransformation“, da das Land nach 1990 eine radikal-liberale Entwicklung durchlaufen habe. Schnelle und umfangreiche Wirtschaftsreformen, einschließlich einer vollständigen Privatisierung bis hin zum Verkauf ganzer Staatsbetriebe ins Ausland, hätten den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes beschleunigt, es aber zugleich stark krisenanfällig gemacht: Durch die große Auslandsabhängigkeit brach Estlands Wirtschaft während der internationalen Finanzkrise dramatisch ein, die Arbeitslosenquote stieg 2009 auf über 13 Prozent. Dank einer konsolidierten Demokratie, einer stabilen Zivilgesellschaft und einer sehr guten technischen Infrastruktur (Ausbau des Internets) werde sich Estland jedoch wahrscheinlich schnell von der Krise erholen können, so Wrobel. Im Vergleich zur estnischen Entwicklung verlief der wirtschaftliche Transformationsprozess in Lettland weniger radikal, wie CLAUDIA-YVETTE MATTHES (Berlin) in ihrem Vortrag betonte. Reformen seien dort langfristiger angelegt gewesen und wurden zudem durch häufig wechselnde Koalitionen und verschiedene Regierungsrücktritte verzögert. Profitierte Lettland in den zurückliegenden Jahren noch von einem stetig wachsenden Bruttoinlandsprodukt, wirkte sich die Finanzkrise seit 2007 verschärft aus: Der Internationale Währungsfonds musste Lettland sogar mit Krediten in Höhe von 7,5 Milliarden Euro unterstützen, um einen drohenden Staatsbankrott zu verhindern. Insbesondere die wachsende Zahl von Oligarchen, die Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben, würde das Land aktuell vor große Probleme stellen, so Matthes. ROLF WINKELMANN (Oldenburg) schilderte anschließend die Entwicklung Litauens, das mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Darüber hinaus betonte er die gemeinsame Herausforderung, mit der alle drei baltischen Staaten nach 1989/90 konfrontiert waren: Zusätzlich zum Aufbau eines demokratischen Staats- und Rechtssystems durchliefen die Länder den schwierigen Prozess einer Nationalstaats(neu)gründung, waren doch alle drei Staaten durch die sowjetische Okkupation nach 1945 in die UdSSR eingegliedert worden. Probleme bereitete dabei unter anderem der Umgang mit der russischsprachigen Minderheit – nur in Litauen gelang die Integration verhältnismäßig gut, da die Russen bereits 1990 die litauische Staatsbürgerschaft annehmen konnten, wie Winkelmann anmerkte. Matthes und Wrobel unterstrichen hingegen die starken Konflikte in Estland und Lettland, wo Teile der russischsprachigen Minderheit bis heute von jeglicher politischer Teilhabe ausgeschlossen sind.

Schon während der ersten drei Vorträge zeichneten sich einige zentrale Probleme ab, die nicht nur in den baltischen Staaten, sondern auch in vielen anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks im Zuge des Transformationsprozesses entstanden sind und zum Teil bis heute bestehen: Ein großes Stadt-Land-Gefälle innerhalb der wirtschaftlichen Entwicklung beispielsweise; mehrere Referenten betonten unabhängig voneinander, dass sich der wirtschaftliche Aufstieg überwiegend auf die jeweilige Hauptstadtregion eines Landes konzentriere. Charakteristisch für viele Staaten des ehemaligen Ostblocks sei zudem ein stark fragmentiertes Parteiensystem, eine nur schwer zu unterbindende Korruption in vielen Bereichen sowie gravierende soziale Probleme, allen voran hohe Armutsquoten und ein im Vergleich zu westeuropäischen Ländern nach wie vor defizitäres Bildungs- oder Gesundheitswesen.

