Grenzen. 2. Schweizerische Geschichtstage: Querschnittsbericht "Geschlechtergeschichte"

Grenzen. 2. Schweizerische Geschichtstage: Querschnittsbericht "Geschlechtergeschichte"

Organisatoren
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte; Historisches Seminar, Universität Basel
Ort
Basel
Land
Switzerland
Vom - Bis
04.02.2010 - 06.02.2010
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Von
Simona Isler, Universität Bern

Zum zweiten Mal fanden vom 4. bis zum 6. Februar die Schweizerischen Geschichtstage statt. Organisiert von der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte (SSG) und vom historischen Institut Basel riefen die Organisatorinnen und Organisatoren zum Nachdenken und Diskutieren über Grenzen auf. Das Tagungsthema „Grenzen“ ermögliche, so die SSG, die Auseinandersetzung sowohl mit thematischen wie auch mit methodischen Fragestellungen der Geschichtswissenschaft. Diese Feststellung trifft insbesondere auch für die Geschlechtergeschichte zu: Die Bedeutung von Grenzen für Identitäten, die Überschreitung von und das Spiel mit normativen Grenzen, aber eben auch methodische Überlegungen zum Sinn und Unsinn von Grenzen als analytisches Instrumentarium sind Themen und Fragen, die (auch) für die Arbeit von HistorikerInnen, die Geschlechterfragen stellen, von zentraler Bedeutung sind.

Zu methodischen Überlegungen und Problemen im Bezug auf Grenzen, Geschlecht und Transnationalität referierte denn auch MERRY WIESNER (University of Wisconsin). Ihre Keynote mit dem Titel „Crossing Borders in Gender History“ eröffnete den zweiten Tagungstag. Merry Wiesner gab einen umfassenden Überblick über die beiden im Titel angesprochenen Felder der Geschichtswissenschaft: Das Feld des Transnationalen und die Geschlechtergeschichte. Sie stellte insbesondere die Frage nach Berührungspunkten der beiden und kam zum Schluss, dass deren viele möglich und naheliegend wären, aber in der vergangenen und momentanen Forschungslandschaft nur wenige übergreifende Projekte zu finden seien. Für die Geschlechtergeschichte zeigte Wiesner auf, wie wichtig die Auseinandersetzung mit Grenzen war und ist. Etwa als in den 1980er-Jahren die damals wichtige Unterscheidung zwischen dem biologischen Geschlecht „sex“ und dem sozialen Geschlecht „gender“ gemacht wurde. Später haben HistorikerInnen diese Grenze wieder hinterfragt und bemerkt, dass sie bedeutungslos sei. Denn in diesem Schema, korrespondiere ein bestimmter „sex“ immer genau mit einem bestimmten „gender“, man könne die beiden also auch gleich zusammen denken, wenn sie sich ohnehin bedingten. Außerdem kam die Kritik auf, dass vielleicht gar nicht das biologische Geschlecht das soziale bedinge, sondern umgekehrt. Diese These veranschaulichte Wiesner mit dem Beispiel geschlechtlicher Identität intersexueller Personen: Diese oder deren Eltern müssen sich im Normalfall zuerst für ein „gender“ entscheiden – die Biologie wird danach mittels operativer Eingriffe angepasst. Ein ausgewähltes soziales Geschlecht bestimme also hier das biologische und nicht umgekehrt.

Auch die Kategorisierung in „Männer“ und „Frauen“ ist in der Geschlechtergeschichte als diskriminierend und essentialistisch kritisiert worden. Diskriminierend, weil beispielsweise die Kategorie „Frau“ niemals alle Frauen (jeglicher Klasse und Hautfarbe) mit einbeziehen könne und essentialistisch, weil dieser kategorisierende Blick die grundsätzliche Verschiedenheit von Frauen und Männern voraussetze und immer auch gleich mithelfe, diese neu zu konstruieren, anstatt sie in Frage zu stellen.

So plädierten also FeministInnen und GeschlechterforscherInnen für die Aufhebung nicht nur dieser, sondern sämtlicher Grenzen: Diese seien immer künstlich und sozial konstruiert, daher dürften sie auch nicht mehr zur Kategorienbildung benutzt werden. Neu wurde die Hybridität gefeiert. Merry Wiesner ließ durchblicken, dass bei allem Verständnis für das Unbehagen gegenüber normierenden Grenzziehungen, auch etwas Unbehagen aufkam beim Gedanken an den Verzicht jeglicher Kategorisierung. Im Schlusssatz rief sie denn auch dazu auf, die Macht der Grenzen nicht außer Acht zu lassen und jene Menschen nicht zu vergessen, die in der realen Welt tatsächlich unter ihrer (sozial realen) Kategorisierung zu leiden hätten.

