Unternehmergeschichte, Unternehmensgeschichte, Unternehmenskultur - Sachsen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert

Unternehmergeschichte, Unternehmensgeschichte, Unternehmenskultur - Sachsen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Sächsisches Wirtschaftsarchiv e.V., Leipzig u. Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Technische Universität Chemnitz
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2003 - 27.09.2003
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Von
Eva Pietsch, Chemnitz

4. unternehmensgeschichtliches Kolloquium

Die diesjährige Veranstaltung des unternehmensgeschichtlichen Kolloquiums - 1997 in Leipzig begründet und seither im Zweijahresabstand weitergeführt - nahm sich ähnlich wie zuvor der Geschichte und Historiographie des Unternehmens und der Unternehmer an. Die Veranstalter zielten diesmal auf eine Bestandsaufnahme und Diskussion neuerer Ansätze und Entwicklungen der bundesweiten Unternehmer- und Unternehmensgeschichtsschreibung. Vorgestellt und diskutiert wurden insgesamt 17 Forschungsbeiträge, die auf Studien zur sächsischen, aussersächsischen und international vergleichenden Unternehmensgeschichte basierten. Ein Drittel der Einzelbeiträge besass einen expliziten Bezug zu Sachsen. Wie Prof. Rudolf Boch (Chemnitz) in seinen einleitenden Grussworten betonte, sei dieser Theorie und Empirie verbindende Zugang, der insbesondere den Tellerrand des Einzelunternehmens überschreite, zugleich die Voraussetzung dafür, eine zuweilen noch immer altbackene Genügsamkeit des Fachs "Unternehmensgeschichte" in Hinblick auf ihre Anschlussfähigkeit an übergeordnete historische Fragestellungen zu überwinden. Sein Dank ging an die ideelen und finanziellen Förderer des Kolloquiums, das Sächsische Wirtschaftsarchiv sowie den drei sächsischen Industrie- und Handelskammern als dessen Trägern, die Mitveranstalter Ulrich Heß und Michael Schäfer sowie das Chemnitzer Industriemuseum.

Das Kolloquium war in vier thematische Sektionen gegliedert. Den Auftakt bildete die von Rudolf Boch moderierte Sektion zu Grundfragen der Unternehmer- und Unternehmensgeschichte, die Hartmut Berghoff (Göttingen) mit einem Plädoyer für eine offensive Positionierung der Unternehmensgeschichte eröffnete. Diese sei angesichts ihrer nach wie vor schwachen institutionellen Verankerung und dem absehbaren Ende der unternehmenshistorischen Aufarbeitung der NS-Zeit dringend geboten. Im Sinne einer solchen Positionierungsoffensive ging sein Beitrag "Wozu Unternehmensgeschichte? Erkenntnisse, Ansätze und Perspektiven der modernen Unternehmensgeschichte" ausführlich auf deren Nutzen für Ökonomen und Praktiker ein (Orientierung, Identitätsstiftung, Trainings- u. Korrekturfunktion) und warf - jenseits einer naiven Vorstellung von der Geschichte als "Lehrmeister" - ein breites Spektrum gegenwartsbezogener Funktionen der Unternehmensgeschichte auf. Ihren Nutzen für die historische Forschung verortete Berghoff innerhalb von vier "Fundamentaldimensionen" historischer Prozesse, in denen Unternehmen als zentrale mikroökonomische Akteure, als soziale Interaktionsfelder, als kulturschaffende Institutionen und schliesslich als politische Akteure in Erscheinung träten. Berghoff beendete seinen Vortrag mit einer Abwägung von Chancen und Risiken theoriegeleiteter Unternehmensgeschichtsschreibung sowie mit einem Blick in den differenzierten theoretischen "Werkzeugkasten", der mittlerweile als Analyseinstrumentarium zur Auswahl steht. Hierbei plädierte Berghoff für eine offene Nutzung des Theorieangebots, das letztlich entsprechend jeweils erkenntnisleitender Interessen und Fragestellungen genutzt werden müsse, um das Kerngeschäft der Unternehmensgeschichte, die Kontextualisierung von Unternehmens- und unternehmerischem Handeln und seine Interpretation, zu bewältigen.