Jenseits dieser Gemeinsamkeiten betonten die Referenten allerdings auch zahlreiche Unterschiede, insbesondere bei der Schilderung des konkreten Revolutionsverlaufs der Jahre 1989/1990. Slowenien musste beispielsweise lange Zeit um seine Unabhängigkeit kämpfen und sich gegen eine militärische Invasion Jugoslawiens zur Wehr setzen, ehe die Eigenständigkeit 1992 international anerkannt wurde, wie PETER VODOPIVEC (Ljubljana) in seinem Vortrag betonte. Noch weniger „friedlich“ verlief die Revolution in Rumänien, wo die Ceauşescu-Regierung Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auflöste und zahlreiche Menschen ums Leben kamen. BOGDAN MURGESCU (Bukarest) schilderte den diffizilen Neuanfang in Rumänien, der auch dadurch erschwert worden sei, dass viele der ehemaligen Kommunisten in der neu gegründeten Partei PSD (Partidul Social Democrat) weiterhin an der Macht blieben. Anders war die Situation in Bulgarien, wo die Kommunistische Partei selbst den Anstoß zur Revolution gab, in dem sie am 10. November 1989 den Rücktritt des Parteivorsitzenden Schiwkow erzwang. WOLFGANG HÖPKEN (Leipzig) wies in seinem Referat darauf hin, dass es in Bulgarien im Unterschied zu den übrigen sozialistischen Staaten zuvor keinen zielgerichteten Protest oder eine wachsende Unruhe in der Bevölkerung gegeben hätte. Es habe daher an einer kritischen Gegenelite gemangelt, die von sich aus auf Reformen gedrängt hätte, so dass der Transformationsprozess „verschleppt“ worden sei und es erst im Verlauf der 1990er-Jahre zu tatsächlichen Veränderungen kam. Vergleichsweise einzigartig verlief die Transformation Ungarns, da es dort keine „Revolution“ im eigentlichen Sinne des Wortes gab, wie JÜRGEN DIERINGER (Budapest) in seinem Vortrag anmerkte. Der kommunistische Parteiapparat hätte sich zum Teil schon vor 1989 selbst aufgelöst, viele der ehemaligen politischen Eliten seien in die Privatwirtschaft „geflüchtet“, um von dort aus weiter politischen Einfluss auszuüben. Eine charakteristische Eigenschaft, die sich bereits während der realsozialistischen Zeit entwickelte, habe sich in der ungarischen Gesellschaft bis heute erhalten: Ein großes Misstrauen gegenüber politischen Institutionen innerhalb der Bevölkerung, die sich lieber in die Privatsphäre zurückziehe, als sich aktiv am politischen Tagesgeschehen zu beteiligen.

Ein geringes Interesse an politischer Partizipation konstatierte KLAUS ZIEMER (Trier) auch für die polnische Gesellschaft – selbst bei den richtungweisenden Wahlen im Sommer 1989 lag die Wahlbeteiligung bei nur 68 Prozent. Zivilgesellschaftliche Strukturen seien bis heute nur schwach ausgeprägt, allerdings entspräche das insgesamt schlechte Image des polnischen Staates keineswegs den tatsächlichen Transformationserfolgen in den vergangenen 20 Jahren. Trotz einer hohen Ungleichheit bei den Einkommen, einer geringen Erwerbsquote und einer stark gestiegenen Privatverschuldung sei Polen das Land, das innerhalb der EU am besten mit den Folgen der internationalen Finanzkrise zurechtgekommen sei: Im Gegensatz zu allen anderen Ländern schrumpfe die polnische Wirtschaft nicht.

Dabei profitierte Polen zweifelsohne von der geographischen Nähe zu den westeuropäischen Staaten, da hier die Nachfrage nach polnischen Arbeitskräften aufgrund des starken Lohngefälles nach wie vor groß ist. Auch beim Absatz eigener Produkte spielt die regionale Anbindung an Westeuropa eine gravierende Rolle, wie KAREL VODICKA (Karlsruhe) in seinem Vortrag über Tschechien betonte. So habe beispielsweise die tschechische Automobilindustrie und deren Zulieferer zuletzt stark von der deutschen „Abwrackprämie“ profitiert, da die Nachfrage auf dem Automarkt trotz Wirtschaftskrise gewachsen sei. Vodicka ging in seinem Vortrag auf die schwierige Situation in Tschechien nach 1989/90 ein, als die ehemalige CSSR geteilt wurde, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung damals nicht für die Spaltung des Landes gewesen sei. Das bestätigte auch RÜDIGER KIPKE (Siegen) in seinem Vortrag über die Slowakei. Gleichwohl betonte er, dass es schon vor 1990 in der CSSR zwei „Gesellschaften“ gegeben habe, eine slowakische und eine tschechische. Auffällig sei beispielsweise die hohe religiöse Bindung der Bevölkerung in der Slowakei im Vergleich zur starken Säkularisierung der tschechischen Gesellschaft (circa 60 Prozent Atheisten). Kipke hob in seinem Vortrag einen weiteren Punkt hervor, der verhältnismäßig außergewöhnlich sei: die Marginalisierung der ehemaligen politischen Eliten innerhalb der slowakischen Parteienlandschaft; bei den Parlamentswahlen im Juni 2010 erhielt die kommunistische Partei nicht einmal ein Prozent der Stimmen.