Das erste Referat im Panel „Reproduktive Medizin – Sexualität – Fortpflanzung. Grenzverschiebungen im 19. und 20. Jahrhundert“ handelte von der „Castratio feminis“. GABRIELA IMBODEN (Universität Basel) führte aus, wie die weibliche Kastration, also die Entfernung der Keimdrüsen (der Ovarien) sich im 19. Jahrhundert durchsetzte und wie mit dieser Technik unerwünschte, weibliche Sexualität reguliert wurde. Die Ovarien galten als Zentrum der Sexualität. Deren Entfernung war zwar ursprünglich zur Bekämpfung von Krankheiten gedacht, die Technik diente aber auch zur Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten, die mit der Sexualität in Zusammenhang gebracht und erklärt wurden. Analogien glaubte man in der Tierwelt zu finden, so etwa bei Kühen, bei welchen die Kastration laut den Zeitgenossen die Brunst bändigte. Wegen unbefriedigender Ergebnisse verlor diese Praxis Ende des 19. Jahrhunderts an Legitimationskraft. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde durch technische Fortschritte die Unfruchtbarmachung, so genannte Sterilisation, möglich. Als gefährlich galt nicht mehr unbedingt die Sexualität, sondern eher die (unerwünschte) Fortpflanzung. Diese sollte nicht mehr wie im 19. Jahrhundert für alle verheirateten Paare möglich und legitim sein, sondern es wurden medizinische und eugenische Kriterien eingeführt. Die Fortpflanzung wurde also durch die Eugenik einerseits und durch medizinische Fortschritte andererseits von der Sexualität getrennt. In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob die Technik der Sterilisation klassenspezifisch unterschiedlich angewandt worden sei. Gabriela Imboden meinte, dass tendenziell Unterschichtsfrauen vermehrt betroffen gewesen seien, aber die eugenischen Kriterien im Prinzip klassenunabhängig funktionierten. Es habe auch keine Zwangsgesetze gegeben, sondern immer die Einwilligung der Frauen gebraucht. Die Sterilisation habe aus Sicht der Betroffenen auch die Funktion einer sicheren Verhütung einnehmen können.

ULRIKE KLÖPPEL (Charité Berlin) stellte im zweiten Teil des Panels die Kreuzungsexperimente mit Schmetterlingen des Biologen Richard Goldschmidt vor. Dieser hat anhand seiner Versuche ein Kontinuum-Modell der Geschlechter entwickelt. In diesem können Schmetterlinge oder auch Menschen verschiedene Grade von Männlichkeit oder Weiblichkeit aufweisen. Intersexualität werde so von Goldschmidt mitgedacht. Die Polarität, also das deutliche Überwiegen des einen Geschlechts, gelte allerdings als Normalzustand und Intersexualität als abnormal. Obwohl Goldschmidt nicht von einem heute dominanten bipolaren Modell ausgehe, das Intersexualität ausschließt, komme er doch zu konservativen Schlussfolgerungen. Die aktuelle Forderung intersexueller und anderer AktivistInnen, Geschlechtlichkeit nicht mehr bipolar, sondern als Kontinuum zu denken, müsse mit dieser Erkenntnis nochmals überprüft werden. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass ein Kontinuum-Modell per se progressiv ist und die Grenze zwischen normalen Frauen und Männern und abnormalen Intersexen automatisch aufheben würde.

Über die Verbreitung der Amniozentese oder Fruchtwasserpunktion sprach REGULA ARGAST (Universität Zürich) im letzten Referat. Die Technik wird seit den 1960er-Jahren, als die Untersuchung von Chromosomen möglich wurde, regelmäßig angewandt. In den meisten Fällen dient sie zur Erkennung von Trisomie 21. In 90 Prozent der positiven Tests werde ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen. Die Amniozentese könne laut Regula Argast als Schlüsseltechnik für den Prozess der Genetisierung der Fortpflanzung betrachtet werden. Darunter sei zu verstehen, dass die (erwünschte) Fortpflanzung von den Genen des Kindes abhängig gemacht wird. Möglich wurde diese Entwicklung erst durch die erfolgreiche Verbindung der reproduktiven Medizin und der Humangenetik. Obwohl auch Kritik laut wurde und der Vorwurf der Eugenik gemacht wurde, etablierte sich die Amniozentese erfolgreich. Dies führte unter anderem auch zu einer Dynamisierung alter Exklusionsdiskurse gegenüber behinderten Menschen.

