Grenzen und Aussöhnung – Deutschland und seine Nachbarn seit 1945 / Frontières et reconciliation – L’Allemagne et ses voisins depuis 1945

Grenzen und Aussöhnung – Deutschland und seine Nachbarn seit 1945 / Frontières et reconciliation – L’Allemagne et ses voisins depuis 1945

Organisatoren
Université Paris I – Pantheon-Sorbonne / UMR Irice; Historisches Seminar (Zeitgeschichte), Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Centre Interdisciplinaire d’Etudes et de Recherches sur l’Allemagne (CIERA)
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
12.02.2010 - 13.02.2010
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Von
Andreas Linsenmann, FB 07, Historisches Seminar, Arbeitsbereich Zeitgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die bilinguale Tagung „Grenzen und Aussöhnung – Deutschland und seine Nachbarn seit 1945 / Frontières et réconciliation – L’Allemagne et ses voisins depuis 1945“, die am 12. und 13. Februar 2010 an der Université Paris 1 (Panthéon-Sorbonne) stattfand und von der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH-UFA) und dem Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA) gefördert wurde, diente der Untersuchung der Frage, welche Rolle Grenzen und Grenzräume im Prozess der Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt haben und spielen. Die Tagung, die sich in ein Forschungs- und Lehrprogramm (CIERA-Irice) unter dem Titel „Spuren des Krieges, Erinnerung und Aussöhnung – Deutschland und Europa seit 1945 / Traces de guerre – mémoire et réconciliation. L’Allemagne et Europe depuis 1945“ einreihte, firmierte dabei als Atelier und richtete sich besonders an Nachwuchswissenschaftler.

Eingeleitet wurde die Tagung mit einer Problematisierung und Konzeptualisierung der Leitbegriffe „Grenze“ und Aussöhnung“ durch BERNARD LUDWIG (Université Paris 1-UMR Irice / Friedrich Schiller-Universität Jena) und ANDREAS LINSENMANN (Johannes Gutenberg-Universität Mainz).

Das erste Panel richtete den Blick auf die deutsch-polnische Grenze in einem Spannungsfeld zwischen Kaltem Krieg und Versöhnung. PIERRE-FRÉDÉRIC WEBER (Universität Szczecin), thematisierte zunächst die Bedeutung der Grenze zwischen der DDR und Polen und zeigte anhand von Indikatoren wie Infrastruktur und Bevölkerung, dass es sich trotz der Systemkonvergenz und trotz gesteigerter Durchlässigkeit in den 1970er- und 1980er-Jahren um eine Trennlinie handelte, die lebensweltlich und diskursiv großes Gewicht behielt. DOMINIK PICK (Universität Viadrina-Frankfurt an der Oder / Universität Warschau) machte deutlich, dass, obwohl es zwischen der Bundesrepublik und Polen keine Staatsgrenze gab, die Grenze in den bilateralen Beziehungen gleichwohl einen bedeutenden Faktor darstellte. Er legte dar, welche Perzeptionen und Motive sich speziell in den 1970er-Jahren auswirkten und unterstrich, dass selbst wachsender Tourismus kaum zur Dekonstruktion wechselseitiger Stereotypisierungen beitrug.

Im zweiten Panel wurden die deutsch-polnischen Konstellationen auf den Aspekt der Minderheiten enggeführt. MAIK SCHMERBAUCH (Phil.-Theologische Hochschule St. Georgen, Frankfurt am Main) lenkte den Blick auf den oberschlesischer Priester Franz Wosnitza (1902-1979). Aufgrund des Aufbaus eines Hilfs- und Kommunikationsnetzwerks für aus Oberschlesien vertriebene Katholiken in Westdeutschland sowie mäßigende Äußerungen zur Frage einer möglichen Rückkehr schrieb er Wosnitza einen relevanten Beitrag zur Versöhnung zwischen Deutschen und Polen nach 1945 zu. ELZBIETA OPILOWSKA (Universität Wroclaw) analysierte die Wahrnehmung der deutsch-polnischen Grenze in der Europastadt Görlitz/Zgorzelec vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Jahr 2007. Die mikrohistorische Perspektive ermöglichte analytische Erträge, machte jedoch auch Gefühlslagen beiderseits der Grenze anschaulich. So entwickelte sich in den 1970er-Jahren neben aller Konkurrenz und Geringschätzung bei Deutschen wie Polen die Einschätzung, dass beide Gruppen Opfer geworden seien, woraus offenbar ein subtiles Gefühl der Verbundenheit resultierte. SÉGOLÈNE PLYER (Université Paris 1/UMR Irice), untersuchte am Beispiel Broumov/Braunau die Rolle der Sudetendeutschen in den deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen. Sie skizzierte die Sudetendeutsche Landsmannschaft als effektive „Pressure Group“ und zeigte auf, dass der Verband einerseits auf positive Vermittlungsarbeit verweisen könne, andererseits jedoch auch ein Interesse daran habe, eine bestimmte Identität der Vertriebenen zu konservieren. Die Bemühungen um Annäherung würden zudem durch ein nach wie vor beträchtliches Überlegenheitsgefühl auf deutscher Seite konterkariert.

