Russlands innere Kolonisation

Russlands innere Kolonisation

Organisatoren
Alexandr Etkind, Department of Slavonic Studies, University of Cambridge; Dirk Uffelmann, Lehrstuhl für Slavische Literaturen und Kulturen, Universität Passau
Ort
Passau
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.03.2010 - 25.03.2010
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Von
Stefan Rohdewald, Lehrstuhl fuer Neuere und Neueste Geschichte Osteuropas und seiner Kulturen, Universität Passau

Die These von der inneren Kolonisation Russlands im Sinne Aleksandr Etkinds (Cambridge) ergibt sich aus der Anwendung von Saids Analyse des Orientalismus in Verbindung mit Ansätzen der Kolonialgeschichte bzw. der Post-Colonial Studies auf Russland. Etkind nimmt dabei an, dass Kolonisierungsvorgänge im Russländischen Reich nicht nur nach außen, sondern auch nach innen gerichtet waren. Auch in dieser Anwendung auf das Innere gerade des Russländischen Reiches, so Etkind, sei der Kern der These vom Orientalismus produktiv, nämlich die Analyse von Praktiken, kulturelle Distanz herzustellen und zu manipulieren. Die Bevölkerung des Kerns des Reiches wurde ihm gemäß von der verwestlichten Elite als kulturell different konstruiert und stellte das eigentliche Ziel der „mission civilisatrice“ dar. Die Slavophilen und das narodničestvo bzw. der „Gang ins Volk“ erscheinen aus dieser Sicht als Beginn eines Prozesses der inneren Dekolonisation. Verwandte Praktiken des Kolonialismus und der kulturellen Distanzierung seien in der Sowjetunion erneut aufgetreten.1 An der von Dirk Uffelmann (Passau) und Aleksandr Etkind organisierten Tagung wurde diese These von den Teilnehmern, die hauptsächlich aus den USA und Russland angereist waren, überaus facettenreich diskutiert. Neben der sehr deutlichen Minderzahl der Vortragenden aus dem deutschsprachigen Raum war auch der Einsatz des Russischen als einziger Konferenzsprache für hiesige Tagungen ungewohnt.

DIRK UFFELMANN differenzierte in seinem Eröffnungsvortrag die mit dem Konzept der inneren Kolonisierung zusammenhängende Begriffsbildung und schlug ein Schema vor, dem gemäß äußere Orientalisierung zur Selbstorientalisierung oder zur Selbstkolonisierung führe. Diese ergäbe sodann einen Vorgang der inneren Orientalisierung und im Resultat innere Kolonisierung im Sinne einer zweiten Kolonisierung nach der am Anfang stehenden äußeren Orientalisierung. Mit der Rede von der Kolon_ial_isierung (Habermas) erfolge eine reflexive Distanznahme, die diskursive und performative Akte hervortreten lasse. ALEKSANDR ETKIND unterschied nach einer Einführung in den Ansatz der inneren Kolonisierung anhand zahlreicher literarischer Beispiele „Hybride“ als Ergebnisse von Vorgängen der äußeren Kolonisation von „Doppelgängern“, die charakteristische Resultate der inneren Kolonisation seien. STEFAN ROHDEWALD (Passau) schlug für diskursive bzw. soziale Situationen im Rahmen der Inszenierung zarischer Macht (Wortman) die Rede von imaginierter äußerer Kolonialisierung des Inneren vor. Andere oder spätere Vorgänge – etwa in „(Süd-)Westrussland“, den früher polnisch-litauischen Gebieten – seien als imaginierte innere Kolonialisierung des Äußeren zu deuten. Insgesamt sei aber von binären Dichotomien abzusehen, da sich mehrere Konzepte von Staatlichkeit sowie Selbstherrschaft und zahlreiche Gruppen mit eigenen Interessen im Wettstreit befanden. WILLARD SUNDERLAND (Cincinnati) stellte die Erinnerungskultur um den „Eroberer Sibiriens“ Ermak als „russländischen Cortes“ ganz in einen interimperialen Zusammenhang und warnte vor der Annahme eines russischen Sonderfalls.

