Auf dem Weg zur Deutschen Einheit – Mythen und Legenden

Auf dem Weg zur Deutschen Einheit – Mythen und Legenden

Organisatoren
Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR; Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur; Deutsche Gesellschaft e.V.
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.03.2010 - 12.03.2010
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Von
Markus Kaufhold, Universität Leipzig

Anlässlich des 20. Jubiläumsjahres setzte sich die Konferenz thematisch mit dem Weg zur Deutschen Einheit auseinander. Dabei sollten Mythen und Legenden widerlegt und bisherige Forschungsergebnisse zur Diskussion gestellt werden.

GERHARD A. RITTER (Berlin) stellte zunächst klar, dass es sich 1989/90 um eine Revolution handelte und nicht um die Implosion eines fragilen Staatssystems. Die Revolution sei durch den Regimewechsel in der Sowjetunion und durch die ökonomische Schwäche der DDR begünstigt worden. Ihr Ende wurde aber von Demonstranten herbeigeführt, die nicht wissen konnten, ob Gewalt angewendet würde. Ritter stellte sich der Auffassung entgegen, dass es einen Gegensatz zwischen Ausreisenden und der Opposition gegeben hätte, da beide die DDR delegitimierten. Für den weiteren Fortgang der Umwälzungen waren die Demonstranten von entscheidender Bedeutung. Die Massenflucht setzte die Bundesregierung bezüglich einer Währungsunion unter Druck, die ebenso von den Demonstranten gefordert wurde. Alle anderen Alternativen hätten, so Ritter, die Massenflucht nicht aufgehalten. Er wandte sich gegen die Annahme, dass niedrigere Löhne den Zusammenbruch der Industrie in der DDR verhindert hätten. Denn das hätte mit Aufkündigung der politischen Solidarität zwischen Ost und West geendet. Der Behauptung, dass die frei gewählte Volkskammer nur eine Schar von Laienschauspielern war, setzte Ritter entgegen, dass ihre politische Kultur eben nicht auf Konfrontation basierte. Auch widersprach er dem Vorwurf einer verfehlten Rentenpolitik, da die Ostdeutschen auf die Renten angewiesen waren und im Westen wesentlich größere Vermögen und mehr Eigentum vorhanden war. Der letzte Irrtum, den Gerhard Ritter zu widerlegen suchte, betraf den Aufbau Ost. Er stellte die Verbesserungen exemplarisch heraus und untermauerte mit Statistiken den geringer werdenden Abstand zwischen Ost und West.

In der folgenden Podiumsdiskussion wurden die Ereignisse bis zur Herstellung der Deutschen Einheit aus drei Perspektiven betrachtet. Für die Bürgerbewegungen saß WERNER SCHULZ auf dem Podium, für die letzte Regierung der DDR LOTHAR DE MAIZIÈRE und für die damalige Bundesregierung HORST M. TELTSCHIK. Die Moderation übernahm HERMANN RUDOLPH vom Berliner „Tagesspiegel“. Werner Schulz vertrat die Meinung, dass der Weg zur Deutschen Einheit keineswegs alternativlos war. Er erklärte, dass das Wirken der Politiker überbewertet werde und dass die Einheit von den Menschen in einem Akt der Selbstbefreiung erzwungen wurde. Er würdigte den Verfassungsentwurf des Runden Tisches und erklärte, dass die Vertreter der Bürgerbewegung nicht an einem Dritten Weg interessiert gewesen wären. Lothar de Maizière betonte, dass für den Erfolg bei der Volkskammerwahl 1990 entscheidend war, wie die Parteien zur Deutschen Einheit standen und wie schnell sie diese verwirklichen wollten. Als größten Erfolg hob er die Selbstdemokratisierung der Bürger und die Bilanz der letzten Volkskammer hervor, die binnen kürzester Zeit die kommunale Selbstverwaltung, die Wiedereinführung der Länder, die Währungsunion und damit verbunden die Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft, die Rechtsangleichung und die Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrages herbeiführte. Horst Teltschik würdigte den 10-Punkte-Plan Helmut Kohls als wichtige Initialzündung im Vereinigungsprozess. Desweiteren betonte er die außenpolitische Dimension der Deutschen Einheit und wies darauf hin, dass die beteiligten Mächte sich besonders um die Stabilität und Kontrolle des Prozesses sorgten. Auch die Stabilität in der UdSSR war von entscheidender Bedeutung. Sie erhielt im Zuge der Herstellung der Deutschen Einheit mehrere Notkredite, um Gorbatschow zu stützen.