Eine konkrete Anschauung der Umsetzbarkeit eines dieser Theorieangebote lieferte Paul Erker (München), dessen Beitrag "Corporate Governance - Ein neuer Untersuchungsansatz der historischen Unternehmerforschung?" ein entschiedenes Plädoyer für diesen Ansatz beinhaltete. An insgesamt drei Fallbeispielen (Chemische Werke Hüls, Kobrak, BASF) erläuterte er Stärken und Schwächen des auf die Analyse von Leitungs-, Eigentümer- und Kapitalstrukturen zielenden Konzepts 'Corporate Governance' (CG), wobei er sich auf dessen engere, stärker betriebswirtschaftliche Perspektiven fokussierende Variante konzentrierte. Es könne insbesondere der familienunternehmerischen Forschung mehr Tiefenschärfe verleihen, indem etwa der Einfluss juristischer Regeln und Freiräume sowie der Kapitalstruktur systematisch in die Analyse eingebunden würden. Die vergleichende Betrachtung externer und interner CG-Verfassungen sei zudem zentral für die Analyse unternehmerischen Handelns in der NS-Zeit, da mit seiner Hilfe beispielsweise gezeigt werden könne, dass neue, betriebswirtschaftliche Grundsätze zentraler für unternehmerisches Handeln sein konnten als ideologische und politische Vorgaben. Auf kritische Nachfragen, etwa nach der Neuheit und den Verfahren des CG-Ansatzes, antwortete Erker, indem er den qualitativen Erkentniszugewinn betonte, der aus dem CG-Konzept für die Erfassung und Erklärung langfristigen Wandels der Unternehmensführung resultiere und der sich nicht zuletzt aus der Verknüpfung von Struktur- und Handlungsebene des Unternehmen dieses analytischen Zugriffs ergebe.

Eine andere Schwerpunktsetzung schlug Morten Reitmayer (Trier) in seinem Beitrag "Ein integrierter Ansatz der Unternehmer- und Unternehmensgeschichte" vor, dessen Ziel lautete, eine neue Herangehensweise zur sozialhistorischen Untersuchung der Unternehmerschaft zu formulieren. Entgegen einer tendenziellen Gleichsetzung von Unternehmern und Unternehmen in der Neuen Institutionenökonomie sowie wirtschafts- und sozialhistorischen Forschungsrichtungen, die mit funktionalistischen oder positionalen Unternehmer-Definitionen operierten, schlug Reitmayer eine Konzentration auf drei konzeptuelle Begriffe vor, um Unternehmer- und Unternehmensgeschichte enger als bisher zu verzahnen: 1. die Geschäftswelt, verstanden als komplexes Feld von Akteursbeziehungen sowohl innerhalb des Unternehmens, als auch innerhalb verschiedener Submilieus - sei es der Region, der Branchen oder des Umfangs ökonomischer Macht, 2. die Unternehmensstrategie, deren Entwicklung und Durchsetzbarkeit nur abhängig von Merkmalen und Strukturen dieser Geschäftswelt zu analysieren und zu erklären ist, 3. und schließlich der unternehmerische Habitus, der durch die familiäre und durch die betriebliche Sozialisation geprägt werde. Speziell auf die analytische Integration dieses Habitus, der das Mass der Risikoorientierung wie die handlungsleitenden Wahrnehmungsweisen und Ordnungsvorstellungen präge, legte Reitmayer besonderes Gewicht, da dieser Einstellungen und Präferenzen für unternehmensstrategische Entscheidungen in grundlegender Weise prädisponiere. Die anschliessende Diskussion, in der die Operationalisierbarkeit gerade des Habitus-Begriffs kritisch hinterfragt wurde, zeigte einmal mehr, das diese theoretisch stimmigen Überlegungen einer Umsetzung jenseits des einzelnen Fallbeispiels weiterhin harren.

Den Abschluss der Sektion bildete Mark Spoerer (Hohenheim), der mit seinem Referat "Wider den Eklektizismus in der Unternehmensgeschichte" die Praxis unternehmenshistorischer Forschung der letzten Jahre unter die Lupe nahm. Seine Auswertung von Artikeln der Zeitschrift für Unternehmensforschung im Vergleich der sechs Jahre 1997-99 und 2000-2002 liess ihn hinsichtlich zweier Kernanforderungen an eine wissenschaftliche Unternehmensgeschichte schlechte Noten erteilen: Diese habe sich von komparativen Untersuchungen zunehmend abgewandt und die Theorieorientierung sträflich vernachlässigt. Spoerer schreckte auch nicht vor der pointierten Zuspitzung zurück, kulturgeschichtliche Ansätze hätten sich vielfach im Anekdotischen verloren, und ihre Ergebnisse seien im Wesentlichen ohne Anschlussfähigkeit geblieben. Spoerer plädierte für eine Rückkehr zur sozialwissenschaftlichen Unternehmensanalyse und betonte, Unternehmensgeschichte müsse erstens vergleichend arbeiten - das Einzelunternehmen sei allenfalls als Repräsentant einer Unternehmensgruppe interessant. Zweitens müsse sie theoriebezogen vorgehen, um Hypothesenbildungen und längst überfällige Syntheseversuche voranzubringen. Wenngleich die Zustandsanalyse Spoerers nicht ohne Widerspruch blieb - Grundlage zukünftiger Syntheseversuche könnten nicht zuletzt auch jene nicht-komparativen "Einzelstudien" etwa zur NS-Zeit sein - stiessen seine beiden Grundforderungen nach Theorieorientierung und Vergleich - nicht nur nach Branchen, sondern auch nach unternehmerischen Funktionsbereichen - auf breiten Konsens.

