Die Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus als politische Bewegung im europäischen Vergleich (1879-1914)

Die Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus als politische Bewegung im europäischen Vergleich (1879-1914)

Organisatoren
Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.03.2010 - 26.03.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Sabine Seiffert, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin

Unmittelbar nach der Prägung des Begriffs Antisemitismus im Jahre 1879 breitete sich das neue Schlagwort von Deutschland ausgehend rasch auf dem gesamten europäischen Kontinent aus. Hinter dem Begriff verbarg sich eine neue Qualität der Judenfeindschaft, die unter anderem als politische Bewegung verstanden werden muss. Ausdruck fand der politische Antisemitismus in der Bildung von Organisationen zur Bekämpfung jüdischen Lebens, sowie der Herausbildung von Netzwerken oder der Nutzung von Medien als Form der Öffentlichkeitsarbeit gegen Juden. Obwohl für die historische Forschung Klarheit über diese Erscheinungsformen besteht, konnte unter europäisch-vergleichenden Perspektiven bislang nicht befriedigend beantwortet werden, wie tief Antisemitismus als politische Bewegung in den Gesellschaften Europas verwurzelt war. So mangelt es noch immer an Einsichten über den Rückhalt antisemitischer Einstellungen in verschiedenen Gesellschaftsschichten in Ost- und Westeuropa, über die Einflussnahme politisch-antisemitischer Agitatoren auf die Gesellschaften der verschiedenen Länder und die sich herausbildenden nationalen politischen Parteilandschaften. Demzufolge kann die historische Forschung kaum Aussagen über die Ausbreitung des Antisemitismus im europäischen Kontext bieten, geschweige denn Auskunft über Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen dem Antisemitismus in Deutschland und den anderen europäischen Staaten geben.

Diesen und weiteren Fragen wurde auf der Konferenz in Form europaweiter komparatistischer Analysen über die Entstehungsphase des Antisemitismus zwischen 1879 und 1914 nachgegangen. Vier Fragenkomplexe wurden hierbei verfolgt: Zum einen die verschiedenen Formen des Antisemitismus, seine unterschiedlichen organisatorischen und netzwerkartigen Ausprägungen und die Frage, inwieweit sich politische Konstellationen auf die Herausbildung des Antisemitismus auswirkten. Zweitens waren sozialgeschichtliche Konstellationen von Interesse: Welche sozialen und kulturellen Milieus zeigten sich als besonders anfällig für die neue politische Bewegung, welche Gruppen zeigten sich als vornehmliche Träger? Der dritte Fragenkomplex bezog sich auf die Frage, ob es sich um einen europäischen Antisemitismus oder um viele nationale Antisemitismen in Europa handelte. Entsprechend wurde auch danach gefragt, wie stark die politischen Kulturen der jeweiligen Länder durch die neue Bewegung beeinflusst und verändert wurden. Das Interesse der Tagung richtete sich viertens darauf, die aktuellen Debatten innerhalb der Geschichtswissenschaft über eine neue Politikgeschichte oder über eine Kulturgeschichte des Politischen für die Antisemitismusforschung fruchtbar zu machen. Um die europäisch-vergleichenden Fragen anzuregen, wurden die Vorträge von Ko-Referaten ergänzt, die das Thema der Vorträge komparatistisch durchleuchteten.

Die Konferenz stand im Kontext des am Zentrum für Antisemitismusforschung angesiedelten Forschungskollegs „Antisemitismus in Europa (1879-1914). Nationale Kontexte, Kulturtransfer und europäischer Vergleich“ und wurde von deren Leitern WERNER BERGMANN und ULRICH WYRWA initiiert.

In seinem Eröffnungsvortrag „Antisemitismus in der Moderne. Versuch einer Deutung des Undeutbaren“ bezeichnete VICTOR KARADY (Budapest) den modernen Antisemitismus als eine emotional überlastete ideologische Konstruktion, die – wenn überhaupt – kaum Beziehungen zur Wirklichkeit hatte. Nach Karady handelt es sich um eine kollektiv hergestellte und organisierte Phobie.