Im ersten Tagungsabschnitt standen ökonomische Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der Deutschen Einheit im Mittelpunkt. Der Vortrag des kurzfristig verhinderten ANDRÉ STEINER (Potsdam) wurde verlesen. Steiner behandelte zunächst die Schwächen der DDR-Wirtschaft. Sie lagen vor allem in Honeckers Sozial- und Konsumpolitik, die zu einer überhöhten Auslandsverschuldung führte. Durch den hohen Schuldendienst unterblieben Investitionen in die Industrie, was zu mangelnder Produktivität und Innovationshemmnissen führte. Ein Absenken des Lebensstandards oder eine Währungsreform hielt man aber für politisch nicht umsetzbar. Der daraus resultierende ökonomische Niedergang in den 1980er-Jahren delegitimierte, so die Auffassung Steiners, die DDR. Es entstand ein eklatanter Kaufkraftüberhang, der nicht befriedigt werden konnte. Infolgedessen gewann die DM an Bedeutung für die DDR-Bürger. Denn damit bestand die Möglichkeit hochwertige Konsumgüter zu erwerben. Mit dem Mauerfall beschleunigte sich der Abschwung der DDR-Ökonomie. Der Kontrollverlust über die Wirtschaft offenbarte sich in einsetzenden Arbeitsniederlegungen, den Umweltproblemen und im Arbeitskräftemangel. Die RGW-Partnerländer konnten mit den DDR-Betrieben keine Verträge mehr schließen, da sie nicht über Devisen verfügten, was wiederum die Wirtschaftslage der DDR erschwerte.

Der Vortrag von WOLFGANG SEIBEL (Konstanz) befasste sich mit der Herstellung der Wirtschafts- und Währungsunion und der Errichtung der Treuhand-Anstalt. Hierfür waren zwei Entscheidungen von besonderer Bedeutung: Zum einen die Ankündigung der Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 07.02.1990 und zum anderen die Entscheidung über den Umtauschkurs von 1:1 für Guthaben am 18.05.1990. Im Hinblick auf die Wirtschaftsunion stellte sich die Frage, was aus dem volkseigenem Vermögen werden sollte. Der Reformflügel der SED wollte das Volkseigentum erhalten, die Bürgerbewegungen hatten andere weitreichende Pläne. Sie wollten daraus Privateigentum, getragen aus Selbstorganisation und sozialer Verantwortung, machen. Diese Reformvorschläge konnten nicht verwirklicht werden, da sich der Staat in Auflösung befand. Aus dieser Konstellation ergab sich eine Konvergenz zwischen dem Runden Tisch und den SED-Reformern zur Einführung der Treuhand-Anstalt. Der Verkauf des Treuhandvermögens wurde durch die Einführung der DM zu einem Wechselkurs von 1:1 erschwert. Damit erfuhr die DDR-Mark indirekt eine Aufwertung und die Preis-Kosten-Schere öffnete sich. Die Betriebe wurden unprofitabel und für die Treuhand unverkäuflich. So folgte eine Depression der DDR-Wirtschaft, was wieder zu einer Beschleunigung der Privatisierung führte. Zusammenfassend stellte Seibel fest, dass die Währungsunion und die Gründung der Treuhand irreversibel waren. Der 1:1-Wechselkurs machte die Treuhand zu einem Sanierungsfall.