Das Thema der Intersexualität fand sich auch im Panel „Reproduktion und Überschreitung von sozialen Grenzen im Sport“. STEFAN WIEDERKEHR (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften) ging der Frage nach, wie der Sportbetrieb mit intersexuellen, aber auch transsexuellen Menschen umgeht. In kaum einem anderen Bereich werde die Segregation der Geschlechter so rigide gehandhabt. Begründet wird die strikte Trennung mit Fairnessargumenten, welche sich des Stereotyps der schwachen Frau bedienten. Zwischen 1968 und 1998 wurden Frauen systematisch auf ihre „Weiblichkeit“ getestet. Heute geschehe dies nur noch in Verdachtsmomenten. Nicht nur Frauen, sondern auch Inter- und Transsexuelle würden durch dieses bipolare System diskriminiert. Welche „objektiven“ Kriterien zur Zuweisung der Betroffenen zum einen oder anderen Geschlecht auch entwickelt werden, sie werden immer normierend sein und den Individuen einen Entscheid über ihre Geschlechtlichkeit aufdrängen. Mit Ulrike Klöppels Erkenntnissen betreffend des Kontinuum-Modells im Hinterkopf sei allerdings die Frage gestellt, welches Denkmodell gegen diese Art von Diskriminierung durch Kategorisierung Abhilfe schaffen könnte.

Der Vortrag von GIANNI HAVER (Université de Lausanne) über die Entstehung der Superhelden thematisierte „Geschlecht“ nicht. Der Referierende stellte anschaulich dar, wie Superman zuerst im Comic existierte und mit dem Schritt in neue Medien (Cartoons, Radio) fliegen lernte. Als Zeichnung auf dem Papier besaß Superman nämlich nur die Fähigkeit des Springens. Eine neue Beziehung zur Körperlichkeit und der Wunsch nach Darstellung eben dieser an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert komme im Genre „Superhelden“ ebenfalls zum Ausdruck. Die Frage nach dem von Superman verkörperten Männlichkeits-Modell drängt sich beim ausdrucksstarken Anschauungsmaterial auf. Gianni Haver hat diese in seiner Arbeit bisher nicht berücksichtigt, wie sich in der Diskussion herausstellte.

Das Panel „Métiers d’homme, métiers de femme? Franchir les frontières“ wurde von DOROTHEE RIPMANN (Universität Zürich) eröffnet. Sie erforscht die Grenzziehung zwischen den Geschlechtern in frühmittelalterlichen Grundherrschaften. Anhand von archäologischem Fundmaterial konnten Materialien und Räume unterschieden werden, die Männern beziehungsweise Frauen zugewiesen waren. Schneidende, eiserne, und große Werkzeuge etwa wurden eher von Männern benutzt, während kleinere Geräte aus Holz und Ton den Frauen dienten. Allerdings gelte es zu betonen, dass diese Grenzziehungen durchlässig waren und es große Überschneidungsflächen und dem Kontext angepasste Grenzverschiebungen gab. So gab es zwar explizite Frauen- bzw. Männerräume, aber auch Zirkulationsräume für beide Geschlechter ließen sich feststellen. Dorothee Ripmann stützte damit die in der Forschung diskutierte These, dass die nachmittelalterliche Kategorisierung der Geschlechter wohl strenger und exklusiver gehandhabt worden sei.

ANNE ROTHENBÜHLER (Université Paris Panthéon-Sorbonne / Université de Neuchâtel) hat in ihren Studien festgestellt, dass um die Jahrhundertwende die Auswanderung Schweizer Frauen eine der wenigen Möglichkeiten bot, sich beruflich zu entwickeln. Am Beispiel der Hausangestellten zeigte Anne Rothenbühler, wie der Begriff „carrière“ mit dem Überschreiten der Schweizer Grenzen (oft Richtung Paris) eine ganz neue Bedeutung annahm. War „carrière“ hierzulande ein Synonym für berufliche Aktivität, wurde er mit der Migration zusätzlich aufgeladen mit der Notion von beruflichem Aufstieg. Auch der Begriff „Arbeit“ wechselte seine Konnotation von „notwendig“ zu „lustvoll“. Rothenbühler betonte die Aneignung dieser Möglichkeiten durch Dienst- und Kindermädchen.

