Krisen - Ursachen, Deutungen und Folgen. Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Krisen - Ursachen, Deutungen und Folgen. Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Organisatoren
Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (SGWSG)
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
24.04.2010 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Tobias Straumann

Es besteht mittlerweile kein Zweifel mehr, dass es sich bei der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise nicht um eine klassische Rezession, sondern einen epochalen Einschnitt handelt. Diese Tatsache hat die Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte dazu bewogen, für ihre Jahrestagung das Thema „Krisen - Ursachen, Deutungen, Folgen“ zu wählen. Wie immer bestand dabei der Anspruch, Forscherinnen und Forscher aus dem Spätmittelalter, der Frühen Neuzeit und der Neuesten Zeit zusammenzubringen.

Die Tagung wurde eröffnet durch HANSJÖRG SIEGENTHALER, der von 1973 bis 1997 Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich gelehrt hat. Siegenthaler gilt als einer der Pioniere der modernen wirtschaftshistorischen Forschung in der Schweiz und hat sich durch zahlreiche Publikationen zur Krisenanalyse hervorgetan. In seinem Referat entwickelte er seine Theorie in kondensierter Form. Im Zentrum stand der Gedanke, dass die Menschen in der Krise nicht nur mit neuen Einzelphänomenen konfrontiert werden, sondern eine so starke Verunsicherung erleben, dass sie zum fundamentalen Lernen gezwungen sind. Die herkömmliche Selektion und Interpretation von Informationen versagt angesichts der Unübersichtlichkeit der Situation, sodass es nur über einen intensiven kommunikativen Prozess möglich ist, das verlorene Regelvertrauen wieder zurück zu gewinnen und die Krise zu überwinden.

Anschließend an dieses einleitende theoretische Referat fanden vier Panels statt. Aufgrund der großen Themenbreite ist es unmöglich, diese Panels mit ein paar wenigen Beobachtungen angemessen zusammenzufassen. Dies hat auch damit zu tun, dass das Krisenthema in der Schweiz in den letzten Jahren stark vernachlässigt worden ist. Nur an zwei Universitäten wird das Thema systematisch beackert: In Lausanne an den Lehrstühlen von Sébastien Guex und André Mach mit Schwerpunkt auf der Wirtschaftspolitik und in Bern im Rahmen der Umwelt- und Klimaforschung unter der Leitung von Christian Pfister, der seit kurzem emeritiert ist. Sozialgeschichtliche oder alltagsgeschichtliche Untersuchungen sind rar geworden. Auch in theoretischer Hinsicht ist wenig Forschung im Gang.

Wegen des Fehlens von leitenden Fragestellungen hat die SGSWG die Tagung zeitlich und thematisch strukturiert. Das erste Panel behandelte Krisen in der Vormoderne. OLIVER WETTER (Universität Bern) berichtete über mittelalterliche und frühneuzeitliche Strategien zur Bewältigung von Hochwasserkatastrophen am Beispiel Basels. CHANTAL CAMENISCH (Universität Bern) erläuterte die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftskrisen und Hungersnöten in den burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert. MONIKA GISLER (Unternehmen Geschichte, Zürich) beschäftigte sich mit der langjährigen Debatte um die Frage, ob die niederländische Tulpenmanie in den 1630er-Jahren wirklich eine Blase im modernen Sinne darstellte, wie viele Finanzhistoriker behaupten, oder eher doch nur eine lokal begrenzte Spekulation war. LUCA MORELLI schließlich (Università die Milano-Bicocca) referierte über die Hungerkrise Mailands im 18. Jahrhundert.

Das zweite Panel war den großen Wirtschaftskrisen der Schweiz gewidmet. CÉDRIC HUMAIR (Université de Lausanne) behandelte die Krisen der 1840er- und 1870er-Jahre und diagnostizierte einen großen Forschungsbedarf. Die großen Linien der Krise der 1930er-Jahre, die PHILIPP MÜLLER (Université de Lausanne) erläuterte, sind hingegen gut erforscht. Das gilt auch für die Krisen der 1970er- und 1990er-Jahre, die von ANDRÉ MACH (Université de Lausanne) beschrieben und eingeordnet wurden. Viel Forschungsbedarf besteht aber auf der Mikroebene: Gemeinden, Kantone, Haushalte und Personen.

Das dritte Panel beleuchtete die staatlichen Akteure im Krisenkontext. DANIEL KRÄMER (Universität Bern) beschäftigte sich mit der Hungerkrise 1816/17 in der Schweiz. JURI AUDERSET und PETER MOSER (Archiv für Agrargeschichte) beschrieben die Folgen der Ernährungskrise während des Ersten Weltkriegs für die schweizerische Agrarpolitik der Zwischenkriegszeit. SÉBASTIEN GUEX (Université de Lausanne) gab einen Überblick über die schweizerische Konjunkturpolitik im 20. Jahrhundert und strich dabei hervor, dass der Bundesstaat stets auf keynesianische Rezepte verzichtete. OLIVIER PERROUX und GÉRARD DUC (Université de Genève) sowie DANIELE GANSER (Universität Basel) beschäftigten sich mit der der Geschichte von Energiekrisen. Perroux und Duc konzentrierten sich auf den Zusammenhang zwischen Energiekrisen und Wirtschaftskrisen auf der lokalen Ebene (Stadt Genf) in den letzten 140 Jahren, während Ganser die staatlichen Reaktionen auf die Erdölkrise von 1973 ins Zentrum stellte.