Im Anschluss daran diskutierte WOLFGANG SEIBEL mit KLAUS-EWALD HOLST, dem ersten Vorstandsvorsitzenden der Verbundnetz Gas AG in Leipzig, und dem damaligen Referatsleiter für Innerdeutsche Beziehungen im Bundesfinanzministerium THILO SARRAZIN., moderiert von JENS SCHÖNE. Alle Beteiligten waren sich einig, dass die DDR nie eine der zehn stärksten Industrienationen gewesen sein konnte. Thilo Sarrazin wies darauf hin, dass die schwierige Vergleichbarkeit zu diesem Mythos beitrug. Man hätte von der Quantität auf die Qualität der Güter geschlossen. Seiner Meinung nach wurde die Währungsunion notwendig, da das DDR-System nur durch eine Zollgrenze, Visapflicht und das Versagen sozialer Ansprüche durch die Bundesrepublik haltbar gewesen wäre. Wolfgang Seibel stellte die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion als Testlauf für die Deutsche Einheit dar, womit für Stabilität im Innern gesorgt wurde und nur noch die außenpolitischen Rahmenbedingungen geklärt werden mussten. Zum Handeln der Treuhand sahen weder Seibel noch Sarrazin eine Alternative. Klaus-Ewald Holst hielt die frühzeitige Privatisierung für richtig. Einschränkend wies er auf die Problematik des fehlenden wirtschaftlichen Know-hows in der unmittelbaren Nachwendezeit hin. Außerdem sei eine Kultur des kritischen Nachfragens und der Eigeninitiative bei den Ostdeutschen nur gering ausgeprägt gewesen.

Im nächsten Tagungsabschnitt sollte dem Mythos eines vorgeblichen „Dolchstoßes“ gegen die Bürgerbewegungen durch die West-Parteien nachgegangen werden. ILKO-SASCHA KOWALCZUK (Berlin) referierte als Wissenschaftler und als Zeitzeuge. Er wies auf die Eigendynamik hin, die aus der massiven Ausreisewelle und den radikaler werdenden Demonstrationen hervorging. Die DDR-Opposition hätte maßgeblich das Tempo im Einigungsprozess bestimmt. Hierauf mussten die westdeutschen Parteien reagieren. Nach dem Ende der Nachkriegsordnung, das durch den Mauerfall herbeigeführt worden war, nahm die demokratische Revolution nationaldemokratische Züge an. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten stand im Mittelpunkt. Das kam, so Kowalczuk, auch bei den Wahlen vom 18.03.1990 zum Ausdruck. Sie waren ein Plebiszit für die Deutsche Einheit. Den Wahlsieg der CDU, bzw. der Allianz für Deutschland, interpretierte Kowalczuk auch als einen Amtsbonussieg. Die Bürger hätten die Bundesregierung gewählt und nicht die CDU. Von einem „Dolchstoß“ der West-Parteien könne keine Rede sein.