Weibliche Migration und damit verbundene neue Grenzaushandlungen war auch Thema des Referats von ANNA BADINO (Università degli Studi del Piemonte orientale). Am Beispiel der Migration aus dem Süden Italiens nach Turin in den 1960er-Jahren zeigte sie, wie die These, dass das bürgerliche Hausfrauenideal bis in die Arbeiterklassen vorgedrungen sei, für den Fall dieser Süditalienerinnen nicht unbedingt zutrifft. Diese schätzten die Möglichkeiten des florierenden Arbeitsmarktes im Norden des Landes und ihre Erwerbstätigkeit hatte Verschiebungen in der klassischen Rollenverteilung zur Folge. Beide Referate, welche sich mit Migrantinnen beschäftigten, zeigten, dass Migration gerade für Frauen Grenzverschiebungen mit sich bringen kann, die diese in ihrem Sinne zu nutzen wissen. Migration als Grenzüberschreitung oder Ausbruch ist also nicht nur in räumlicher, sondern auch in sozialer Dimension zu verstehen.

Ebenfalls Migration zum Thema hatte ein anderes Panel mit dem Titel „Macht und Wirkung von Grenzziehungen. Die schweizerische Migrationsgesellschaft im 20. Jahrhundert“. Eröffnet wurde das Panel mit DAMIR SKENDEROVICs (Université de Fribourg) Aufruf, die Immigrationsforschung nicht den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen zu überlassen. Bisher haben HistorikerInnen überwiegend Auswanderer zum Forschungsgegenstand genommen, oder die Einwanderung aus der Perspektive der Einheimischen oder als Wirtschaftsfaktor untersucht. Perspektiven und Strategien der Betroffenen, mikrohistorische Analysen also, seien bisher zu kurz gekommen, so Damir Skenderovic.

Wie Anna Badinos und Anne Rothebühlers Arbeiten demonstrierten, wurde dieser Aufforderung zumindest an den Geschichtstagen Genüge geleistet. Auch REGULA ARGAST hat in ihrem folgenden Referat die Betroffenen-Perspektive untersucht. Sie hat zur Untersuchung der Erfahrungen und Vorstellungen von Immigrantinnen und Immigranten der zweiten Generation im Kanton Basel-Stadt in den 1950er- und 1960er-Jahren folgende These zum Ausgangspunkt genommen: Identität und die Fremdheit der „anderen“ bedingten sich gegenseitig. So wurden Baslerinnen und Basler, die das Bürgerrecht beantragten, erst durch die Abweisung des Antrags durch die Behörden zu Fremden gemacht. Für die Betroffenen war diese Ablehnung oft die erste einschneidende Fremdheitserfahrung, die sie in ihrem Leben in der Schweiz machten. Diese Zuschreibung von Fremdheit durch die Behörden wurde von den Betroffenen als sehr verletzend wahrgenommen. Interessanterweise zeigten sich laut Regula Argast in den untersuchten Akten keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern, weder in den Begründungen zur Abweisung eines Gesuchs noch im Umgang der Betroffenen mit der Exklusion. Wie sich in der Diskussion herausstellte, könnten diese aber auch aufgrund des zu schmalen Quellenkorpus einfach nicht ersichtlich geworden sein.

Das Panel „Grenzüberschreitungen und Grenzziehungen. Geschlecht und ‚deviantes‘ Verhalten im 20. Jahrhundert“ hatte sich zum Ziel gesetzt, anhand konkreter Beispiele aufzuzeigen, wie mit als geschlechtsspezifisch wahrgenommen Grenzüberschreitungen von Frauen gesellschaftlich umgegangen wird. DOMINIQUE GRISARD (Universität Basel) hat zu diesem Zweck die Geschichte einer in der Schweiz wohnhaften russischen Sozialrevolutionärin rekonstruiert. Diese entsprach nicht dem Bild der in der Schweiz studierenden, „vermännlichten“ Russin, sondern bediente sich einer eleganten Garderobe und bewegte sich in angesehenen Kreisen. Dies war aber laut Dominique Grisard überwiegend „passing“, also Tarnung und Rolle, um Aktionen im Sinne der Revolution durchführen zu können. Die beschriebene Frau wurde in der linken Rezeption in der Schweiz mit Wilhelm Tell verglichen. Diese Verwandlung der Heldin zum Helden bezeichnete Grisard als „drag“. In der Diskussion zum Referat wurde der wissenschaftliche Mehrwert dieser Begrifflichkeit aus den Queer-Studies befragt.