Das dritte Panel untersuchte am zweiten Tag den Nexus zwischen Kriegserfahrung in Grenzgebieten in späterer Annäherung. CHRISTINE GUNDERMANN (Freie Universität Berlin) zeigte Grundmuster und Wandlungsprozesse in den deutsch-niederländischen Erinnerungskulturen an den Zweiten Weltkrieg im Grenzraum der EUREGIO auf. Sie setzte dabei Gedenkrituale und Denkmäler in Bezug zu vorherrschenden Narrativen und machte deutlich, wo Kontinuitätslinien festzustellen seien und inwiefern von zivilgesellschaftlicher Seite eine Weiterentwicklung von Erinnerungskulturen gelang. Deutlich wurde dabei eine komplexe Gemengelage mit bemerkenswerten Transfers einerseits und Beharrungskräften andererseits. CHRISTOPH BRÜLL (Université de Liège) analysierte die Rolle des deutsch-belgischen Grenzraums bei der Annäherung beider Länder. Er stellte die nationale Ebene dem Grenzraum gegenüber und zeigte, dass es trotz belastender Faktoren wie Besetzung, Kollaboration und belgischen Annexionsforderungen nicht nur bilateral vergleichsweise rasch zu einer Konfliktbereinigung und pragmatischen Annäherung kam. Im Grenzraum mit seinen spezifischen Interaktionsfeldern sah er jedoch nur sektoral Indikatoren für die deutsch-belgischen Beziehungen und konstatierte – im Gegensatz etwa zum deutsch-niederländischen Beispiel –die bemerkenswerte Hinwendung zu einer gemeinsamen grenzüberschreitenden Nachkriegserinnerung. CHRISTIANE KOHSER-SPOHN (Eberhard Karls-Universität Tübingen), perspektivierte den Prozess der politischen Épuration im Elsass im Zeitraum von 1944 bis 1953 als Vorbedingung und Triebfeder der späteren deutsch-französischen Annäherung. Sie machte auf soziokulturelle Auswirkungen des mehrfachen Wechsels der nationalen Zugehörigkeit der Region aufmerksam und zeigte, wie der Druck, sich zu germanisieren oder zu französisieren letztlich auch das Bewusstsein keimen ließ, sich nicht lediglich an der Peripherie des jeweiligen nationalen Kommunikationsraumes zu befinden, sondern aus der geschichtlichen Erfahrung auch eine spezifische Mittleraufgabe ableiten zu müssen.

Das vierte Panel richtete den Blick auf den Grenzraum als Lebenssphäre mit spezifischen Bedingungsfaktoren. JULIA PUTSCHE (Pädagogische Hochschule Karlsruhe / Université de Strasbourg) stellte erste Ergebnisse einer Studie zu Vorstellungen und Haltungen von Kindern einer Grundschule mit verstärktem Französischunterricht in Kehl zum unmittelbar benachbarten Frankreich und Franzosen vor. Die Linguistin zeigte, dass die Bilder vom Nachbarn überwiegend positiv, jedoch auch von Stereotypen geprägt seien und die Äußerungen der Kinder wiederum in engem Zusammenhang mit Einflüssen vonseiten der Eltern und der Lehrer stünden. NINA JEBSEN (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) thematisierte die Situation der deutschen Minderheit im deutsch-dänischen Grenzgebiet. Sie formulierte die These von einem vom Narrativ des konfliktfreien Zusammenlebens getragenen faktischen „Verschwinden der Grenze“ und legte dar, dass bei der bis zu 20.000 Personen umfassenden deutschsprachigen Minderheit eine „Identitätsbricolage“ festzustellen sei, bei der eine ausgeprägte regionale Verwurzelung und verschiedene Stränge von Zugehörigkeiten komplex ineinander liefen, die jedoch nicht konkurrierten. ANNE DIPPEL (Humboldt-Universität zu Berlin) schließlich ging in essayistischer Weise den österreichisch-deutschen Beziehungen nach und verband dabei ethnographische Methodik mit einer historiographischen Perspektive. Sie machte deutlich, dass sich die österreichische Identitätskonstruktion nach wie vor in ausgeprägter Wechselwirkung mit dem in gemeinsamer Geschichte verschwisterten deutschen Nachbarn vollziehe, der in vieler Hinsicht eine unumgehbare Referenz darstelle und akzentuierte dabei besonders die Omnipräsenz deutscher Medien.