Zur gleichen Thematik, aber aus politologischer Perspektive sprach auch MICHAEL WEIGL (München). Er interpretierte das Vorgehen der Parteien auf dem Weg zur Deutschen Einheit als taktisches Verhalten. Am wenigsten vorbereitet auf die Deutsche Frage waren die Grünen. Strukturell dem linken Spektrum zugehörig, lehnten sie vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte jeden Nationalismus ab. Als Akteur spielten sie im Vereinigungsprozess keine Rolle. Für die SPD war die Situation ebenfalls schwierig. Der damalige Kanzlerkandidat Lafontaine wollte den Fokus im Wahlkampf auf die Sozialpolitik legen. In der DDR unterstützte die SPD die neugegründete SDP (später SPD). Am Sieg bei den Wahlen am 18.03.1990 zweifelte niemand, da auf eine linke Wählerstruktur im Osten noch aus der Zeit vor 1933 vertraute. Nach der Wahlniederlage schien für die SPD auch der Sieg bei der Bundestagswahl fraglich. Aus partei- und wahltaktischen Überlegungen, so Weigl, war sie daher an einer Verzögerung der Deutschen Einheit interessiert. Die CDU stellte ihr Vorgehen auf die Beibehaltung der traditionellen Ordnung ein und lehnte einen dritten Weg ab. Eine Unterstützung der Ost-CDU als DDR-Blockpartei empfanden die Christdemokraten im Westen als problematisch. Parteitaktische Erwägungen und der Umstand, dass die Ost-CDU über notwendige Strukturen für den Wahlkampf verfügte, führten dann doch zu einer Zusammenarbeit. Um den Makel der Blockpartei auszugleichen, wurden in das Wahlbündnis der Demokratische Aufbruch (DA) und die Deutsche Soziale Union (DSU) aufgenommen. Die DSU erfuhr insbesondere durch die CSU Unterstützung, die diese aber nach der Wahl wieder einstellte. In gleicher Weise wie die CDU positionierte sich die FDP. Sie zögerte zunächst bei der Unterstützung einer Blockpartei, benötigte aber ein Gegengewicht zu Helmut Kohls „Allianz für Deutschland“. Die Zusammenarbeit mit dem Bund Freier Demokraten (BFD) war daher ebenso von parteitaktischen Überlegungen getragen.

An der anschließenden Diskussion unter der Leitung von ULRICH MÄHLERT (Berlin) nahmen der damalige Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion in der Volkskammer MARTIN GUTZEIT, der frühere Stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende KARL-HEINZ HORNHUES, der Bürgerrechtler und ehemalige Volkskammerabgeordnete KONRAD WEIß und der damalige SPD-Bundesvorsitzende HANS-JOCHEN VOGEL teil. Insbesondere Hans-Jochen Vogel widersprach der Darstellung Weigls. Denn die Fraktion und das Präsidium der SPD sprachen sich eindeutig für die Deutsche Einheit aus. Lafontaine, der eine andere Einstellung hatte, sei aber damals einer der profiliertesten Politiker gewesen und ein Konflikt mit ihm hätte die Partei zerreißen können. Konrad Weiß wertete die Unterstützung durch die Westparteien als machtpolitisch richtig. Er bemängelte, dass die Rolle der beiden deutschen Parlamente zu wenig beachtet werde. Karl-Heinz Hornhues bestätigte die Annahme, dass die DSU und der DA das „weiße Hemd“ für die CDU waren. Die CDU (West) stand vor einem grundlegenden Dilemma. Sie wollte bei der Wahl im März 1990 jene Gruppierungen unterstützen, die ihren Vorstellungen nahe stand. Zwar bestand mit der CDU im Osten eine gleichnamige Partei mit gut ausgebauter Infrastruktur, aber sie war durch das DDR-System völlig korrumpiert. Darüber hinaus hob er die außenpolitische Bedeutung des Prozesses hervor. Martin Gutzeit verwies auf die Problematik der fehlenden Strukturen im Wahlkampf, da sich die SDP noch im Aufbau befand. In der Frage der Aufnahme von SED-Mitgliedern stellte er klar, dass bis Anfang 1990 darüber nicht debattiert wurde. Allerdings bestand in den lokalen Parteistrukturen die Angst vor einer Übernahme durch die SED, wenn man deren früheren Mitgliedern den Zugang ohne Einschränkung gewährt hätte.