Im Vergleich dazu sind die Nachfolgeorganisationen der ehemaligen Staatsparteien in vielen anderen Staaten sehr präsent, beispielsweise in den neuen Bundesländern, wo die Partei „Die Linke“ inzwischen den Charakter einer etablierten Volkspartei angenommen hat und an mehreren Landesregierungen beteiligt ist, wie GÜNTHER HEYDEMANN (Leipzig) in seinem Vortrag unterstrich. Er schilderte den in vielerlei Hinsicht einzigartigen Transformationsprozess der ehemaligen DDR als einen immensen Kraftakt, der anfangs darunter litt, dass die DDR-Wirtschaft und ihre Produktivleistung von westdeutscher Seite völlig überschätzt worden sei. In der Tat habe die umfangreiche Privatisierung der ehemaligen Staatsbetriebe durch die Treuhand nicht die anvisierten 600 Milliarden DM in die Staatskassen gespült, sondern ein Defizit von 200 Milliarden DM verursacht. Transferleistungen würden auch in Zukunft notwendig sein, bis sich in Ostdeutschland eine selbstständige, tragfähige Wirtschaft etabliert habe. Wenngleich sich die sozialen Probleme im Vergleich zu den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks eher gering ausnehmen, stünden auch die neuen Bundesländer vor großen Herausforderungen, insbesondere die Bewältigung des demographischen Wandels, da die Anzahl junger Leute, die auf der Suche nach einem Job in die alten Bundesländer ziehen, seit Jahren zunehme.

In der abschließenden Diskussion rückten noch einmal verstärkt die Vergleichsmöglichkeiten zwischen den vorgestellten Staaten in den Mittelpunkt der Betrachtung. Günther Heydemann benannte anfangs vier Punkte, die als Grundlage für einen Vergleich dienen könnten: die Stabilität des Parteiensystems, die Rolle der ehemaligen Machtinhaber im Revolutionsverlauf und darüber hinaus, die Transformation des Wirtschaftssystems und die Frage, inwiefern man in den jeweiligen Ländern inzwischen von einer konsolidierten Demokratie sprechen könne. Insbesondere der letzte Punkt warf die interessante Frage auf, an welchen konkreten Kriterien sich die „Konsolidierung“ eines Staates messen lässt. Wolfgang Höpken merkte im Hinblick auf die aktuelle politische Entwicklung Griechenlands, Italiens oder Belgiens an, dass die westeuropäischen Staaten nur noch bedingt als Vergleichsmaßstab für eine „erfolgreiche“ Konsolidierung gelten könnten. Er plädierte zudem dafür, bei einer zeitgeschichtlichen Analyse des osteuropäischen Transformationsprozesses die strukturgeschichtliche Prägung des jeweiligen Landes, auch über die Zeit vor 1945 hinaus, mit in die Untersuchung einzubeziehen. Klaus Ziemer griff diese Anmerkung auf und stellte die These zur Diskussion, ob sich bei den Entwicklungen der einzelnen Länder möglicherweise sogar langfristige kulturelle Prägungen auswirken könnten, beispielsweise die ehemalige Grenze zwischen dem Weströmischen und dem Byzantinischen Kaiserreich, die den Balkan von den mittel- und nordosteuropäischen Staaten trennte. Bogdan Murgescu und andere Referenten hinterfragten diese These jedoch kritisch.

Einigkeit bestand indes unter den Tagungsteilnehmern, dass eine vergleichende Betrachtung des Transformationsprozesses in den osteuropäischen Staaten ein zentraler Gegenstand der geschichts- und politikwissenschaftlichen Forschung sein muss. Die Tagung lieferte hierzu viele interessante Ansätze, die in absehbarer Zeit veröffentlich werden sollen: Das Hannah-Arendt-Institut plant die Veröffentlichung eines Handbuches, das – basierend auf den Vorträgen der Tagung – die Entwicklung aller osteuropäischen Staaten zwischen 1989/1990 und dem Jahr 2010 schildern und sowohl in englischer als auch in deutscher Sprache erscheinen soll.

Konferenzübersicht:

Günther Heydemann (Leipzig), Begrüßung/Einführung

Panel I.
Ralph Wrobe (Zwickau), Estland

Claudia-Yvette Matthes (Berlin), Lettland

Rolf Winkelmann (Oldenburg), Litauen

Panel II.

Jürgen Dieringer (Budapest), Ungarn

Klaus Ziemer (Trier), Polen

Panel III.

Karel Vodicka (Karlsruhe), Tschechien

Rüdiger Kipke (Siegen), Slowakei

Peter Vodopivec (Ljubljana), Slowenien

Panel IV.

Günther Heydemann (Leipzig), DDR/Neue Bundesländer

Panel V.

Bogdan Murgescu (Bukarest), Rumänien
Wolfgang Höpken (Leipzig), Bulgarien

Vergleichende Abschlussdiskussion