KEVIN PLATT (Philadelphia) stellte Initiativen für Denkmäler in Riga in einen Kontext der doppelten Kolonisierung und Provinzialisierung Rigas durch russische und europäische Diskurse. MAXIM WALDSTEIN (Helsinki) wies in seiner Analyse postkolonialer Forschungen zu Osteuropa auf die Auflösung binärer Positionen und die Destabilisierung der Deutung der Hybridität hin. Zudem hinterfragte er die These von einem russischen Spezialfall der inneren Kolonisierung mit dem Verweis auf innere Vorgänge etwa in Frankreich (Eugen Weber) sowie auf die Vorstellung mehrerer Machtzentren (Foucault). IL’JA KUKULIN (St. Petersburg) setzte Modernisierung und Repression der kleinen Völker in der Sowjetunion als halbkoloniale Politik gleich und stellte klassische postkoloniale Phänomene für die finnougrischen Minderheiten im Rahmen Russlands als Kolonialmacht fest. Neben innerer Akkulturation erkannte er dabei Diskurse innerer Postkolonisierung. KYOHEI NORIMATSU (Oxford) zeigte, wie die Grenze Russlands sowie die Identitäten der Akteure im literarischen Text über den Nordkaukasus abhängig von der diskursiven Situation überaus beweglich erscheinen können. Innere und äußere Kolonisierung stehen mit ihm in einem wesentlichen Zusammenhang. Überdies verglich er Vorgänge des Kolonialismus in Russland mit solchen in Japan. Auch MIRJA LECKE (Bochum) führte anhand literarischer Texte über die Ukraine bzw. Belarus’ aus russischer Perspektive eindrücklich aus, wie soziale und räumliche Fremdheit diskursiv in kolonialen Situationen hergestellt wurde. SUSI FRANK (HU Berlin) beschrieb Kolonisierung als nationale und räumliche Praxis mit stabilisierender Wirkung. Durch den Diskurs über die mit ihr verbundene Instabilität und Mobilität konnten auch und gerade diese beiden Phänomene dennoch zu Stützen der transnationalen, imperialen Herrschaft gemacht werden. JANE BURBANK (New York) zeigte mit der Analyse von Praktiken des Schlichtens vor lokalen Gerichten des Imperiums am Beispiel von Quellen aus der Umgebung von Kazan’, wie sich ethnisch und religiös gemischte Gruppen von Bauern staatliche bzw. imperiale Diskurse aneigneten und zu ihren eigenen Gunsten mit ihnen argumentierten – ein Befund, der nur schwer mit einer Deutung des Reichs mit dem Theorem der inneren Kolonisierung vereinbar bleibt. SHARYL CORRADO (Malibu) unterschied eine Siedlungskolonisation als erste Phase der Kolonisierung Sachalins von einer zweiten Phase als Zwangskolonie. Land und Volk seien dabei sowohl Subjekte als auch Objekte der Kolonisation, gleichzeitig „Fremde“ und „Unsrige“. Auch sie problematisierte damit die dem Konzept der inneren Kolonisierung innewohnende Binarität. TAT’JANA ARTEM’EVA (Moskau) skizzierte die Inszenierung staatlicher Identität im 18. Jahrhundert. Ihr gemäß war die koloniale Eroberung nur die eine Seite der Medaille der ökonomischen und kulturellen Expansion, während die inneren Umgestaltungen und Anpassungen der Entwürfe von imperialer Identität die gleichzeitig hervortretende andere Seite gewesen sei. MARIJA MAJOFIS (Moskau) lenkte die Aufmerksamkeit auf Spannungen zwischen der russländischen wissenschaftlichen Orientalistik sowie der offiziellen Lehre von der russischen Nationalität (narodnost’). Sie unterstrich dabei, dass sich die indoeuropäische These nicht mit einer Orientalisierung im Sinne Saids beschreiben lasse. Dies zeige sich insbesondere bei ihrer frühen Rezeption im Russländischen Reich. HEINRICH KIRSCHBAUM (Passau) beleuchtete das (ukrainische) Kosakenthema im Werk Puškins und stellte dessen „doppelte Orientalisierung“ fest: Der volkstümliche Diskurs überlagere sich vieldeutig sowohl mit dem Motiv des inneren Aufstandes als auch des Befreiungskrieges und der äußeren Kolonisation. MYKOLA RJABČUK (Kiew) sprach sich für einen postkolonialen Zugang zum Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine aus. Er verglich die Beziehung mit derjenigen zwischen Robinson und Freitag oder mit dem Bild des armen Verwandten Russlands. Der Blick von zu Beginn des 19. Jahrhunderts sei dabei im breiten postkolonialen Diskurs in Russland immer noch aktuell und verstelle die Sicht auf die Gegenwart. Zudem haben sich aber auch ukrainische Diskurse nicht aus dem historischen Verhältnis zu Russland zu lösen vermocht. VALERIA SOBOL (Urbana) arbeitete anhand des „Unheimlichen“ in der ethnographischen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts heraus, dass nur selten ein exotisches ethnisches „Anderes“ konstruiert wurde. Häufiger seien russische Akteure am Rande des Imperiums als Träger von Fremdheit und Bedrohung beschrieben worden.

