Martyrium im 20. Jahrhundert

Martyrium im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte in Kooperation mit dem Freundeskreis Mooshausen e.V. und der Kommission für Zeitgeschichte
Ort
Mooshausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.10.2003 - 19.10.2003
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Von
Andreas Kurschat, München

Die diesjährigen Mooshauser Gespräche zur Kirchlichen Zeitgeschichte waren einem Phänomen gewidmet, das in den vergangenen Jahren nicht nur innerhalb der beiden großen Kirchen in Deutschland, sondern - vor allem im Zusammenhang mit Selbstmordattentaten islamistischer Terroristen - auch in den Massenmedien erhöhte Aufmerksamkeit gefunden hat. Die interdisziplinär und interkonfessionell angelegte Tagung zum Thema "Martyrium im 20. Jahrhundert" vom 17. bis 19. Oktober 2003 wurde von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte in Kooperation mit dem Freundeskreis Mooshausen e.V. und der Kommission für Zeitgeschichte veranstaltet. Finanziell gefördert wurde die Tagung von der Robert Bosch Stiftung.

Hartmut Lehmann (Göttingen) machte in seiner Einführung auf aktuelle Formen des Märtyrergedenkens in der anglikanischen, der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche aufmerksam und wies auf partielle Unterschiede hinsichtlich der jeweiligen Auswahlkriterien hin, die z.B. die Repräsentativität und Ökumenizität sowie den Zusammenhang zwischen Bekenntnis, Verfolgung und Tod beträfen. Konfessionsübergreifend sei der christliche Märtyrerbegriff bis zur Gegenwart an folgende Persönlichkeitsmerkmale gebunden: den christlichen Glauben, die praktizierte Nächstenliebe sowie die Glaubenstreue im Leiden bis zum Tod. Von entscheidender Bedeutung seien - möglichst schriftliche - Zeugnisse des individuellen Glaubens, anhand deren sich christliche Märtyrer wie z.B. Martin Luther King von säkularen Märtyrern wie z.B. Ché Guevara unterscheiden ließen.

Harald Schultze (Magdeburg) zeigte in seinem historischen Überblick "Die evangelische Rezeption von Martyrien des 20. Jahrhunderts" die Kontinuität evangelischen Märtyrergedenkens von der Reformationszeit bis in die Gegenwart auf, die sich an der Benennung von Kirchen nach Märtyrern - in neuerer Zeit etwa nach Dietrich Bonhoeffer -, an Elementen der Liturgie und an Texten von Kirchenliedern ablesen lasse. Für Märtyrer der NS-Zeit seien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges spezifische Erinnerungsorte geschaffen worden, z. B. die Gedenkstätte in der Krypta des Doms zu Brandenburg/Havel. Schultze selbst leitet derzeit im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland ein Forschungsprojekt zur Dokumentation evangelischer Martyrien des 20. Jahrhunderts. Evangelisches Märtyrergedenken, so Schultze, sei im 20. Jahrhundert nicht organisiert erfolgt wie in der römisch-katholischen Kirche, sondern spontan; es lasse sich daher nur schwer steuern. Dietrich Bonhoeffer könne als der weltweit bekannteste Märtyrer des 20. Jahrhunderts gelten, während zahlreiche weitere Schicksale evangelischer Christen, die in religiös motivierten Konflikten ums Leben gekommen seien, auch in der evangelischen Kirche selbst kaum Beachtung gefunden hätten. Das Beispiel Bonhoeffers zeige deutlich, dass der Protestantismus bis heute die Vorbildfunktion von Heiligen im Sinne der Confessio Augustana kenne; diese Funktion beziehe sich jedoch nicht auf eine scheinbar makellose Lebensführung, sondern auf den Status als gerechtfertigte Sünder. Die Erinnerung an sie ermögliche zudem Erfahrungen des Mit-Leidens.