Das vierte Panel versammelte Referate zum Verhältnis von Krise und Gesellschaft. RAINER EGLOFF (Collegium Helveticum, Zürich) untersuchte anhand der US-Grossstadt Chicago die lokalen Dimensionen einer nationalen Krise in den 1890er-Jahren. DREW KEELING (Universität Zürich) wandte sich dem bisher kaum erforschten Thema der europäischen Rückwanderung aus den USA zu und fokussierte dabei auf die Krise von 1907. SANDRO GUZZI-HEEB (Université de Lausanne) untersuchte die Beziehungen zwischen Sexualität und Krise im 18. und 19. Jahrhundert. CÉLINE SCHOENI (Université de Lausanne) zeigte den Zusammenhang zwischen der Wirtschaftkrise der 1930er-Jahre und der Neudefinition der Geschlechterrollen auf.

Zum Ausklang der Tagung organisierte die SGWSG zum ersten Mal eine Podiumsdiskussion, in der die aktuelle Krise mit den historischen Erfahrungen verbunden werden sollte. Teilnehmer waren JUAN FLORES, Assistenzprofessor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Genf, PETER HABLÜTZEL, ehemaliger Direktor des Bundespersonals und selbständiger Historiker in Bern, HANSJÖRG SIEGENTHALER und JAKOB TANNER, Professor für Geschichte an der Universität Zürich. Die Diskussion war äußerst kontrovers, etwa in Bezug auf die Möglichkeiten der staatlichen Regulierung des Bankensektors, die Auswirkungen der zunehmenden Sparguthaben auf die Stabilität des Finanzsystems, die Zukunft des Sozialstaats angesichts des steigenden Lebensalters oder das Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. Einig waren sich die Diskutanten einzig darin, dass die gegenwärtige Krise noch keineswegs ausgestanden sei, die großen Regulierungsarbeiten zur Verhinderung einer nächsten Krise erst in den Kinderschuhen steckten und eine grössere Krise unvermeidlich sei, wenn diese Arbeiten nicht bald zum Abschluss kämen.

Konferenzübersicht:

Thomas David: Begrüßung

Hansjörg Siegenthaler: Wirtschaftskrisen als Gegenstand theoriegeleiteter Wirtschafts- und Kulturgeschichte

Panel 1: Krisen in der Vormoderne (Leitung: Jon Mathieu)

Oliver Wetter: Hochwasserkatastrophen – Mittelalterliche und frühneuzeitliche Bewältigungsstrategien. Eine Überschwemmungsgeschichte Basels von 1268 – 2009

Chantal Camenisch: Wirtschaftskrisen und Hungersnöte in den burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert

Monika Gisler: Die Dutch Tulip Bulb Blase von 1634–1637: Fakt oder Artefakt?

Luca Mocarelli: Lo stato di Milano nel secondo settecento e le crisi alimentari. Una realtà d’eccezione?

Panel 2: Die großen Krisen des Kapitalismus in der modernen Schweiz (Leitung: Matthieu Leimgruber)

Cédric Humair : Les crises économiques du 19e siècle: années 1840 et Grande Dépression

Philipp Müller: La Suisse dans la crise, 1929–1936

André Mach : Fin des „trente glorieuses“ et crise des années 1990

Panel 3: Krisen und Staat (Leitung: Thomas David)

Daniel Krämer: Der kartierte Hunger: Eine «Hungerkarte» zur Subsistenzkrise 1816/17 in der Schweiz

Juri Auderset und Peter Moser: Die Ernährungskrise von 1916-18 als vielfältiger „Lehrmeister“

Sébastien Guex: Etat et crise économique en Suisse du début du XXème siècle à aujourd’hui

Olivier Perroux & Gérard Duc: Energie et crises économiques. Analyse à partir de l’exemple de Genève (seconde moitié du 19ème siècle à nos jours)

Daniele Ganser: Erdölkrisen in der Schweiz

Panel 4: Krisen und Gesellschaft (Leitung: Janick Marina Schaufelbuehl)

Rainer Egloff: Chicago 1892–1897: Lokale Dimensionen einer nationalen Krise

Drew Keeling: Rückwanderer von den USA nach Europa nach der Panik von 1907

Sandro Guzzi-Heeb : Sexualité, crise politique et sociale (XVIIIe-XIXe siècle): une relation sous-estimée

Céline Schoeni : Genre et crise économique: histoire d’une redéfinition des inégalités entre les sexes

Debatte: Die aktuelle Krise in der Diskussion (Moderation: Tobias Straumann)
Juan Flores, Jakob Tanner, Peter Hablützel, Hansjörg Siegenthaler