MARINA MOGIL’NER (Kazan’) sprach über „Jüdische Subalternität und die Wissenschaft von den Rassen im Russländischen Reich“. Jüdische Anthropologen benutzten das koloniale Konstrukt der „jüdischen Physiognomie“ als Instrument der Normalisierung der Selbstrepräsentation als Rasse und Nation. Die Übernahme der Vorstellung durch nichtjüdische Anthropologen zeuge von der Widersprüchlichkeit des liberalen Projektes der imperialen Gesellschaft von rassisch Verwandten, das einen negativen Sammelpunkt brauchte. IRINA SHEVELENKO (Madison) untersuchte die Repräsentation des Russischen Reiches bei der Weltausstellung von 1900 in Paris. Kolonisierte Territorien und kolonisierte Kultur wurden im Einklang mit dem Ansatz der inneren Kolonisierung wie der postkolonialen Theorie als Schlüsselelemente der ausgestellten Identität der Metropole eingesetzt. IGOR’ SMIRNOV (Konstanz/St. Petersburg) stellte „Stalking als nationale Identität“ und als Herrschaftspraxis dar, die sich von der Rus’ bis ins Russland der Gegenwart in immer neuen Umgestaltungen gezeigt habe: Etwa das Handeln der opričnina Ivans IV. sei Stalking im Sinne unregulären und willkürlichen Psychoterrors, der einerseits eine Form von Autokolonisierung darstelle, andererseits aber auch deren Überwindung.

MARK LIPOVETSKY (Boulder) skizzierte anhand der Darstellung des Intelligenzlers in der sowjetischen Literatur mehrere Möglichkeiten der Selbstidentifikation der intelligencija im Rahmen innerer Kolonisierung als einen Vorgang der Modernisierung. ELLEN RUTTEN (Bergen) sprach über die „Sexualisierung der inneren Kolonisierung“: Die „unerreichbare Braut“ Russland sei als orientalisierte, feminisierte Vorstellung das Objekt des Begehrens sowohl der Intelligenz wie der Staatsmacht. In der postsowjetischen Literatur habe eine Erotisierung der Darstellung der Dreiecksbeziehungen stattgefunden. YULIA GRADSKOVA (Stockholm) analysierte sowjetische kulturelle Praktiken im Umgang mit Frauen von „rückständigen“ Völkern. Die „Befreiung der Frau“ sei ein Vorgang der inneren Kolonisierung gewesen, in dem die Akteure mit der Ausbreitung und partiellen Aneignung der Diskurse die Vorherrschaft des Zentrums reproduzierten. NARIMAN SKAKOV (Stanford) argumentierte, die sowjetische Politik der korenizacija (Verwurzelung) sei als innere Kolonisierung zu deuten. Am Beispiel der Analyse einer Erzählung von Andrej Platonov zeigte er räumliche Vorstellungen über Turkmenistan im sowjetischen Rahmen auf. Indem sich der Held in zahlreichen Metamorphosen durch diese Räume bewegte, sei er vor einen übergreifenden, neuen Horizont gestellt worden. IL’JA KALININ (St. Petersburg/Moskau) zeigte an literarischen Texten der 1920er- und 1930er-Jahre, was er als innere Dekolonisierung bezeichnete. Schreiben als erzwungene soziale Praxis der Subalternen (hier: Proletarier) konnte ihm gemäß zur Rekolonialisierung führen. LYUDMILA PARTS (Montreal) untersuchte die Umwandlung des kulturellen Mythos der Provinz im postsowjetischen Umfeld. Es sei die Notwendigkeit spürbar, die Peripherie zum dynamischen Zentrum zu machen, um eine Umformulierung russischer Kultur außerhalb der Provinzialisierung als Europäisierung zu ermöglichen. NANCY CONDEE (Pittsburgh) stellte ihrem Vortrag zum postsowjetischen russländischen Kino voran, dass die Eroberung Novgorods nicht als innere Kolonisierung gelten könne, da keine freiwillige erinnerungskulturelle Amnesie vorgelegen habe. Für das heutige Russland sei der tschetschenische Terrorismus die Kehrseite des russischen Kolonialismus. Innere Kolonisierung erscheine als ein zweitrangiges Phänomen, das erst nach der Schaffung des Reiches und im Nichtwissen um die Entstehung des Reiches wirkungsmächtig sein könnte. Michalkovs Filme erscheinen ihr als Herrschaftspraxis durch die Verleugnung von Herrschaft.