Die Tagung selbst begann mit dem Themenblock „Politische Bewegungen, Debatten und Organisationen“. IULIA ONAC (Bukarest) zeigte, dass es sich in Rumänien um einen staatlichen Antisemitismus gehandelt hat. Sie erläuterte dies an den antisemitisch und teilweise rassistisch geführten Parlamentsdebatten um die Frage der Einbürgerung von Juden. Die Dimension des politischen Antisemitismus lasse sich schließlich in der offenen Bekundung eines Parlamentsabgeordneten finden, er wolle Juden „in (die) Donau […] werfen“. Tatsächlich erhielten in jenen Jahren lediglich 85 von den 270.000 um 1900 in Rumänien lebenden Juden die Staatsbürgerschaft. Ko-Referent CHRISTOPH JAHR (Heidelberg/Berlin) beschäftigte sich mit einer beinahe zeitgleich stattfindenden Parlamentsdebatte des preußischen Abgeordnetenhauses im November 1880, in welcher der „Kern der Judenfrage“ als parlamentarische Grundsatzdebatte diskutiert wurde. Wenngleich es bei dieser einmaligen offenkundigen antisemitischen Debatte blieb, wurden nachfolgende Parlamentsdebatten, parteienunabhängig, häufig mit antisemitischen Vorurteilen geschmückt.

MARIJA VULESICA (Berlin) ging der Frage nach, wie antisemitisch der politische Katholizismus in Kroatien-Slawonien war. Obgleich sich zum Zeitpunkt der rechtlichen Gleichstellung der Juden im Jahre 1873 kaum Widerstand im kroatischen Klerus bemerkbar machte, formierten sich im darauffolgenden Jahrzehnt einflussreiche klerikale Kreise, allen voran Bischof Strossmayer, um die Vormachtstellung des Katholizismus zu gewährleisten. Unverkennbar war der „politische Katholizismus“ Kroatiens vom Antisemitismus durchtränkt. In seinem Ko-Referat verwies STEVEN ENGLUND (Paris) auf den Unterschied zu Frankreich. Die französische Nation hatte ihren Diskurs über 'die Nation' bereits 100 Jahre zuvor geführt, Kirche und Staat waren zu diesem Zeitpunkt bereits stärker voneinander getrennt.

Die verschiedenen Formen antisemitischer Organisation und Gründe der Ausbreitung des politischen Antisemitismus in Ungarn in den 1880er-Jahren fasste PETRA RYBÁŘOVÁ (Bratislava) zusammen. Ursachen für das rasche Aufkommen und die schnelle Entwicklung des ungarischen Antisemitismus lägen unter anderem an der Tiszaeszlárer-Affäre, an der Zuwanderung russischer Juden und einer generalisierten Liberalismus-Kritik. Auch berief sich der Antisemitismus dezidiert auf Prinzipien des Christentums. Der Antisemitismus in Wien zeigte sich hingegen organisierter und besser vernetzt. Ko-Referent ALBERT LICHTBLAU (Wien) zeichnete das Bild einer Stadt, welche eindeutig von Judenfeindschaft geprägt war. Das zeige sich nicht nur in rechtlichen Restriktionen gegen Juden, sondern auch in Vereinen wie Burschenschaften, die die Aufnahme jüdischer Menschen verweigern, oder in der Entstehung antisemitischer Blöcke.

Das Panel „Politik und Öffentlichkeit. Antisemitismus in den Medien“ eröffnete VESELINA KULENSKA (Sofia/Berlin) mit einer Analyse der antisemitischen Presse Bulgariens. Bemühungen um Einführung antijüdischer Gesetze sowie um wirtschaftliche und politische Restriktion gegen Juden fanden allerdings keinen Widerhall im bulgarischen Parlament oder der Regierung. So erhielt die antisemitische Presse auch keine große Resonanz in der bulgarischen Gesellschaft. Ko-Referent THEODORE WEEKS (Carbondale, Illinois) betonte in diesem Zusammenhang die Rolle des durch den Modernisierungsprozess entstandenen Homogenisierungsdrucks auf die europäischen Gesellschaften.

Eine Analyse der ersten antisemitischen Wochenzeitung ‚Rola’ und deren Beeinflussung des politischen Antisemitismus in Kongresspolen präsentierte MACIEJ MOSZYŃSKI (Posen/Berlin). ‚Rola’ formte aus den überlieferten judenfeindlichen Ressentiments eine allumfassende antisemitische Weltanschauung, die auf ökonomische Begründungen aufbaute. Im Vergleich zur ‚Rola’ untersuchte GREGOR HUFENREUTER (Berlin) das von Theodor Fritsch herausgegebene völkische Blatt ‚Der Hammer’. Das Selbstverständnis des ‚Hammers’ lag darin, eine integrierte breite öffentliche Wirkung anzustreben und Konsensfähigkeit in der völkischen Bewegung zu finden. Betrachte man Aspekte des 'Netzwerkens' als 'modern', so nutzten ‚Rola’ und ‚Hammer’, so das Ergebnis der vergleichenden Diskussion, 'moderne' Methoden um für ihre Ziele zu kämpfen.

