Protest bewegt

Organisatoren
AK Soziale Bewegungen der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft; Wissenschaftszentrum Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.03.2010 - 27.03.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Max Schulte, Exzellenzcluster "Religion und Politik", Westfälische Wilhelms Universität Münster

Unter dem Titel „Protest bewegt“ fand am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) zum zweiten Mal eine Tagung für Nachwuchs-BewegungsforscherInnen statt.1 Ziel der OrganisatorInnen war die temporäre Auflösung einer vielfach beklagten Vereinzelung des Nachwuchses im Bereich der Bewegungsforschung sowie der Austausch über eigene Forschungsprojekte. Gemeinsame Klammer des Workshops war das Thema Protest, das von NachwuchswissenschaftlerInnen aus den Bereichen Soziologie, Politikwissenschaft und, erfreulicherweise sehr zahlreich, aus den Geschichtswissenschaften aufgegriffen wurde.

Der erste Tag bestand aus acht Vorträgen von DoktorandInnen mit anschließender Kommentierung durch eine etablierte WissenschaftlerIn und Diskussion durch das Plenum. Den Schlusspunkt setzte DIETER RUCHT (WZB), der in einem Vortrag das Problem von „Nähe und Distanz“, nicht nur in der Bewegungsforschung, aufgriff. Er plädierte darin einerseits für eine gegenstandsangemessene Beantwortung der Frage von Nähe und Distanz. Andererseits bekannte er sich zu einer Forschung in der Tradition der Aufklärung, die aber ihre Wertgebundenheit an wissenschaftlichen Kriterien messen müsse.

Der zweite Tag war einer eingehenderen Beschäftigung mit den Themen „Transnationalisierung“ und „Geschichts- und kulturwissenschaftliche Zugänge zu sozialen Bewegungen" im Rahmen von Workshops vorbehalten. Beendet wurde die Veranstaltung durch einen Beitrag von ROLAND ROTH (Magdeburg) zum Für und Wider einer nationalen Bewegungsgeschichte. Er betonte die starke nationale Verankerung sozialer Bewegungen, auch im „Zeitalter der Globalisierung“. Roth verband die Beschreibung dieses Projekts mit dem Bekenntnis zu einer politischen Positionierung der Bewegungsforschung.

Charakteristisch für die Tagung war die inhaltliche Varianz der acht von NachwuchswissenschaftlerInnen gehaltenen Vorträge, die von US-amerikanischen Deserteuren über Gewalt bei Protestereignissen bis zu ländlichen Frauenbewegungen reichten. Trotz dieser thematischen Streuung konzentrierten sich alle Beiträge auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Diskussionen konzentrierten sich immer wieder auf ähnliche Fragen und Probleme. Sehr deutlich wurde, besonders im Vergleich zwischen Sozial- und Geschichtswissenschaften, die disziplinäre Prägung der Herangehensweise an das eigene Projekt. Zeitweise zeigte sich eine starke Betonung der Eigenheiten der Disziplinen durch Selbst- und Fremdcharakterisierungen der jeweiligen VertreterInnen: Erklären versus Beschreiben, konkrete Fragestellungen versus Offenheit für den Gegenstand oder Theoriegebundenheit versus Theorielosigkeit. Im Vordergrund stand aber über weite Strecken die konstruktive Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der transdisziplinären Verwendung oder Übernahme von Theorien. Was kann die sozialwissenschaftliche Theoriebildung zu sozialen Bewegungen für die Geschichtswissenschaft leisten? Ist es legitim Theoriefragmente zu „entwenden“, ohne ganze Theoriegerüste zu berücksichtigen? Welche Rolle spielen Theorien überhaupt?

Ebenfalls wie ein roter Faden liefen Fragen von Methoden und Empirie durch die Diskussionen. Etablierte Methoden wie die historische Quellenanalyse oder die Interviewforschung trafen dabei auf Video- und Sequenzanalyse. Die Möglichkeiten und der Mehrwert von „neuen“ Methoden wurden dabei durchaus unterschiedlich gesehen. Immer wieder eingefordert wurde aber, unabhängig von den verwendeten Methoden, die Notwendigkeit, explizit zu machen, was zum eigenen Gegenstand gehört und wie die zu untersuchenden Fälle gesampelt werden.

Aus methodologischer Perspektive war es interessant, dass sich alle Projekte im qualitativen Paradigma verorten ließen. Daraus resultierend war eine bevorzugte Ansiedelung der Empirie auf der Mikroebene festzustellen. In der Diskussion wurde dies besonders in Bezug auf die Ausblendung von Rahmenbedingungen und die Schwierigkeit von Verallgemeinerbarkeit problematisiert.

Als Fazit bleibt, dass die bei der Tagung offensichtlich gewordene Heterogenität der Protest- und Bewegungsforschung Möglichkeiten, aber auch Risiken birgt. So ist ihre Anschlussfähigkeit an eine Vielzahl von Disziplinen und die damit verbundenen Perspektiverweiterungen in Bezug auf Theorien, Methoden und Herangehensweisen ein großer Vorteil. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass es nicht zu einer Verständigung oder zumindest Diskussion über gemeinsame Begriffe und Theorien kommt, so dass sich jenseits des Bezugs auf soziale Bewegungen als Gegenstand kein gemeinsamer Nenner ergibt.

Konferenzübersicht:

Anne Nassauer (BGSS): Protest und Gewalt im historischen Verlauf. Von der 1968er Bewegung zur globalisierungskritischen Bewegung.

Sarah Kiani/Leena Schmitter (Universität Bern): Soziale Bewegung in Politik und Gesellschaft: Eine Wirkungsanalyse der neuen Frauenbewegung in der Schweiz (1968-2002).

Judith Vey (Universität Siegen): Globalisierungskritische Bewegungen – sind sie heute überhaupt noch ein Begriff?

Anja Bertsch (Universität Konstanz): „Anders Reisen“ - alternativer Jugendtourismus der 1960er bis 1980er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland.

Philipp Kufferath (Universität Göttingen): Linkssozialistische Netzwerke als Initiatoren von Protest.

Paul Benedikt Glatz (GSNAS): Amerikanische Deserteure und internationale Protestbewegungen gegen den Vietnamkrieg

Johanna Schniedergers (Universität Münster): „Entgrenzung des Städtischen“ oder „Neuaneignung der Provinz“? Die Neue Frauenbewegung auf dem Land.

Michael Neuber (HU Berlin): Choreographie des Protesthandelns. Körper als Akteur im sozialen und politischen Protest.

Dieter Rucht (WZB): Nähe und Distanz. Eine Gratwanderung in der Bewegungsforschung.

Workshops zu (1) Transnationalisierung von Protest und sozialen Bewegungen. (2) Geschichts- und Kulturwissenschaft in der Protest- und Bewegungsforschung.

Roland Roth (FH Magdeburg-Stendal): Nationale Bewegungsgeschichte - Erträge und Grenzen einer Untersuchungsperspektive.

Anmerkung:
1 Auf <http://sozialebewegungen.wordpress.com/> findet sich auch ein Bericht über die erste Tagung (18.05.2010).


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