Im nächsten Abschnitt der Tagung stand die Frage nach einer neuen Verfassung im Mittelpunkt. In seinem Vortrag vertrat ECKHARD JESSE (Chemnitz) die Meinung, dass es im Zuge der Deutschen Einheit nicht zu einem „Anschluss“ kam. Mit der Volkskammerwahl vom März 1990 hätten sich die DDR-Bürger sich vielmehr bewusst für die Deutsche Einheit und das System der Bundesrepublik entschieden. Hieraus ergaben sich die Gründe für die Vereinigung nach Artikel 23 Grundgesetz (GG). Da die Bürger der DDR als Akteure, mit dem Ziel einer schnellen Vereinigung der beiden deutschen Staaten, auftraten, könne nicht von einer Westkolonisation gesprochen werden. Artikel 146 GG hätte einen stärkeren einheitsstiftenden Charakter gehabt. Aber das Interesse der Bürger an einer Verfassungsdiskussion war gering. Problematisch wäre ebenfalls die vorherige Einführung einer neuen DDR-Verfassung gewesen. Das hätte den Einigungsprozess verlangsamen und hintertreiben können. Die nach der Deutschen Einheit gebildete Gemeinsame Verfassungskommission zeigte, dass die Gegensätze weniger entlang von Ost–West, sondern entlang der Parteien verliefen. Die Kommission empfahl in ihrem Abschlussbericht nur marginale Korrekturen am Grundgesetz.

Die darauffolgende Diskussion unter der Leitung von MARGIT MIOSGA vom „rbb Kulturradio“ ließ mit dem ehemaligen Bündnis 90-Volkskammerabgeordneten GERD POPPE, dem Rechtswissenschaftler und Berater des Verfassungsausschusses des Runden Tisches ULRICH K. PREUß, dem Staatsrechtler und damaligen CDU-Bundestagsabgeordneten RUPERT SCHOLZ und dem einstigen Fraktionsvorsitzenden der SPD in der Volkskammer RICHARD SCHRÖDER die Akteure des Jahres 1990 zu Wort kommen. Gerd Poppe verwies darauf, dass der Runde Tisch nur als Kriseninstrument gedacht war und dort nicht über Dritte Wege diskutiert wurde. Eine neue Verfassung für die DDR sollte die Friedliche Revolution abschließen. Ulrich Preuß meinte, eine neue DDR-Verfassung wäre das Fundament für gleichberechtigte Verhandlungen mit der Bundesrepublik gewesen. Richard Schröder schätzte die Bedeutung der „Verfassungsfrage“ als gering ein, da die Bevölkerung eine schnelle Einigung, möglichst über Artikel 23 GG, und keine Verfassungsdiskussion anstrebte. Auch gäbe es keine „Verfassung des Runden Tisches“, sondern nur den Entwurf eines ihrer Ausschüsse. Rupert Scholz sah in dem Beitritt nach Artikel 23 GG kein Demokratiedefizit, da in Deutschland die mittelbare Demokratie eine starke Tradition hat.

Danach ging es um die internationale Entwicklung während des Einigungsprozesses. Über die Wiedervereinigung als Problem der internationalen Politik referierte HERMANN WENTKER (München). Er stellte zunächst die unterschiedlichen Interessen der beteiligten Akteure dar. Seitens der USA erhielt Helmut Kohl Unterstützung für die Deutsche Einheit. Es sollten aber vier Prinzipien beachtet werden: der Prozess sollte ergebnisoffen und friedlich gestaltet werden, die bestehenden Grenzen nicht in Frage gestellt werden und das vereinigte Deutschland Mitglied der EU und NATO sein. Mit der prinzipiellen Unterstützung aus den USA wurden die Widerstände aus Frankreich und Großbritannien überwunden, wo man ein übermächtiges Deutschland fürchtete. Der problematischste Akteur war die UdSSR. Auch wenn sie in Analogie zu Polen und Ungarn auf Gewaltanwendung verzichtete, so hatte sie trotzdem die Potenz, die Entwicklungen wieder umzukehren. Als ihre Schwäche erwies sich, dass sie kein Deutschlandkonzept anzubieten hatte, was auf innenpolitische Probleme zurückzuführen war, aber nicht zuletzt auch auf die Eigendynamik der Ereignisse. Die innenpolitische Schwäche der Sowjetunion wurde auch zur Gefahr für den Einigungsprozess, sodass die Bundesrepublik mit Notkrediten Gorbatschow half. Als letzte Hürde musste die zukünftige Bündniszugehörigkeit Deutschlands geklärt werden. Mit der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages wurde die Nachkriegsordnung endgültig überwunden.

