Religion und Politik in protestantischen Predigten des 16. und 17. Jahrhunderts im thüringisch-sächsischen Raum

Religion und Politik in protestantischen Predigten des 16. und 17. Jahrhunderts im thüringisch-sächsischen Raum

Organisatoren
DFG-Kooperationsprojekt der Forschungsbibliothek Gotha und der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.03.2010 - 03.03.2010
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Von
Philip Hahn, Universität Frankfurt am Main

Am 2. und 3. Oktober fand an der Goethe-Universität Frankfurt am Main das Arbeitsgespräch des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts „Religion und Politik in protestantischen Predigten des 16. und 17. Jahrhunderts im thüringischen Raum. Tiefenstrukturanalyse und Erschließung von gedruckten und handschriftlichen politischen Predigten der Forschungsbibliothek Gotha“ statt. Dieses Projekt ist eine Kooperation zwischen der Forschungsbibliothek Gotha und der Goethe-Universität Frankfurt. Ziel des zur Projektverlaufsmitte anberaumten Arbeitsgesprächs war der Austausch mit thematisch und methodisch benachbarten Projekten. Zusätzlich waren Gastwissenschaftler eingeladen, deren Vorträge und kritische Stellungnahmen Anregungen zur Ausrichtung des im Rahmen des Projekts erarbeiteten Online-Thesaurus der politischen Sprache auf die Bedürfnisse potenzieller Benutzer geben sollten.

Nach einer Begrüßung und Einführung durch die Frankfurter Projektleiterin des Kooperationsprojekts, LUISE SCHORN-SCHÜTTE, begann das Arbeitsgespräch mit Berichten der Mitarbeiter des Projekts, eröffnet durch einen Vortrag der Gothaer Projektleiterin KATHRIN PAASCH. Sie unterstrich die herausragende Bedeutung der Sammlung von Predigtdrucken der Forschungsbibliothek Gotha, die aufgrund ihrer Dichte für den sächsisch-thüringischen Raum Referenzcharakter beanspruchen kann. Sie eigne sich daher besonders für die Auswahl eines Textkorpus zur Erstellung eines Thesaurus der politisch-theologischen Sprache der in dieser Region gehaltenen Predigten. Anschließend berichteten die Frankfurter und Gothaer Mitarbeiter aus der laufenden Arbeit des Projekts. PHILIP HAHN (Frankfurt am Main) referierte zunächst über die Vorgehensweise und Ergebnisse der Korpusbildung seiner, zum Termin des Arbeitsgesprächs verhinderten, Vorgängerin ANJA KÜRBIS (Gotha). Grundlage der Korpusbildung war die Autopsie von über 1.700 Predigten, aus denen 188, darunter drei Handschriften, ausgewählt wurden. Dann erläuterte er den, der Auswahl des erfassten Vokabulars zugrundeliegenden, weit gefassten Begriff der „politischen Sprache“, der neben politischen Schlüsselbegriffen auch Wörter aus dem administrativen Bereich, der lutherischen Soziallehre und der christlichen Ethik einschließt sowie die Struktur des Thesaurus, die anhand von den einzelnen Schlagworten untergeordneten Hierarchiebäumen deren jeweilige semantische Vernetzung visualisieren soll. Nach einer kurzen Präsentation der neuen Webseite des Projekts durch MARTIN STELTE (Frankfurt am Main) führte WOLFGANG RUNSCHKE (Gotha) die möglichen Benutzungsweisen des Online-Thesaurus anhand einer Simulation vor. Zentrales Merkmal des Thesaurus sei, dass von jedem Schlagwort und den darunter vernetzten Begriffen ein direkter Zugriff per Link auf die digitalisierte Seite der Fundstelle möglich sein wird. Die von Hahn vorgeschlagene Unterteilung des Korpus nach Predigtgattungen und Kommunikationssituationen wurde von den Teilnehmern der anschließenden Diskussion lebhaft kritisiert.