Russinnen als Prototypen weiblicher Gewalttäterinnen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung könnten als Vorläuferinnen späterer „devianter“ Frauen betrachtet werden, etwa der „entfesselten Emanzen“ der Roten Armee Fraktion (RAF) in Deutschland. VOJIN SAŠA VUKADINOVIC (Humboldt-Universität zu Berlin) zeigte in seinem Referat über die Linksterrorismusdebatte der 1970er-Jahre in Deutschland, wie Politik, Wissenschaft, Medien und Klerus einen Antifeminismus propagierten, der das „dunkle“ und „zerstörerische Weibliche“ zum Ausgangspunkt nahm. In Österreich lasse sich im Umgang mit der RAF eine diskursive Abgrenzung gegenüber Deutschland durch eine betonte Antihysterie feststellen. Anhand des Beispiels einer (gescheiterten) Zusammenarbeit zwischen österreichischen Studenten mit einer deutschen inhaftierten Terroristin zeigte IRENE BANDHAUER-SCHÖFFMANN (Alpen-Adria-Universität, Klagenfurt), wie in der Österreichischen Rezeption des Vorfalls das Thema der „Verführung“ im Zentrum stand. So wurden „Buben“ von einer erfahrenen Terroristin und Österreich von Deutschland verführt. Diese Strategie der Abgrenzung von Deutschland und deren „devianten“ RAF-Terroristinnen zeige klare Parallelen zum Umgang Österreichs mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit.

Ebenfalls die 1970er-Jahre waren Schauplatz der Untersuchung zum Umgang der Printmedien mit der Neuen Frauenbewegung von ANDREAS SCHNEIDER (Justus-Liebig-Universität Giessen). Seit dem Erscheinen von „Der kleine Unterschied“ von Alice Schwarzer wurde in der deutschen Presse die Neue Frauenbewegung personalisiert und dadurch entpolitisiert. Die Autorin wurde der devianten Darstellung ihres Geschlechts bezichtigt und als Sprecherin der Frauenbewegung delegitimiert. Neben einem offenen Antifeminismus, der bei diesen Debatten um Alice Schwarzer zur Geltung kam, konnten sich aber auch „legitime“ Forderungen der Frauenbewegung etablieren. So wurde beispielsweise das Ziel nach politischer und rechtlicher Gleichstellung als „vernünftig“ angesehen, während Forderungen im Bereich der Sexualität oder auch der Ruf nach freier Abtreibung als Verhalten „verbissener“ Feministinnen und damit als explizit deviant konstruiert wurde.

Zwei abschließende Bemerkungen zum Besuch der Geschichtstage in Basel und sind aus geschlechtergeschichtlichen Perspektive zu machen. Zum einen war es interessant zu beobachten, wie verschiedene Untersuchungen weiblicher Migration zu ähnlichen Schlüssen kamen: Mit der Überschreitung nationaler Grenzen haben Migrantinnen oft auch die Grenzen ihrer sozialen Rolle als Frauen ausweiten zu können. Diese These gilt es, an weiteren Beispielen zu festigen und zu differenzieren. Des Weiteren konnte festgestellt werden, dass die Queer-Bewegung in der Geschlechterforschung Spuren hinterlassen hat: Dies äußerte sich, indem Intersexualität explizit Thema und Untersuchungsgegenstand von Referaten war oder indem die Begrifflichkeit der Queer-Studies als analytisch wichtig erachtet und übernommen wurde.