Karl-Joseph Hummel (Bonn) zeichnete in seinem Referat "Katholische Glaubenszeugen des Dritten Reiches im Wandel der Erinnerung" unterschiedliche Phasen des Umgangs mit der Geschichte katholischer Christen im NS-Staat nach. In der frühen Nachkriegszeit habe sich die römisch-katholische Kirche in Deutschland überwiegend als Opfer des Nationalsozialismus gesehen; die Erinnerung an katholische Widerstandskämpfer sei jedoch zunächst nicht sehr populär gewesen, da sie schmerzhaft bewusst gemacht hätte, dass das Potenzial des Widerstandes nicht ausgeschöpft worden sei. Zu Beginn der 1960er Jahre seien die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Opfer und Täter des NS-Regimes in den Vordergrund getreten; zeitgleich mit der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung habe in der Öffentlichkeit eine an den Vorwurf des Versagens während der NS-Zeit geknüpfte antikirchliche Polemik eingesetzt. Diese habe dazu beigetragen, dass die Erinnerung an Glaubenszeugen gegenüber der Verehrung politischer Heroen, die teilweise auch als Märtyrer bezeichnet worden seien, weitgehend in den Hintergrund getreten sei. Im Jahr 2000 habe durch die Initiative von Papst Johannes Paul II. die Erinnerung an christliche Blutzeugen als Zeichen der Einheit der gespaltenen Christenheit neue Impulse erhalten. Am Beispiel der durch den Papst veranlassten Dokumentation katholischer Martyrien des 20. Jahrhunderts wies Hummel auf den engen Zusammenhang zwischen Märtyrergedenken und Selig- bzw. Heiligsprechungsverfahren hin.

Hans Maier (München) hob in seinem Vortrag "Politische Martyrer? Erweiterungen des Märtyrerbegriffs in der Gegenwart" den aus der Rechtssprache stammenden Bedeutungskern des Begriffs Martyrer/Märtyrer hervor. Mit dem griechischen Wort "mártys" werde ursprünglich der Zeuge vor Gericht bezeichnet, der bereit sei, für die Wahrheit bis zum Äußersten zu gehen. Für den christlichen Akzent sei eine von außen gesetzte Verfolgungssituation entscheidend, in der der Blutzeuge des Evangeliums sowohl mit Christus als auch mit der Kirche verbunden sei. Gegenwärtig werde der Gedanke des Martyriums oftmals weniger mit passiver Hingabe, sondern eher mit individuellen Protesthandlungen gegen politische Mächte assoziiert. Angesichts dieser Entwicklung könne als Maßstab für eine Erweiterung des Märtyrerbegriffs, die auch solche Personen einbeziehe, die wegen ihres politisch motivierten Engagements umgebracht wurden, die Bezugnahme auf das universelle Prinzip des Menschenrechts dienen. Die theologischen Konturen müssten jedoch erkennbar bleiben. In jüngster Zeit werde der Begriff oftmals unreflektiert auch auf Menschen bezogen, die - wie z.B. islamistische Selbstmordattentäter - sich selbst und andere Menschen getötet hätten. Dieser Sprachgebrauch sei darauf zurückzuführen, dass der Martyriumsbegriff in der islamischen Tradition - anders als im Judentum und im Christentum - neben dem Ursprung in der Rechtssprache einen zweiten Ursprung in der Militärsprache habe. Die Dominanz dieses Aspekts in den Medien berge die Gefahr einer Verzerrung des Begriffs, der zum Schreckenswort zu werden drohe.

Andreas Köhn (Udine) stellte in seinem Beitrag "Von der Notwendigkeit des Bekennens. Theologie als Martyrium am Beispiel Ernst Lohmeyers (1890-1946)" seine Dissertation über den evangelischen Neutestamentler vor. Die Beschäftigung mit dem christlichen Märtyrerbegriff und dessen Voraussetzungen im Judentum habe Lohmeyer zur theologischen Einsicht in die Notwendigkeit des Zeugentums geführt. Köhn zeigte Bezüge zwischen diesem Aspekt von Lohmeyers wissenschaftlicher Arbeit und seiner anti-nationalsozialistischen Haltung als Professor in Breslau und Greifswald auf. Darüber hinaus umriss er die politischen Hintergründe von Lohmeyers Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung aufgrund einer Denunziation wegen angeblicher Kriegsverbrechen.