In der Schlussdiskussion wurde das Paradigma letztlich auf ähnliche Ziele zulaufender Annäherungs- und Aussöhnungsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg kritisch hinterfragt. Ferner wurden Vergleichsaspekte und Spezifika der betrachteten Grenzräume herausgearbeitet. Dabei wurde festgestellt, dass in Grenzräume historisch bedingte Problemkonstellationen häufig in verstärkter Weise präsent waren, dass es jedoch auch besondere Interaktionsbereiche und Interessen gab, die dazu beitrugen, dass gerade in Grenzräumen Brückenschläge unternommen wurden, die den Prozess der Aussöhnung voranbrachten. Besonderes Gewicht wurde dabei in der Diskussion zivilgesellschaftlichen Akteuren zugemessen. Ein Fazit lautete jedoch auch, dass Grenzen mitunter eher ein Nebeneinander als ein Miteinander beförderten. Breiter Konsens herrschte hinsichtlich der Feststellung, dass sich der Kalte Krieg in vielen Fällen als retardierender Faktor der Interaktion gerade in Grenzräumen ausgewirkt habe.

Konferenzübersicht:

BERNARD LUDWIG (Université Paris 1-UMR Irice/Friedrich Schiller-Universität Jena), ANDREAS LINSENMANN (Johannes Gutenberg-Universität Mainz), Begrüßung und Einleitung

Panel 1: La frontière germano-polonaise entre Guerre froide et réconciliation

PIERRE-FRÉDÉRIC WEBER (Universität Szczecin), Front - Frontière - Transfrontalité. Allemands et Polonais sur l'Oder et la Neisse depuis 1945

DOMINIK PICK (Universität Viadrina-Frankfurt an der Oder/Universität Warschau), Eine Grenze, die es nicht gab. Die Grenzfrage zwischen Bundesrepublik Deutschland und Polen in den 70er Jahren

Panel 2: Minorités, frontières et micro-histoire
Moderation: JEAN-PAUL CAHN (Université Paris 4, Paris-Sorbonne)

MAIK SCHMERBAUCH (Phil.-Theologische Hochschule St. Georgen, Frankfurt am Main), Franz Wosnitza (1902-1979) - ein oberschlesischer Priester im Dienst der Versöhnung zwischen Deutschen und Polen nach 1945

ELZBIETA OPILOWSKA (Universität Wroclaw), Die Wahrnehmung der deutsch-polnischen Grenze in der Europastadt Görlitz/Zgorzelec 1945-2007

SÉGOLÈNE PLYER (Université Paris 1/UMR Irice), Le Rôle des Allemands des Sudètes dans les relations Allemagne-Tchécoslovaquie à l'exemple de Broumov/Braunau

Panel 3: Guerre, frontière et rapprochement
Moderation: CORINE DEFRANCE (CNRS, Irice)

CHRISTINE GUNDERMANN (Freie Universität Berlin), Von der Bevrijding zur Befreiung:
deutsch-niederländische Erinnerungskulturen an den Zweiten Weltkrieg im Grenzraum der EUREGIO

CHRISTOPH BRÜLL (Université de Liège), Le rôle de l'espace frontalier dans le rapprochement belgo-allemand

CHRISTIANE KOHSER-SPOHN (Eberhard Karls-Universität Tübingen), L'épuration politique en Alsace comme vecteur de réconciliation (1944-1953)

Panel 4: Vivre aux frontières
Moderation: ANDREAS LINSENMANN (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

JULIA PUTSCHE (Pädagogische Hochschule Karlsruhe/Université de Strasbourg), „Grenznah – ganz nah?“ Représentations et attitudes d'élèves à l'école primaire de Kehl, ville allemande, voisine de Strasbourg

NINA JEBSEN (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel), Vom Verschwinden der Grenze. Die Situation der deutschen Minderheit im deutschdänischen Grenzgebiet

ANNE DIPPEL (Humboldt-Universität zu Berlin), Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland

Abschlussdiskussion


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Französisch, Deutsch
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