Im darauffolgenden Panel „Antisemitismus in der politischen Kultur“ analysierte DAMIEN GUILLAUME (Paris/Berlin) die Frage, wie politisch der französische Antisemitismus war. Guillaume stellte in Frage, dass die Wirkung des Antisemitismus in Frankreich darin bestand, sich in Form einer Partei oder Vereinigung zu organisieren. Er kam zu dem Fazit, dass der politische Einfluss des Antisemitismus aufgrund der die unterschiedlichen politischen Lager überwölbenden Ideologie von Anfang an nicht nur begrenzt gewesen sei, sondern vielmehr überwiegend auf einer Illusion beruhte. In seinem Vergleichsvortrag vertrat FRANÇOIS GUESNET (London) die These, eine Exklusion der Juden sei in Polen stetig konstitutionell geschehen, so dass eine rassistische Aufhetzung gar nicht erst von Nöten war, um einen hegemonialen Antisemitismus auszuweiten. Hinsichtlich der Frage nach der politischen Kultur in den Ländern Polen, Frankreich und Deutschland wurde in der anschließenden Diskussion festgehalten, dass in Frankreich frühzeitig, spätestens seit der Dreyfus-Affäre, die politische Haltung gegenüber Juden von zentraler Bedeutung war. Ähnlich rasch geschah dies in Polen nach 1848. In Deutschland musste die Position gegenüber der jüdischen Bevölkerung stetig neu verhandelt werden.

In der Öffentlichkeit Großbritanniens gab es, wie SUSANNE TERWEY (Berlin) zeigte, in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg keinen politischen Antisemitismus. Obwohl antijüdische Ressentiments nicht unbekannt waren, bildete sich niemals eine politische antisemitische Bewegung heraus, da diese aufgrund der pluralistischen Aufstellung Großbritanniens wenig Akzeptanz fand. Im Gegensatz hierzu stellte SILVIA MARTON (Bukarest) für Rumänien fest: Antisemitismus war ein wichtiger Bestandteil für den Nation-building-Prozess. Juden wurden – wenn auch nicht konstitutionell – in allen institutionellen, politischen wie bürokratischen Bereichen diskriminiert.

Das Panel „Die Politik der Gewalt“ führte STEFAN WIESE (Berlin) mit seinem Referat „Die große Angst in Žitomir. Gewalt und Gerücht in Russland 1905“ ein. Unter dem Eindruck vorausgegangener Pogrome und erneut drohender Gewalt errichteten Juden und Akteure der revolutionären Bewegung eine Selbstwehr-Einheit, die von nicht-jüdischen, nicht-revolutionären Gesellschaftsmitgliedern wiederum als Gefahr wahrgenommen wurde. Somit wurde eine Spirale der Angst zwischen Juden und Nicht-Juden erzeugt, die wiederum durch revolutionäre Kräfte zur Legitimierung der Selbstwehr instrumentalisiert wurde. Im Zusammenhang mit den europaweit einzigen zu jener Zeit stattfindenden Morden an Juden in Russland stellte Ko-Referat HELMUT WALSER SMITH (Nashville) die Frage, wo die Grenzen wissenschaftlicher Untersuchung zu ziehen seien, wenn nach politischem Antisemitismus gefragt wird. Lässt sich tatsächlich etwas über die Ausprägung des Antisemitismus sagen, weil sich Akteure jener Tage zum Zwecke des Selbstschutzes zur Bildung einer Selbstwehr entschieden haben, wenn im Gegensatz zu Deutschland kein militärischer Minderheitenschutz existierte? An welchem Punkt sind komparatistische Vorgehen nicht mehr angebracht, oder doch gewinnbringend?