Antonia Leugers (München) referierte über "Martyrer der Gewissensüberzeugung. Die Bedeutung der Kirchlichen Hauptstelle für Männerseelsorge und Männerarbeit in Fulda (1941-1944)". Angesichts der gerade während des Krieges wachsenden Distanz katholischer Männer zur Kirche sei es die Aufgabe der Fuldaer Hauptstelle gewesen, die theoretische Basis für eine gegen den Verfügungsanspruch des Nationalsozialismus gerichtete Männerarbeit zu schaffen. Als wesentliche Ziele seien die Verkündigung biblischer Gebote und des Sittengesetzes sowie die Gewissensbildung formuliert worden. Das Martyrium im Konflikt zwischen individuellem Gewissen und staatlicher Autorität sei als mögliche Konsequenz akzeptiert und von einigen Mitgliedern des jährlich in Fulda tagenden Gremiums, nämlich Alfred Delp, Nikolaus Groß, Bernhard Letterhaus und Otto Müller, später auch erlitten worden.

Sönke Zankel (München) präsentierte in seinem Beitrag unter dem Titel "Das Verhältnis von Religion und Politik im Widerstand des Scholl-Schmorell-Kreises" Teilergebnisse seines Dissertationsprojektes. Unter den sechs Hingerichteten aus dem Münchener Widerstandskreis der sogenannten "Weiße Rose" sei lediglich bei den evangelischen Geschwistern Hans und Sophie Scholl sowie bei dem Katholiken Willi Graf eine nennenswerte christliche Prägung vor Beginn ihrer Widerstandsaktionen belegt. Bei den vier übrigen Todesopfern sei der christliche Glaube erst kurz vor oder nach ihrer Verhaftung ein wesentliches Element ihres Denkens geworden. Relevant für das Engagement gegen das NS-Regime seien religiöse Überzeugungen v.a. bei Hans Scholl gewesen, der sich ab 1941 intensiv mit dem Christentum auseinandergesetzt habe.

Ilse Meseberg-Haubold (Oldenburg) wies in ihrem Referat "Katharina Staritz: Die Haftzeit im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück als Martyrium" auf Überschneidungen zwischen Leidenszeugnis und Martyrium hin. Die Breslauer Stadtvikarin Staritz sei im Zusammenhang mit ihrer intensiven seelsorgerlichen und fürsorgerischen Arbeit zugunsten "nichtarischer" Christen inhaftiert worden und habe ihre Haft als ein ihr von Gott auferlegtes Leiden interpretiert. In den Gedichten, die sie in Ravensbrück schrieb, habe sie bewusst von ihrem Glauben unter ständiger Todesgefahr Zeugnis abgelegt, um andere Menschen im Glauben zu stärken. Auch wenn sie erst einige Jahre nach Kriegsende gestorben sei, komme ihr Schicksal einem Martyrium nahe und gebe Anlass zum Gedenken.

Elisabeth Prégardier (Oberhausen) führte unter dem Titel "Das Wort Gottes ist nicht gefesselt (2 Tim 2,9). Botschaften des Glaubens aus der Haft" in die unmittelbare Auseinandersetzung mit Zeugnissen christlicher Gegner des Nationalsozialismus hinein. Indem sie, eingeleitet durch kurze Angaben zum Schicksal der betreffenden Personen, Textpassagen vorlesen ließ, die die Inhaftierten - meist in ihren Abschiedsbriefen kurz vor der Hinrichtung - an ihre Angehörigen schrieben, regte sie zum Gedenken im Modus des Mitleidens an.

Die umfangreichen Diskussionen wurden vor allem von drei Themen beherrscht: erstens dem interkonfessionellen Vergleich der Funktionen und Formen des Märtyrergedenkens, zweitens der Abgrenzung des christlichen Martyriumsbegriffs gegenüber einem außerchristlichen sowie gegenüber verwandten Begriffen und drittens dem Verhältnis von Kirche, Theologie und Geschichtswissenschaft in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Martyriums.

Als Ergebnis der Erörterung interkonfessioneller Gemeinsamkeiten und Unterschiede wurde konstatiert, dass das evangelische und das katholische Martyriumsverständnis im Kern identisch seien, während vor allem die praktisch-theologische Aneignung kontrovers bleibe. Unterschiedliche theologische Positionen bezögen sich auf die Beurteilung der Lebensführung von Märtyrern unter ethischem Aspekt, auf den Meritum-Gedanken und auf die Tendenz zum Personenkult. Problematisch sei zudem der Umgang mit Martyrien aus konfessionellen Auseinandersetzungen.