Die zweite Sektion - Quellen, Methoden und Praxis der Unternehmenshistoriographie - behandelte eine Bandbreite unterschiedlicher Aspekte. Den Anfang machte eine Überblicksdarstellung von Jörg Ludwig (Dresden) zu den unternehmenshistorisch relevanten Quellen sächsischer Archive. Aus der Sicht des Archivars schilderte er die Entwicklung der Wirtschaftsüberlieferung in Sachsen als eine Abfolge teils spontaner, teils organisierter Prozesse und zeigte Lücken und Schwerpunkte dieser Überlieferung auf. Wenngleich dieser überwiegend auf der Zeit nach 1945 und zu 73 Prozent auf staatlichen Betrieben liegt, stellen 7000 laufende Meter Akten zu privatwirtschaftlichen Unternehmungen doch einen beeindruckenden Fundus dar.

Dass aus diesem auch für die Zeit vor 1945 reich geschöpft werden kann, darüber informierte Ulrich Hess (Leipzig), dessen Beitrag "Industriefotografien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als unternehmensgeschichtliche Quelle" über den gegenwärtigen Erschliessungsgrad in sächsischen Archiven verfügbarer Bildbestände aufklärte. Er stellte die Themenschwerpunkte der Bestände sowie das Projekt eines Bildbandes zur sächsischen Industriegeschichte vor. Die Diskussion des methodischen Umgangs mit Bildern als unternehmenshistorische Quellen konzentrierte sich auf das Problem der Rekonstruierbarkeit von Entstehungs- und Verwendungskontexten angesichts fehlender schriftlicher Überlieferungen sowie auf die Frage, wie der Einsatz von Bildern im Prozess einer zunehmend visuell geprägten Umwelt und dem Wandel des Bildes zum preiswerten Massenmedium in unternehmenshistorischen Darstellungen angemessen berücksichtigt werden kann, wobei eine längst überfällige Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen philologischer Nachbarwissenschaften angemahnt wurde.

Überaus aufschlussreich war der Beitrag der Historiker Michael Farrenkopf und Stefan Przigoda (Deutsches Bergbaumuseum Bochum) zur "vernachlässigten Quelle Industriefilm", deren Interpretation und Reichweite sie in Anlehnung an Clemens Wischermann als Medium unternehmenskommunikatorischer Strategien vorführten. Mithilfe von Ausschnitten aus Filmen zur Unfallverhütung aus den dreißiger, fünfziger und sechziger Jahre demonstrierten sie, dass Filme diesen Typs über ihren dokumentarischen und zweckgebundenen Aussagewert hinaus zahlreiche weitere Bedeutungsebenen enthalten, etwa in Bezug auf den Wandel beruflicher Leitbilder oder innerbetriebliche Hierarchie- und Herrschaftsverhältnisse. Die Erläuterungen Przigodas und Farrenkopfs bestätigten, dass die Verwendbarkeit von Industriefilmen als Quelle der Unternehmensgeschichtsschreibung ähnlich wie beim Medium Fotografie von der betrieblichen Dokumentation ihrer Erstellung, Finanzierung, ihres Verwendungszwecks und ihrer Vorführung abhängen.

Dem Problem der Unternehmenshistoriographie als Dienstleistung wandte sich Michael Schäfer (Dresden) zu. Er resümierte sowohl die fachwissenschaftlichen Vorbehalte gegenüber der Auftragsgeschichtsschreibung, als auch die Skepsis vieler Unternehmen gegenüber der historischen Zunft. Wenngleich Schäfer die Entwicklung eines Marktes für historiographische Dienstleistungen durch Geschichtsbüros und freie Historiker als Fortschritt beurteilte, der schönfärberischen Firmenhagiographien entgegenwirke, bleibe die Frage der Lösung des strukturellen Dilemmas des "history marketing" - zwischen den Wünschen der Auftraggeber und wissenschaftlichen Standards - letztlich ungelöst.

