Mythos Weimar - Das intellektuelle Erbe der ersten deutschen Demokratie

Mythos Weimar - Das intellektuelle Erbe der ersten deutschen Demokratie

Organisatoren
Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH); Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.04.2010 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Claudia Kemper, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

In einer gemeinsamen Veranstaltung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und des Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ) standen der „Mythos Weimar“ und „das intellektuelle Erbe der ersten deutschen Demokratie“ im Fokus von insgesamt fünf Vorträgen. Während des konzentrierten Tagesworkshop sollten intellektuelle Protagonisten der Weimarer Zeit vorgestellt und auf ihre ideellen und politischen Transformationen und Beiträge während der Gründungsphase der Bundesrepublik befragt werden.

Als Peter Merseburger in seiner 1998 erschienen Kulturgeschichte vom „Mythos Weimar“ sprach, hatte er den genius loci von Weimar und dessen Bezüge zur deutschen Klassik in den Vordergrund gestellt. Der kulturgeschichtsträchtige Ort fungierte auch während der Republik von Weimar, so AXEL SCHILDT (Hamburg) in seiner Einführung, als Chiffre für Kunst und Kultur. Dennoch zeichnete sich die deutsche Politik nach 1945 dadurch aus, sich allzu deutlich von der Weimarer Republik abzugrenzen. Dabei war gerade das politische Establishment durch eine hohe personelle Kontinuität gekennzeichnet. Erst eine jüngere Generation von Politikern und Intellektuellen konnte sich ab Ende der 1950er-Jahre darauf einlassen, die Weimarer Republik als ein Laboratorium der Moderne wiederzuentdecken, um für ein neues linkes Denken aus ihr zu schöpfen. Welcher Konnex für den ersten Zusammenhang erkennbar ist und inwiefern für den letztgenannten vor allem die deutschen Exilanten in den USA oder in Israel maßgeblich waren, sollte im Fokus der folgenden Vorträge stehen, um nachzuvollziehen, wie mit dem Erbe und dem Mythos von Weimar in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts umgegangen wurde.

Der erste Vortrag nahm die politische Spurensuche auf und ging der Frage nach, warum die gerade im 60. Jubiläumsjahr der Bundesrepublik so oft beschworene Erfolgsgeschichte in den Anfangsjahren keineswegs so eindeutig verlief. SEBASTIAN ULLRICH (München) präsentierte pointierte Ergebnisse aus seiner kürzlich erschienen Studie zum „Weimar-Komplex“.1 Der Titel verweist auf ein lange Zeit vernachlässigtes Dilemma der politischen Akteure zu Beginn der zweiten deutschen Demokratie. Die Politiker der frühen Bundesrepublik waren in der Weimarer Republik sozialisiert, deren Scheitern sie wie ein unbewältigtes Trauma während ihrer erneuten politischen Laufbahn begleitete. Deshalb konnten sie die erste deutsche Republik kaum als einen positiven Erinnerungsort in ihr Tun integrieren. Ihre Schlussfolgerungen aus dem Scheitern, darauf machte Ullrich aufmerksam, waren jedoch keineswegs eindeutig, sondern äußerst disparat. Als man sich in den Diskussionen um das Grundgesetz um Abgrenzung von der ersten Republik bemühte, war dies auch beeinflusst von der langfristigen Wirkung des nationalsozialistisch geprägten Bildes der Weimarer Republik als ein zutiefst schwaches System. Die Gründungsväter und -mütter der Bundesrepublik orientierten sich lieber an den demokratischen Traditionen des 19. Jahrhunderts, um für Legitimität und Vertrauen zu werben. Das von Fritz René Allemann geprägte Label, Bonn sei nicht Weimar ließe zudem erkennen, wie sehr die Lehren aus der als defizitär erinnerten Weimarer Demokratie zur ideellen Grundlage der Bundesrepublik gerieten.2 Diese waren dennoch widersprüchlich und sahen, wie schon in den 1930er-Jahren im Exil oder Widerstand diskutiert, eher selten einen Ausbau des parlamentarischen Systems vor. Auch nach 1945 hatten die Forderungen von Union oder SPD eher abwehrenden Charakter – sei es gegenüber antidemokratischen Kräften oder monopolkapitalistischen Strukturen. Die Grundlagen für die aktuell so oft hervorgehobene Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik wurden in dieser Phase gelegt: Je mehr die Weimarer Republik als Negativfolie für den Aufbau der Bonner Republik fungierte, desto erfolgreicher konnte die Politik der Adenauer-Ära wirken. Diese Funktion habe Weimar bis heute nicht ganz verloren, wobei die oft reflexhaften Vergleiche gegenwärtiger Krisensymptome mit denen der Weimarer Republik wohl eher rhetorischer als analytischer Natur seien.