In ihrer Einführung in die Arbeitsberichte des durch das Niedersächsische Vorab geförderten Projekts „Obrigkeitskritik und Fürstenberatung: Die Oberhofprediger in Braunschweig-Wolfenbüttel 1570-1714“ erläuterte ULRIKE GLEIXNER (Wolfenbüttel) dessen Konzeption. Es umfasst neben der Erstellung dreier Monografien, von denen eine an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel (HAB), die beiden anderen an der Universität Osnabrück angesiedelt sind, die Volltextdigitalisierung ausgewählter Quelltexte, einen Sommerkurs und eine internationale Tagung an der HAB sowie E-Learning-Module an der Universität Osnabrück. Als zentrale Fragestellungen formulierte Gleixner unter anderem das Verhältnis der Hofprediger zum Ausbau fürstlicher Herrschaft, das Verhältnis zur juristischen Funktionselite, ihre Einbettung in Patronagen und Allianzen und den Einfluss politischer Theorien. Als erster stellte dann MATTHIAS MEINHARDT (Wolfenbüttel) sein Teilprojekt über das Wirken Basilius Sattlers in Wolfenbüttel (1569-1624) vor. Es stellt eine mikrohistorische Untersuchung der Handlungsspielräume und -limitierungen des politischen Handelns der Hofgeistlichen auf der Basis von Predigten, Traktaten, Korrespondenz, akademischer Lehre und den Akten der praktischen Amtsführung Sattlers dar. Danach folgte CHRISTIAN DEUPERs (Osnabrück) Präsentation seines Projekts über die Amtszeit Joachim Lütkemanns als Hofprediger, in dem er sich auf das Verhältnis zwischen praktischer Seelsorge, Erbauungsschrifttum und Hofpredigt bei Lütkemann konzentriert.

ALEXANDRA FAUST (Osnabrück) hat mit ihrem Projekt über das Agieren der Hofprediger im Umfeld der Konversion Herzog Anton Ulrichs zum Katholizismus (1707-1714) einen in dieser Fragestellung bisher eher unberücksichtigen Zeitabschnitt ins Auge gefasst. Sie untersucht die Rolle der Hofprediger bei der Ausprägung des Hoflebens, den Einfluss ihrer Predigten und das Verhältnis der Prediger zu den Damen des Hofes. In der anschließenden Diskussion wurde die Problematik angesprochen, die Seelsorgetätigkeit der Hofprediger angesichts unzureichender Quellen zu berücksichtigen; desweiteren wurde hervorgehoben, dass eine Analyse der Netzwerke und Parteien im Umfeld eines Hofpredigers ein vertieftes Verständnis der Wahl der Worte und Inhalte in deren Predigten erlaube.

Der dritte Abschnitt des ersten Tages beinhaltete die Vorstellung zweier Teilprojekte des Frankfurter Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. THERESE SCHWAGER (Frankfurt am Main) berichtete aus ihrer Auswertung der Ständedebatten und Verhörprotokolle in Hessen-Kassel im Umfeld der Einführung der Verbesserungspunkte durch Landgraf Moritz (1605). Als zentralen, von allen Ständen und allen Konfliktgruppen verwendeten, und politisch-theologische umstrittenen Begriff hat sie das „Gewissen“ herausgearbeitet: Verweise auf die Qualität des Gewissens durchziehen die Debatten, und im Zusammenhang mit anderen Begriffen, wie „Wort Gottes“, „Consensus“ oder „Ordnung Christi“, ergeben sich differierende Normenensembles. MACIEJ PTASZYNSKI (Warschau) hingegen konzentrierte sich auf die Begriffe „Republik“, „Freiheit“ und „Tyrann“, die er als Schlüsselbegriffe in polnisch-litauischen Reichs- und Landtagsakten, der Reichstagspublizistik und den Reichstagsreden ausgemacht hat. Er skizzierte den Wandel der Verwendung dieser Begriffe im Verlauf der Rezeption des Privilegs von Mielnik (1501) und ihre Verwendung in konkreten politischen Konflikten. Desweiteren ging er der Frage nach, inwiefern in den Rechtfertigungen des Widerstandsrechts in Polen-Litauen der Einfluss protestantischer Traditionen auszumachen ist.