An der folgenden Podiumsdiskussion nahmen der französische Politologe ALFRED GROSSER (Frankreich), die us-amerikanische Historikerin HOPE M. HARRISON, der Leiter des Deutschland-Büros der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti DMITRI TULTSCHINSKI und der letzte DDR-Außenminister MARKUS MECKEL teil. Die Moderation hatte TISSY BRUNS vom „Tagesspiegel“. Als damaliger Akteur beschrieb Markus Meckel seine Bedenken gegenüber einer Einbindung Deutschlands in die NATO. Er bekannte zugleich, dass seine Ansichten im Rückblick nicht realistisch waren. Dmitri Tultschinski hob die Rolle Gorbatschows auch für den Wandel in der Sowjetunion hervor. Er vermutete, dass nicht die militärischen Innovationen des Westens für die Haltung Gorbatschows entscheidend waren. Hope Harrison betonte das gute Verhältnis von Kohl und Bush. Die NATO-Zugehörigkeit Deutschlands und der Verzicht auf Gebietsansprüche seien für die USA im Vereinigungsprozess essentiell gewesen. Alfred Grosser hob die Rolle Wolfgang Schäubles und Jacques Delors dabei und ordnete die Deutschen Einheit in den Prozess der europäischen Einigung ein.

Die Tagung verdeutlichte die engen Handlungsspielräume und Zeitrahmen, die den Akteuren bei der Herstellung der Deutschen Einheit gesetzt waren. Das erforderte schnelles Reagieren, um den Fortgang der Veränderungen und den Vereinigungsprozess nicht zu gefährden. Die Interdependenz des Staatensystems am Ende des Kalten Krieges und die Herausforderungen, die sich für die Außenpolitik ergaben, wurden akzentuiert herausgearbeitet. Die Konferenz trug somit zur Entmythifizierung der Deutschen Einheit bei, wozu nicht zuletzt die Diskussionen von Akteuren mit ausgewiesenen Historikern und Politologen beitrugen. Gerade die Wissenschaftler mussten sich manche Zurechtweisungen durch Zeitzeugen gefallen lassen.

Konferenzübersicht:

Gerhard A. Ritter
Einführungsreferat

Podiumsdiskussion mit Lothar de Maizière, Horst M. Teltschik und Werner Schulz

André Steiner (das Referat ist von Andreas H. Apelt verlesen worden)
Die DDR-Ökonomie 1989 vor und nach dem Fall der Mauer

Wolfgang Seibel
Die Herstellung der Wirtschafts- und Währungsunion und die Errichtung der Treuhand-Anstalt

Podiumsdiskussion mit Klaus-Ewald Holst, Thilo Sarrazin, Wolfgang Seibel

Ilko-Sascha Kowalczuk, Michael Weigl
Beschleunigung des Einigungsprozesses und Einfluss der West-Parteien – „Dolchstoß“ für einen „dritten Weg“ der DDR?

Podiumsdiskussion mit Martin Gutzeit, Karl-Heinz Hornhues, Konrad Weiß, Hans-Jochen Vogel

Eckhard Jesse
Zur politischen Bewertung der Verfassungsdiskussion
Podiumsdiskussion mit Gerd Poppe, Ulrich K. Preuß, Rupert Scholz, Richard Schröder

Hermann Wentker
Die Revolution der Staatenwelt und die Wiedervereinigung. Die Wiederherstellung der
deutschen Einheit als Problem der internationalen Politik.

Podiumsdiskussion mit Alfred Grosser, Hope M. Harrison, Dmitri Tultschinski, Markus Meckel


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