Im Anschluss daran zeichnete TIM BUCHEN (Berlin) mögliche Zusammenhänge von antijüdischer Gewalt und der Dynamik galizischer "Exzesse" von 1898 nach. Er hob dabei vor allem die Bedeutung von Gerüchten und die entscheidende Rolle staatlicher Interventionen im Falle des dynamisierten Konfliktes hervor. Motive, Handlungsspielräume und Erwartungshaltungen jüdischer, christlicher und staatlicher Akteure lösten sich dabei in einer entsprechenden Kommunikationssituation auf, die kollektive Erinnerung lasse Täter nach der Tat zu Opfern werden und umgekehrt. Der vertraute Fremde wurde zum Feind—und die galizischen Agitatoren erlangten den Einzug in das Parlament. DARIUS STALIŪNAS (Vilnius) stellte in seinem Ko-Referat die judenfeindlichen Ausschreitungen in den litauischen Provinzen des Russischen Reiches vor. Er zeigte, dass es dort zu geringeren Ausschreitungen kam als im Südwesten des Reiches, weil die antisemitischen russischen Schwarzhunderter hier weniger erfolgreich waren, Antisemiten nicht als organisierte Bewegung auftraten und Juden eher potentielle Verbündete der Litauer im Kampf gegen Russen und Polen darstellten.

Anhand des Referats von MARIA MARGARONI (Volos/Lüttich/Berlin) über den Verlauf von Ritualmordgerüchten zum Pogrom auf Korfu 1891 sowie dem Ko-Referat von MICHAL FRANKL (Prag) über Ritualmordbeschuldigungen in Tschechien wurde gezeigt, wie aufbauend auf altbekannte Vorurteile Ritualmordvorwürfe jener Jahre eine neue Qualität erhielten, was sich auch in der Art der Präsentation der Tat zeigte: die Physis der Tat stand stärker im Vordergrund, wobei antisemitische Kampagnen einem „Prozess der Inszenierung“ (Frankl) gleichkamen.

Das Panel „Politik und Agitation im ländlichen Raum“ machten zwei Hauptreferate aus, die beide stark auf die Agitation „antiliberaler“ Einstellungen eingingen. Die Verflechtung von Nationalismus und antisemitischer Praxis in Oberungarn stellte MILOSLAV SZABÓ (Berlin) in seinem Vortrag her: Nicht-magyarische Nationalisten verfolgten noch während der 1870/80er-Jahre einen diffusen Antiliberalismus, welcher sowohl die liberale Wirtschaftspolitik als auch die offizielle „Assimilationspolitik“ stark beeinflusste. „Praktischer“ beziehungsweise „ökonomischer“ Antisemitismus prosperierte in anti-liberalen Milieus wie unter ungarischen Katholiken, Agrariern und nicht-magyarischen Nationalisten. Er wurde durch die antisemitische Propaganda slowakischer Nationalisten noch vor der Jahrhundertwende stark vorangetrieben. Aufgrund seiner Analyse ist eine Differenzierung von politischem und praktischem Antisemitismus in Oberungarn für Szabó nicht haltbar. Ko-Referent ULRICH BAUMANN (Berlin) wies auf das Problem der Vergleichbarkeit hin. Er setzte sich mit der Region Südbaden auseinander, die vor allem zu jener Zeit keine Migrationsprobleme kannte. Vielmehr seien die disparaten Konfliktlinien an konfessionellen Grenzen entlang verlaufen.

Dem Zusammenhang von Antisemitismus und Genossenschaftsbewegung in Litauen 1904-1914 widmete sich KLAUS RICHTER (Berlin). Sein Referat zeichnete die übereinstimmende Haltung litauischer Katholiken, Liberaler und Bauern für die genossenschaftliche Organisation zur Begrenzung der wirtschaftlichen Emanzipation der Juden nach. Genossenschaften erhielten somit die Funktion eines Instruments innerhalb eines ethnischen Konflikts. Neben dem Drang litauischer Antisemiten nach wirtschaftlicher Emanzipation machte Richter auf die nicht zu vernachlässigende Rolle katholischer Priester in der Genossenschaftsbewegung aufmerksam. Für die Vergleichsregion Galizien kam KAI STRUVE (Halle/Berlin) zu dem Ergebnis, dass die Judenfeindschaft in den Genossenschaften mit dem Antisemitismus der bürgerlichen Gesellschaft korrelierte. Während des Prozesses des nation-building sei es zur Inklusion der ländlichen Bauernschaft und Exklusion der Juden gekommen.