Die Voten der lebhaften Schlussdiskussion bezeugten erneut die Produktivität der Vorstellung der inneren Kolonisation. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wiesen aber auch auf die Problematik der Unterscheidung von innen und außen hin und warnten vor einer allzu systematischen Weiterentwicklung des Ansatzes. Andererseits sei eine Einschränkung der These nötig, um ihre Aussagekraft zu schärfen und zu verhindern, dass sie auf beliebige Themen angewendet werde. Hervorgehoben wurde die Analyse der Manipulation kultureller Differenz im imperialen Rahmen als Kernkompetenz des Zugangs. Der von den Organisatoren angedachte Vergleich des russischen Falls mit anderen Imperien an einer Folgekonferenz in Cambridge verspricht gleichfalls höchst interessant zu werden.

Konferenzübersicht:

Panel 1

Dirk Uffelmann
Podvodnye kamni (terminologii) vnutrennej kolonizacii

Alexandr Etkind
Činovniki i dvojniki: Vnutrennjaja kolonizacija v istorii i literature XIX v.

Panel 2

Willard Sunderland
Zagadki Ermaka: istorija russkoj kolonizacii v global’noj perspektive

Stefan Rohdewald
Ot vnutrennej kolonizacii k dekolonizacii: inscenirovki carskoj vlasti s postkolonial’noj perspektivy

Panel 3

Kevin Platt
Postkolonial’nost’ i prinadležnost’ k civilizacii v Rossii

Maxim Waldstein
Postkolonial’nye issledovanija i «novyj ėssencializm» v Rossii i Vostočnoj Evrope

Ilya Kukulin
Vnutrennjaja postkolonizacija: Formirovanie postkolonial’nogo soznanija v literature 1970-2000-x gg. i refleksija mifologemy vnutrennej kolonizacii

Panel 4

Kyohei Norimatsu
Kak podchodit’ k «neopredelennoj» granice «Rossii»

Mykola Ryabchuk
Vnutrennjaja kolonizacija na zapadnom kraju imperii: Ukraina

Mirja Lecke
Vnutrennie kolonii – pestrye periferii: Ukraina i Belarus’ v izbrannych proizvedenijach A. I. Kuprina

Panel 5

Susi Frank
Kolonizacija kak nacional’naja prostranstvennaja praktika

Jane Burbank
Svjazannye zakonom: poddannye, nadzor i suverenitet v Kazanskoj gubernii, 1890-1917 gg.

Sharyl Corrado
Dvusmyslennost’ kolonizacii na Sachaline: ot «penitenciarnych kolonij» k «štrafnoj kolonii»

Panel 6

Tat’jana Artem’eva
«Osoblivaja čast’ sveta»: formirovanie gosudarstvennoj identičnosti Rossii XVIII v.

Marija Majofis
O rannej recepcii indoevropejskoj teorii v Rossii

Heinrich Kirschbaum
Vnutrennjaja kolonizacija i intertekstual’nost’: dvojnoj orientalizm «kazačej temy» v tvorčestve A. S. Puškina

Panel 7

Valeria Sobol
«Unheimlich» Svoj: tradicija «žutkogo» v russkoj literaturnoj ėtnografii

Marina Mogil’ner
Evrejskaja «subalternost’» i nauka o rassach v Rossijskoj imperii

Irina Shevelenko
Reprezentacija imperii i nacii: Rossija na vsemirnoj vystavke 1900 goda v Pariže

Panel 8

Igor’ Smirnov
Stalking kak nacional’naja identičnost’

Mark Lipovetsky
Sovetskij intelligent v sjužete vnutrennej kolonizacii: žertva kolonizacii ili agent modernizacii?

Ellen Rutten
Intelligent-impotent: seksualizacija vnutrennej kolonizacii

Panel 9

Yulia Gradskova
«Ugnetennye ženščiny otstalych narodov» i sovetskie politiki kul’turnosti – postkolonial’naja perspektiva

Nariman Skakov
Prostranstva «Džana» Andreja Platonova

Il’ja Kalinin
Podčinennye dolžny govorit’: massovyj prizyv v literaturu i formirovanie sovetskogo sub’’ekta, 1920-1930-e gody

Panel 10

Lyudmila Parts
Provincija kak post-sovetskij mif i tekst

Nancy Condee
Kontranimy vnutrennej kolonizacii i ėmansipacii v russkom kino

Anmerkung:
1 Aleksandr M. Etkind, Bremja britogo čeloveka, ili vnutrennjaja kolonizacija Rossii, in: Ab Imperio 1 (2002), S. 265-298.


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