Hinsichtlich des Martyriumsbegriffs wurde zum einen dessen Abgrenzung vom Opferbegriff diskutiert, die z.B. bei der Verfolgung "nichtarischer" Christen durch die Nationalsozialisten oder deutschbaltischer Protestanten durch russische Bolschewisten schwierig sei, weil religiöse, rassistische und nationalistische Motive in vielen Fällen miteinander verknüpft seien. Diskussionsbedarf bestand zum anderen bezüglich der Frage, ob ein bewusst angestrebter gewaltsamer Tod als Martyrium betrachtet werden könne. Anhand so unterschiedlicher Fälle wie Maximilian Kolbe, Jochen Klepper und Oskar Brüsewitz wurden Aspekte wie stellvertretendes, solidarisches und zeichenhaftes Handeln unterschieden und - vor allem im Hinblick auf Brüsewitz - die Bedeutung des subjektiven Verfolgungsgefühls unterstrichen. Des Weiteren wurde in interreligiöser Auseinandersetzung mit dem islamischen Märtyrerbegriff erörtert, inwiefern auch die bewusst angestrebte Tötung anderer Menschen unter bestimmten Umständen Bestandteil eines Martyriums sein könne. Dass sich diese Frage auch im Christentum stelle, wurde u.a. an Fällen wie Georg Elser und Claus Graf Schenk von Stauffenberg aufgezeigt. In Diskussionen über unterschiedliche Grenz- und Zweifelsfälle wurde betont, dass eine historisch fundierte Erforschung und Dokumentation von Märtyrerschicksalen sich nicht auf den religiösen Aspekt von Widerstand und Verfolgung beschränken könne, sondern die im konkreten Einzelfall je unterschiedlichen Bündel von Motiven sowohl auf Seiten der Märtyrer als auch auf Seiten ihrer Verfolger differenziert betrachten müsse.

Im Hinblick auf das Verhältnis von Kirche, Theologie und Geschichtswissenschaft war strittig, ob der Martyriumsbegriff eine historische Kategorie sei. Einige Diskutanten meinten, es handle sich um eine notwendige Kategorie zur Beschreibung eines bestimmten historischen Phänomens, nämlich der nicht ausschließlich politisch, sondern weltanschaulich motivierten Verweigerung einzelner Menschen in Extremsituationen gegenüber Regimen, deren Ideologien den Charakter von Ersatzreligionen hätten. Die Erforschung von Martyrien diene letztlich der Analyse eines wesentlichen Teilaspekts der Geschichte des Christentums im Konflikt mit politischen Religionen in den modernen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Die Kriterien des Martyriumsbegriffs, so wurde eingewendet, würden der historischen Forschung jedoch von der Theologie bzw. von der faktischen Erinnerungskultur innerhalb der Kirche vorgegeben. Eine wichtige Aufgabe historischer Forschung über diese Phänomene könne gleichwohl die korrigierende Beeinflussung der Erinnerungskultur gegen perspektivische Beschränkungen und Verzerrungen sein. Einig war man sich darin, dass das Martyrium auch dann, wenn man es nicht als historische Kategorie betrachte, ein Untersuchungsgegenstand der Geschichtswissenschaft sei, der unter unterschiedlichen Aspekten erfasst werden müsse, z.B. der Selbstbeschreibung von Opfern als Märtyrer, der Zuschreibung von Martyrien im Rahmen einer Erinnerungskultur, der Resonanz innerhalb dieses Rahmens und der Diffusion in andere kulturelle Kontexte.

Die Referate der Tagung werden in der Reihe "Edition Mooshausen" veröffentlicht.

Anmerkungen:
Die Schreibweise "Martyrer" ist eine nur im Bereich der katholischen Theologie für den entsprechenden Fachterminus gebräuchliche Variante und wurde von deshalb nur für die wörtliche Wiedergabe der Titel der entsprechenden Referate verwendet.


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