ALEXANDER GALLUS (Rostock) näherte sich dem Erbe von Weimar auf personeller Ebene. Er machte darauf aufmerksam, dass die Zeitschrift Weltbühne zwar schon frühzeitig als bekanntestes linksliberales, kritisches und pluralistisches Organ der Weimarer Republik galt, aber erst jetzt der wissenschaftliche Fokus auch über die Zeit von 1933 hinaus auf ihre Wirkfunktion gerichtet wird. Obwohl die Auflage der Zeitschrift nie über 16.000 Exemplare hinaus kam, waren ihre Herausgeber Jacobsohn, Ossietzky und Tucholsky von ihrer Meinungsführerschaft überzeugt. An diesen durchaus elitären Habitus haben auch die Mitarbeiter Axel Eggebrecht und Kurt Hiller angeknüpft, als sie nach 1945 auf eine wiedererstehende Weltbühne hofften. Gallus knüpfte an seine selbst gestellten Vorgaben für eine erneuerte Geistesgeschichte an3 und stellte diese beiden Intellektuellen in den Mittelpunkt seines Vortrages, um zu verdeutlichen, wie sehr das Avantgarde-Denken der Weimarer Zeit ihr intellektuelles Tun auch in der jungen Bundesrepublik beeinflusste. Eggebrecht gab in seinen Memoiren unumwunden zu, die Weimarer Weltbühne-Zeit „waren unsere besten Jahre“ und Hiller forderte eine Neo-Weltbühne, die den nach seiner Meinung wenig fortschrittlichen publizistischen Markt der Bundesrepublik aufwühlen sollte. Beide Männer litten am träge und restaurativ empfundenen kulturelle Klima der zweiten Republik und gehörten gleichzeitig zum tonangebenden intellektuellen Personal. Nach 1945 war geistiger Elitismus verpönt, aber Fortschritt wurde großgeschrieben, womit Eggebrecht und Hiller zwei wesentliche Dimensionen für geistige Kreativität auseinander treten sahen. Ihre Haltung als intellektuelle Außenseiter beruhte zum einen auf dem Erbe von Weimar und war zum anderen der bundesrepublikanischen Gegenwart geschuldet.

Während Ullrich und Gallus den Blick auf die Weimarer Erbfolge innerhalb Deutschlands gerichtet hatten, wurde in der von URSULA BÜTTNER (Hamburg) geleiteten zweiten Sektion die Perspektive auf das transnational agierende intellektuelle Personal nach 1945 erweitert. Nach UDI GREENBERGs (Jerusalem) These trugen vor allem diejenigen re-emigrierenden Intellektuellen zur ideellen Unterfütterung des Kalten Krieges bei, die auch im demokratietheoretischen Horizont der Weimarer Republik standen. Greenberg ging auf die beiden unterschiedlich ausgerichteten Demokratietheoretiker und Universitäts-Professoren Ernst Fraenkel und Carl J. Friedrich ein, die ihre Beiträge für die US-Administration, für das Grundgesetz und die Landesverfassungen in Deutschland auf der Grundlage intellektueller Debatten der Weimarer Zeit entwickelt hätten. Fraenkel, 1936 in die USA emigriert, beriet bis 1950 die amerikanische Regierung, während der seit Anfang der 1930er-Jahre in Harvard lehrende Friedrich die US-Administration während der Entnazifizierungsphase in Deutschland unterstützte. Nach Greenberg wies das Freund-Feind-Denken der Zwischenkriegszeit nicht nur strukturelle Ähnlichkeit mit der politischen Situation im aufziehenden Kalten Krieg auf, sondern konnte erst durch die Beiträge deutscher Intellektueller zur eingängigen Erklärungsfigur aufsteigen. Seine These belegter er mit einer präzisen Erläuterung von Fraenkels gewandelter Pluralismustheorie und Friedrichs Version der aufkommenden Totalitarismustheorie. Fraenkel integrierte in seine pluralistische Deutung des Wohlfahrtsstaates rigoros auch sozialistische Ideen und löste sie auf diese Weise aus einem bis dahin kommunistischen Bedeutungszusammenhang. Carl Friedrich, Chefberater von General Lucius Clay, entwarf staatsrechtliche Erklärungen für die unvereinbaren Positionen eines totalitären Kommunismus mit demokratischen Strukturen. Beide Männer griffen in ihren Überlegungen auf die in der Weimarer Zeit verbreitete Sozialismus-Rezeption bzw. den antibolschewistischen Diskurs zurück. Durch ihre Integrations- und Abgrenzungsleistung im Dienste der US-Administration agierten Fraenkel und Friedrich, mit je unterschiedlichen politischen Grundierungen, als einflussreiche Mediatoren zwischen amerikanischen und westdeutschen Staatsvorstellungen während des Kalten Krieges.