Die Diskussion eröffnete VOLKER SERESSE (Kiel) mit einer Erörterung der Frage, was einen „Schlüsselbegriff“ ausmache. Abgesehen von der rein quantitativen Häufigkeit betonte er als Kriterien das Beinhalten wesentlicher Normen, den Appell an Vorstellungen und Überzeugungsressourcen und ihre zentrale Platzierung in Debatten. Ihre Untersuchung ermögliche das Erschließen politischer Kultur und ihres Wandels, jedoch sei es wichtig, nicht nur einzelne Begriffe, sondern Ensembles von Begriffen zusammen zu betrachten.

Der zweite Tag des Arbeitsgesprächs war den Vorträgen zweier eingeladener Wissenschaftler vorbehalten, an die sich eine durch BERNHARD JUSSEN (Frankfurt am Main) eröffnete Abschlussdiskussion anschloss. Zuerst trug VOLKER LEPPIN (Jena) seine Überlegungen zur politischen Sprache lutherischer Predigten aus theologischer Sicht vor. Er betonte, dass eine Unterscheidung zwischen Politik und Religion in der Frühen Neuzeit alles andere als selbstverständlich war und wies darauf hin, dass beides auch in Fürstenspiegeln bereits seit Thomas von Aquin miteinander vermengt auftrat. Besonderes Augenmerk legte er dann auf den biblischen Resonanzhorizont der Predigten, was er am Beispiel der Leichenpredigt Friedrich Balduins auf den sächsischen Kurfürsten Christian II. (1611), die auch im Rahmen des DFG-Projekts für den Thesaurus ausgewertet und digitalisiert wird, veranschaulichte. Anhand einer weiteren Predigt aus dem Korpus des Projekts zeigte er außerdem auf, wie die Zweireichelehre Luthers zugunsten der Paränese gegenüber einem Individuum aufgegeben wurde, wodurch sich eine Nähe der Predigt zum Fürstenspiegel ergab. Bei der Diskussion seines Vortrags hob Leppin die unterschiedliche Erzähltiefe der biblischen Exempel in den Predigten hervor. Die wurde am Vergleich der nur kurz angedeuteten Trauer Davids um Saul und der ausführlich berichteten, weil weniger geläufigen Trauer um Josia deutlich und lasse einen strukturierten biblischen Horizont erkennen lasse. JOACHIM KNAPE (Tübingen) referierte anschließend über die „Schemata rhetorica“ Kaspar Goldtwurms, deren von der DFG geförderte kommentierte Edition er betreut, als wichtige theoretische Grundlage der rhetorisierten Predigt der Frühen Neuzeit. Goldtwurm habe mit dieser deutschen Rhetorik eine praxisorientierte Ergänzung zur universitären Ausbildung leisten wollen, indem er konkrete Beispiele zum Einsatz biblischer Zitate in einer auf Deutsch gehaltenen Predigt bot.

Zu Beginn der Schlussdiskussion demonstrierte BERNHARD JUSSEN (Frankfurt am Main) die im Leibniz-Projekt „Politische Sprache im Mittelalter: Semantische Zugänge“ angewandte Methode der computergestützten Korpuslinguistik und führte anhand einiger Beispielbegriffe die Recherchemöglichkeiten des Systems HSCM (Historical Semantics Corpus Management) vor. Das Anliegen der Untersuchung begrifflicher Kookkurrenzen in großen Textkorpora sei es nicht, so betonte Jussen, herkömmliche hermeneutische Verfahren zu ersetzen, sondern sie zu ergänzen. Seine Arbeitsgruppe konzentriert sich auf klassische Termini wie „regnum“, „imperium“ oder „respublica“ und erforscht, ab wann sich um sie herum ein institutionalisierter Diskurs entwickelte und wie er sich veränderte. In der Diskussion wurde unter anderem eingewandt, wie sich der Kontext eines Begriffs sinnvoll definieren lasse, und wie aussagekräftig die Quantität einer Kookkurrenz sei. Trotz der grundsätzlichen Verschiedenheit der Vorgehensweisen dieser Arbeitsgruppe und derjenigen des DFG-Projekts „Religion und Politik in protestantischen Predigten“ stellte sich der Austausch als anregend und fruchtbar dar.