Ein ambitioniertes Dissertationsprojekt, das die Herausforderung einer vergleichender Branchengeschichte mit regionalem Zugriff annimmt, stellte Ralf Richter (Göttingen) vor. Seine Untersuchung zur "Werkzeugmaschinenindustrie in Chemnitz und Cincinnati, 1870-1945" nimmt sich damit einer von kleinen und mittleren Betriebsgrößen geprägten Branche an, deren Rolle durch eine auf Grossunternehmen konzentrierte Unternehmensgeschichtsschreibung erst unzulänglich aufgearbeitet wurde. Richter legte ausgehend von der Netzwerktheorie Mark Cassons überzeugend dar, dass die Merkmale einerseits regional, andererseits großstädtisch geprägter "Business Networks" einen guten Ausgangspunkt für den Vergleich des Kooperationsgrads innerhalb der ausgewählten europäischen und amerikanischen Maschinenbauregionen zulassen.

Der Themenschwerpunkt "Unternehmenskultur und Unternehmenskommunikation" in der dritten Sektion wurde durch den Beitrag Volker Ackermanns (Düsseldorf) zu "Wirtschaftsclubs in Deutschland als zentrale Orte der städtischen Elite" auf eine Institution gelenkt, deren Randständigkeit in der bisherigen Unternehmensgeschichtsschreibung bedauerlich, aufgrund der Quellensituation allerdings erklärlich ist. Ackermanns Ziel, diese als Plattform von Kommunikation, Geselligkeit und Informationsaustausch zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft vorzustellen, blieb angesichts des breiten Spektrums von Vereinen aus unterschiedlichen Gründungsperioden und mit unterschiedlichen Gründungsimpulsen jedoch überwiegend Programm. Gerade um anhand der Wirtschaftsclubs in der angestrebten Längsschnittperspektive auf einen "Formwandel des (Wirtschafts-) Bürgertums" schliessen zu können, müsste deren Auftreten, Zusammensetzung, Programmatik etc. konsequent im jeweiligen städtischen Raum kontextualisiert werden, so ein Tenor der Diskussion.

Ein ganze Reihe von Fragen zur Bedeutung der "Unternehmenskultur" griff Armin Müller (Konstanz) auf. Sein Beitrag zu "Unternehmernachfolge und Institutionenordnung am Beispiel von Carl Zeiss Jena" stellte das Problem der personalen Nachfolge zum einen als Problem der Weitergabe kulturellen Alltagswissens und ebensolcher Praktiken dar, sowie als kommunikative Herausforderung an Vorgänger und Nachfolger, einen Wechsel in der Unternehmensführung intern und extern zu vermitteln. Anhand von zwei Nachfolgekrisen des Unternehmens Carl Zeiss, 1888 beim Tod des Gründers sowie im Zuge der Verstaatlichung nach 1945, analysierte er die jeweiligen Versuche, diese potentiellen Bruchstellen durch neue institutionelle Arrangements zu überwinden.

Mit "Interkultureller Kompetenz" als Faktor unternehmerischen Erfolgs befasste sich René Del Fabbro (Schwabhausen). In Anlehnung an theoretische Vorgaben aus Soziologie, Psychologie, Anthropologie und Linguistik fragte er nach dem Charakter verfügbaren Wissen über (fremd-)kulturelle Standards ausländischer Geschäftspartner, nach dem Umgang mit neu erworbenem "interkulturellen" Wissen etwa im Zuge der Auslandsentsendung von Mitarbeitern sowie nach der Operationalisierung dieses Wissens im Zuge von Fusions- und anderen Geschäftsverhandlungen. Ob zur Beantwortung dieser Fragen tatsächlich eine historische Xenologie (Fremdheitsforschung) für die Unternehmensgeschichte hilfreich sein kann, wurde in der Diskussion jedoch eher bezweifelt.

Eine konkrete Untersuchung unternehmenskommunikatorischer Prozesse stellte Eva
Pietsch (Chemnitz) am Beispiel des Führungsstreit in der Chemnitzer Auto Union AG 1931-1935 vor. Gemäß der Differenzierung von Funktionsbereichen unternehmerischer Markt- , Öffentlichkeits- und interner Kommunikation nach C. Wischermann liess sich diese Auseinandersetzung als Abfolge interessengeleiteter, strategischer Handlungsoptionen der beteiligten Kontrahenten nachvollziehen. Entgegen bisheriger personalistischer Erklärungsversuche erlaubte der gewählte Zugang, den Verlauf und die Dynamik dieses Konflikts als Prozess eines komplexen unternehmerischen Kommunikationsmanagements zu analysieren, das zugleich erhebliche Bedeutung für die Unternehmenskultur des Automobilkonzerns in den dreißiger Jahren gewann.