Neben Fraenkel und Friedrich, die aktiv an der verfassungsrechtlichen Diskussion in Deutschland beteiligt waren, gab es wiederum eine beträchtliche Anzahl europäischer und deutscher Emigranten, die ihre im Weimarer Horizont gewonnenen Vorstellungen innerhalb der us-amerikanischen think tanks einsetzten. Nach TIM B. MÜLLER (Hamburg) trug diese Infrastruktur wesentlich dazu bei, dass sich die europäischen Intellektuellen ab den frühen 1960er-Jahren als Teil der amerikanischen community identifizieren konnten.4 Müller eröffnete seinen Beitrag über die Bedeutung linksintellektueller Emigranten im Kalten Krieg mit einer Äußerung Herbert Marcuses, der auf die Kritik an seiner Mitarbeit beim CIA erwidert habe, dass eben seine linken Beiträge zur Arbeit des State Department wichtige Grundlagen für den Fortschritt amerikanische Europa-Politik böten. Marcuses intellektuelles Selbst- und Integrationsverständnis, das sich in dieser Erwiderung spiegelte, habe sich auch in seiner engen Verbundenheit mit dem Historiker und State-Department-Berater Stuart Hughes gezeigt. Im Zusammentreffen deutscher und amerikanischer Intellektueller – auch schon während des Zweiten Weltkrieges – sieht Müller ein zentrales Momentum für die Nachkriegsentwicklung: mithilfe der Kenntnisse linker oder linksliberaler Intellektueller gepaart mit einem streng sozialwissenschaftlichen Vorgehen ließ die US-Regierung den Kommunismus erforschen, um ihn anhand der Ergebnisse widerlegen zu können. Müller resümierte mit Blick auf die Fragestellung des Workshops, dass bei den linken Intellektuellen, die für die USA arbeiteten, ein sehr lebendiges und transformiertes Erbe aus der Weimarer Zeit ihre Integration beförderte.