Konferenzübersicht:

Luise Schorn-Schütte (Frankfurt am Main): Eröffnung und Begrüßung

Arbeitsberichte der Mitarbeiter im Projekt I: Von der Sammlung einer Bibliothek zur Auswahl eines Korpus für die Erstellung eines Thesaurus der politisch-theologischen Sprache

Kathrin Paasch (Gotha): Entstehung und Bedeutung der Sammlung von Predigtdrucken der Forschungsbibliothek Gotha

Philip Hahn (Frankfurt am Main): Erstellung des Textkorpus und mögliche Gliederung nach Predigtgattungen

Arbeitsberichte der Mitarbeiter im Projekt II: Vorstellung der Online-Präsentation und der Funktionsweise des Thesaurus

Philip Hahn (Frankfurt am Main): Methodische Vorüberlegungen zu Vokabular und Struktur des Thesaurus

Martin Stelte (Frankfurt am Main): Vorführung der Webseite des Projekts

Wolfgang Runschke (Gotha): Simulation der Thesaurusfunktionen

Philip Hahn (Frankfurt am Main): Probleme und Chancen eines Online-Thesaurus der politisch-theologischen Sprache

Diskussion

Arbeitsberichte des Kooperationsprojekts „Obrigkeitskritik und Fürstenberatung: Die Oberhofprediger in Braunschweig-Wolfenbüttel 1570-1714“ der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel und des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück

Ulrike Gleixner (Wolfenbüttel): Einführung in die Konzeption des Projekts

Matthias Meinhardt (Wolfenbüttel): Ein Oberhofprediger im Konflikt: Basilius Sattler zwischen konfessioneller Landeskirche, Landesuniversität und Ausbau der Landesherrschaft (1569-1624)

Christian Deuper (Osnabrück): Lutherischer Oberhofprediger und irenische Landeskirche: Die politische und geistliche Rolle Joachim Lütkemanns (1649-1655)

Alexandra Faust (Osnabrück): Fürstenkonversion und lutherische Oberhofprediger: Eine Fallstudie zur Regierungszeit Anton Ulrichs (1707-1714)

Diskussion

Arbeitsberichte des Forschungsprojektes „Normdebatten in Ständeversammlungen des 17. Jahrhunderts“ des Exzellenzclusters 243 „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main

Therese Schwager (Frankfurt am Main): Das Gewissen als politisch-theologisch umstrittener Begriff im 16. / 17. Jahrhundert: Der Konflikt um die Einführung der Verbesserungspunkte Landgraf Moritz’ von Hessen-Kassel

Maciej Ptaszynski (Warschau): Zwischen Gemeinwohl und Staatsraison: Widerstandsrecht in Ständedebatten in Polen-Litauen im 16. und 17. Jahrhundert

Diskussion, eröffnet mit einem Statement von Prof. Volker Seresse (Kiel)

Volker Leppin (Jena): Politische Predigten – theologisch betrachtet. Semantische und
theologische Fragestellungen

Joachim Knape (Tübingen): Deutscher Cicero im reformierten Gewand: Kaspar Goldtwurms Predigtlehre

Abschlussdiskussion unter Einleitung durch die Arbeitsgruppe von
Bernhard Jussen (Frankfurt am Main): Überlegungen zur Historischen Semantik an mittelalterlichen Texten


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