Konferenzübersicht: Grenzen. Schweizerische Geschichtstage 2010, Geschlechtergeschichte

Keynote
Merry Wiesner (University of Wisconsin): Crossing Borders in Gender History

Reproduktive Medizin – Sexualität – Fortpflanzung. Grenzverschiebungen im 19. und 20. Jahrhundert
Verantwortung: Gabriela Imboden (Universität Basel) / Regula Argast (Universität Zürich), Moderation: Caroline Arni (Universität Basel)

Regula Argast (Universität Zürich), Innovation und Wahrnehmung: Die Amniozentese als Schlüsseltechnik bei der "Genetisierung" der menschlichen Fortpflanzung seit den späten 1960er-Jahren
Gabriela Imboden (Universität Basel), "Castratio feminis" und Sterilisationen, medizinische Regulierung weiblicher Sexualität in den 1880er- und den 1930er-Jahren
Ulrike Klöppel (Charité Berlin), Genetische Recodierung uneindeutigen Geschlechts im 20. Jahrhundert: Genetische Intersexualität, eugenische Problematisierung und der Appell an die Eigenverantwortlichkeit

Reproduktion und Überschreitung von sozialen Grenzen im Sport
Verantwortung: Stefan Wiederkehr (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften)

Sandra Günter (Universität Bern), Grenzkörper. Dopingkörper im globalisierten Leistungs- und Hochleistungssport
Gianni Haver (Université de Lausanne), La frontière entre le possible et l’impossible : l’invention du corps super héroïque 1938-1948
Valérie Rolle (Université de Lausanne), Le corps, constructeur de frontières. Le cas du tatouage
Stefan Wiederkehr (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), Jenseits der Geschlechtergrenzen: Intersexuelle und Transexuelle im Spitzensport

Métiers d’homme, métiers de femme? Franchir les frontières
Verantwortung: Luigi Lorenzetti (Università della Svizzera italiana) / Nadège Sougy (Université de Neuchâtel)

Anna Badino (Università degli Studi del Piemonte orientale), Arbeiten und Lebensräume in der Agrargesellschaft aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Thesen zur Mittelalterforschung
Eleonora Canepari (École normale supérieure / École des hautes études en sciences sociales, Paris), Changer de ville, changer de métier. Hommes et femmes dans le marché du travail romain (XVIIe siècle)
Franck Dellion (Université Pierre-Mendès-France, Grenoble), Immigration et variations des structures de l’emploi dans le Briançonnais
Dorothee Ripmann (Universität Zürich ), Partir pour réussir ? Stratégie des Suissesses pour évoluer professionnellement 1850-1914
Anne Rothenbühler (Université Paris Panthéon-Sorbonne / Université de Neuchâtel), Continuità e mutamenti nei ruoli di genere. Il caso delle migrazioni interne negli anni Sessanta

Macht und Wirkung von Grenzziehungen. Die schweizerische Migrationsgesellschaft im 20. Jahrhundert
Verantwortung: Damir Skenderovic (Université de Fribourg) / Catherine Bosshart-Pfluger (Université de Fribourg)

Regula Argast (Universität Zürich), Fremdheit und Identität: Erfahrungen und Vorstellungen von Immigrantinnen und Immigranten der zweiten Generation im Kanton Basel-Stadt (1950-1970)
Catherine Bosshart-Pfluger (Université de Fribourg), Gender und Staatsbürgerschaft: Mittel der Inklusion und Exklusion aus transnationaler Perspektive
May B. Broda (Universität Basel), Re-Im-Migration? Schweizerische Rückwanderungspolitik im 20. Jahrhundert
Mauro Cerutti (Université de Genève), L'immigration italienne en Suisse dans le Deuxième après-guerre, et ses associations: défense des immigrés et efforts d'intégration, dans un contexte de guerre froide
Damir Skenderovic (Université de Fribourg), Ein Comeback der historischen Migrationsforschung in der Schweiz?

Grenzüberschreitungen und Grenzziehungen. Geschlecht und ‚deviantes‘ Verhalten im 20. Jahrhundert
Verantwortung: Andreas Schneider (Universität Giessen) / Dominique Grisard (Universität Basel); Moderation: Kerstin Wolff (Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung, Kassel)

Irene Bandhauer-Schöffmann (Alpen-Adria-Universität, Klagenfurt), Geschlechtliche Sicherheitsdiskurse. Westdeutsche und österreichische Linksterrorismus-Debatten der 1970er Jahre
Dominique Grisard (Universität Basel), Was eine russische Sozialrevolutionärin mit Wilhelm Tell gemein hat. Nationale Identität und Geschlecht in der Schweiz um 1900
Andreas Schneider (Universität Giessen), Feministische Transgressionen und mediale Grenzziehungen in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre
Vojin Saša Vukadinovic (Humboldt-Universität zu Berlin), Geschlechtliche Sicherheitsdiskurse. Westdeutsche und österreichische Linksterrorismus-Debatten der 1970er-Jahre