Während an den von Greenberg und Müller vorgestellten internen Intellektuellen das Spannungsfeld zwischen Geist und Macht deutlich wurde, widmete sich der Abendvortrag einem Spektrum externer Intellektueller. STEVEN E. ASCHHEIM (Jerusalem), erfahrener Experte der deutsch-jüdischen Intellektuellengeschichte5, ging in seinen virtuos und anschaulich vorgetragenen Überlegungen der Frage nach, warum eine Handvoll jüdischer Weimarer Intellektueller zum kanonisierten Bestand der anglo-amerikanischen und westlichen akademischen Kultur aufsteigen konnte. In der Tat erscheint es zunächst wie ein Paradoxon der europäischen Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts, dass Theodor Adorno, Hannah Arendt, Walter Benjamin, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem oder Leo Strauss, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer systematischen Ausgrenzung gegenüber sahen, während der zweiten Hälfte zu Ikonen der abendländischen Philosophie aufstiegen. Die meisten der Genannten hatten ihre Karriere schon in der Weimarer Republik begonnen und früher oder später Deutschland Richtung USA oder Palästina verlassen. Aschheim sah gerade in dieser biographisch-ideellen Verworfenheit einen der Gründe, warum jüdische Intellektuelle nach 1945 als legitime Vertreter europäischer Philosophie gesehen werden konnten: sie galten, zunächst in den USA, als Opfer, Außenseiter oder gar Exoten, als kritisch, unabhängig, schwierig im Umgang und vor allem jedem Nazismus fern, wodurch sie wiederum auch glaubwürdig antiliberale Kritik üben konnten. Aber Aschheim ging über diesen ersten Erklärungszusammenhang hinaus und der Frage nach, warum dennoch von der Vielzahl emigrierter Denker eben diese Handvoll so bekannt und wirksam geworden sei. Zum einen haben Adorno, Arendt oder Benjamin zeitlebens versucht, intellectual communities zu konstituieren, in denen unorthodox reflektiert wurde, welchen Status kognitive Systeme und individuelles Leben unter den Auswirkungen moderner Verwerfungen einnehmen oder einnehmen können. Zum anderen verwies Aschheim auf das kaum wahrgenommene Phänomen, dass alle später kanonisierten jüdischen Intellektuellen, bis auf Adorno, mit dem Zionismus eng verbunden waren. Auf je individuelle Weise waren sie während ihrer intellektuellen Laufbahn immer wieder dazu gezwungen, losgelöst von jüdischen Traditionszusammenhängen über Identitätsformen nachzudenken. Da der Akt des Schreibens deshalb auch immer ein Akt der Grenzverschiebung gewesen sei und da Grenzüberschreitungen und -verschiebungen wiederum zum existenziellen Arsenal intellektueller Tätigkeit gehören, konnten jüdische, externe Intellektuelle zu legitimen philosophischen Ikonen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mithin der Postmoderne werden.

Der Bogen von handfesten Diskussionen zum Grundgesetz der Bundesrepublik bis hin zur zeitgenössischen europäischen Kultur wurde somit während dieses Tagesworkshop auf gelungene Weise geschlagen. Interessanterweise mussten sich fast alle Beiträger während der Diskussionen mit der Frage nach einer Wirkungsgeschichte ihrer behandelten Ideen und Personen auseinandersetzen. Hier zeichnete sich eine der Schlussfolgerungen aus dem Workshop ab, die intellektuellenorientierten Transformationsgeschichten noch stärker in biographische, soziologische, soziale und mentalitätsgeschichtliche Kontexte einzubetten. Zwei weitere Punkte hob STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM (Hamburg) in ihrem Schlusskommentar hervor und eröffnete das Feld für weitere Workshops: Erstens biete die europäische Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Anknüpfungspunkte und Perspektiven, um zugleich die Renaissance einer erweiterten Weimar-Forschung zu ermöglichen. Und zweitens sei zu hoffen, dass diese Forschungsansätze in Zukunft in doppelter Hinsicht weniger männlich dominiert als bisher gestaltet werden.

Konferenzübersicht:

1.Sektion
Moderation: Axel Schildt (Hamburg)

Sebastian Ullrich (München): Eine geradlinige Erfolgsgeschichte? Die Weimarer Erfahrung und die Anfänge der Bundesrepublik
Alexander Gallus (Rostock): Linksintellektuelle aus der „Weltbühne“ nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost und West

2. Sektion
Moderation: Ursula Büttner (Hamburg)

Udi Greenberg (Jerusalem): Cold War Weimar: The German immigration and the Weimar intellectual Origins of the Cold War
Tim B. Müller (Hamburg): Von Weimar nach Washington. Linksintellektuelle Emigranten im Kalten Krieg

3. Sektion
Moderation: Stefanie Schüler-Springorum (Hamburg)

Steven E. Aschheim (Jerusalem): The Weimar Jewish Intellectual Legacy at the Beginning of the Twentieth First Century

Anmerkungen:
1 Sebastian Ullrich, Der „Weimar-Komplex“: das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945-1959, Göttingen 2009.
2 Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956.
3 Alexander Gallus, „Intellectual History“ mit Intellektuellen und ohne sie: Facetten neuerer geistesgeschichtlicher Forschung, in: Historische Zeitschrift 288,1 (2009), S. 139-150.
4 Demnächst erscheint Müllers Dissertation „Radikale, Krieger und Gelehrte. Linksintellektuelle, amerikanische Geheimdienste und philanthropische Stiftungen im Kalten Krieg", Berlin 2009.
5 Steven E. Aschheim, Beyond the Border: The German-Jewish Legacy Abroad, Princeton 2007.


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