Fragen der Unternehmenskultur wurden zum Teil erneut in der vierten und letzten Sektion "Unternehmerfamilien und Familienunternehmen" aufgegriffen, so etwa von Michael Rudloff (Leipzig), dessen Vortrag die betriebliche Sozialpolitik des Papierfabrikanten Niethammer charakterisierte, für die zweckrationale Überlegungen auf der einen, das christlich-soziale Selbstverständnis des Firmen- und Familienpatriarchen auf der anderen Seite prägend waren.
Der Frage nach den Entwicklungspfaden mittelgrosser Familienunternehmen ging Hervé Joly (Lyon) anhand eines Samples von 60 Lyoner Industrieunternehmen nach.
Seine Analyse der Erbschafts-, Heirats- und betrieblichen Strategien dieser Unternehmerfamilien im Zeitraum von 1920 bis 1954 belegte, dass angefangen bei der Unternehmensgründung, der -nachfolge, den Erbenregelungen bis hin zum Grad des Erhalts familiärer Kontrolle erhebliche Varianzen auftraten, die den gängigen Annahmen linearer Entwicklungsmodelle nach Bearle/Means widersprechen. An die von Joly vorgestellten Beispiele schlossen sich Fragen nach einer eventuell besonderen "Familienidologie" in Lyon sowie nach einer Ausweitung dieser Studie auf weitere Branchen an.

Eine interessante Studie zur Entwicklung der
Unternehmensorganisation in Deutschland und Frankreich stellte Heinrich Hartmann (Berlin/Paris) vor, die er anhand von Warenhausunternehmen als "moderne Form von
Familienunternehmen" im Zeitraum 1890 bis 1914 untersuchte. Seine Charakterisierung des internen Organisationsaufbaus und der hierarchischen Gliederung widerlegte zwar die These der "relativen Unorganisiertheit" dieser von Unternehmern jüdischer Herkunft dominierten Branche. Seine These, die Besetzung wichtiger Funktionsstellen mit Familienmitgliedern stelle einen deutschen Sonderfall dar, konnte dagegen nicht uneingeschränkt überzeugen.

Überaus aufschlussreich war schließlich auch der Vortrag Christoph Koppers (Pittsburgh/Bielefeld) über "Selbstbehauptung im sozialen Ghetto. Jüdische Wirtschaftsbürger im nationalsozialistischen Deutschland" der eine systematische Analyse der Ungleichzeitigkeiten des Arisierungsprozesses darlegte, dessen Dynamik sich etwa je nach branchenbedingten Gegebenheiten und regionalspezifischen Interessenlagen unterschied.

Das Kolloquium bot Einblick in eine Fülle anregender Fallstudien und neuerer Forschungen, deren Ergebnisse nicht immer uneingeschränkt befriedigende Lösungen für die Verbindung der eingangs diskutierten Theorieangebote mit der konkreten unternehmenshistorischen Analyse boten. Dass deren übergeordnete Fragehorizonte jedoch ein unverzichtbares Element zur Einordnung und Vergleichbarkeit der Ergebnisse darstellen, darüber bestand weitestgehender Konsens.

Zum Gelingen der Tagung, dies sei abschliessend erwähnt, trug nicht zuletzt das im Frühjahr neu eingeweihte Industriemuseum Chemnitz bei, dessen Mitarbeiter sowohl in die Geschichte des musealen Fabrikstandorts einführten (Achim Dresler, Chemnitz), als auch eine konkrete Anschauung der dortigen Präsentation und Vermittlung sächsischer Unternehmensgeschichte in einer abendlichen Führung (Wolfgang Uhlmann, Chemnitz) boten.

Die Abstracts der Einzelbeiträge des Kollquiums sind über das Sächsische Wirtschaftsarchiv e.V. Leipzig beziehbar (swa.leipzig@t-online.de). Ein Tagungsband wird in Kürze als Publikation vorliegen.

Kontakt

Prof. Dr. Rudolf Boch
Professur f. Wirtschafts- u. Sozialgeschichte
Philosophische Fakultät
TU Chemnitz
Reichenhainer Str. 39
09017 Chemnitz
rudolf.boch@phil.tu-chemnitz.de


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