Im letzten Panel der Tagung „Der politische Antisemitismus im städtischen Raum“ referierte KATI VÖRÖS (Chicago) über den Antisemitismus im öffentlichen Raum Budapests um 1900. Den Auftakt des modernen Antisemitismus konstatierte Vörös mit dem Ende der Tiszaeszlárer-Affäre 1883. Zentralen Einfluss auf antisemitische Diskurse hatte dabei die katholische Presse, da sie die Brüche der Moderne wie auch die Herausforderungen von Liberalismus und Kapitalismus in der Verantwortung der Juden propagierte. Die aufkeimende antisemitische Bewegung konnte zwar keinen Fuß in der ungarischen Gesellschaft fassen, dennoch setzte sie sich kontinuierlich in konservativen und nationalistischen Kreisen fest. Ko-Referent KLAUS HÖDL (Graz) rief die Bedeutung der Schaffung eines historischen Narrativs in Erinnerung, welches im Falle des aufkommenden modernen Antisemitismus in Wien – wie generell in den europäischen Staaten – negativ geschrieben werden musste.

Abschließend befasste sich CHRISTOPH BULLER (Berlin) mit den Begegnungen zwischen Juden und Nicht-Juden im bürgerlichen Göteborg und untersucht die Möglichkeiten der Partizipation und Exklusion von Juden in der politischen Kultur der Stadt (1870-1917). Das eingeschränkte Kommunalwahlrecht gab dem städtischen Bürgertum eine dominierende Stellung im kommunalen Leben, und das jüdische Bürgertum Göteborgs hatte großen Anteil am kulturellen und sozialen Leben der Stadt. Faktisch habe Antisemitismus – auch national – keine tragende Rolle gespielt. Vergleichend dazu machte ULRICH WYRWA am Beispiel der Biographie des italienischen Literaturwissenschaftlers Alessandro D’Ancona auf die weitreichende Integration italienischer Juden in das Bürgertum aufmerksam, zugleich wies er auf den starken, politisch jedoch einflusslosen Antisemitismus der katholischen Kirche in Italien hin. Gefragt wurde schließlich danach, inwieweit Juden das Leben ihrer Identität nur eingeschränkt und/oder unter enormen Assimilationsdruck möglich war.

SHULAMIT VOLKOV (Tel Aviv) und REINHARD RÜRUP (Berlin) fassten zum Abschluss der Tagung ihre Eindrücke von den Vorträgen und Diskussionen zusammen und zogen ein Resümee. Volkov machte zunächst auf die Bedeutung der nicht-modernen Elemente des politischen Antisemitismus sowie die Kontinuität der religiösen Argumente aufmerksam. In auffallender Weise wurden Argumente und Vorurteile des christlichen Antisemitismus lediglich in neues Gewand gekleidet. Dennoch bleibt es unbestritten, dass das Phänomen eine neue Dimension des politischen erhielt. Ferner bemerkte sie, dass dem rassistischen Antisemitismus im europäischen Vergleich offenbar eher geringe Bedeutung zukam. Auch konnte die Frage nach dem europäischen Antisemitismus mit einer „Konjunktur“ antisemtischer Ausbrüche beantwortet werden. Volkov verdichtet, wie sich zeitgleich ähnliche Ereignisse in Europa auftaten, und beinahe fließend antisemitische Ausprägungen in den verschiedenen europäischen Ländern beobachtet werden konnten. Sie mahnte ferner eine Vertiefung interdisziplinärer Studien an, wobei es für die historische Forschung unabdingbar sei, die jüdische Geschichte nicht aus den Augen zu verlieren.

Dass es sich um einen europäischen Antisemitismus handele, so Rürups Resümee, lasse sich erstens an der Schnelligkeit ablesen, mit welcher sich der Begriff Antisemitismus in ganz Europa ausbreitete und überall die gleiche Bedeutung hatte. Zweitens bestand das Ziel der antisemitischen Bewegung darin, sich als europäische Bewegung zu präsentieren und die politische Kultur Europas insgesamt zu prägen. Ein neues zentrales Thema der Antisemitismusforschung, dies hat die Tagung nach Rürup ebenfalls deutlich gemacht, liegt in der Frage der physischen Gewalt gegen Juden. Rürup machte in diesem Zusammenhang jedoch auf das methodologische Problem aufmerksam, dass die Vielzahl der Quellen zu diesem Thema dieses in der historischen Rekonstruktion wie unter einem Vergrößerungsglas erscheinen lassen könne. Mit Blick auf die weitere Antisemitismus-Forschung hat diese Konferenz die Notwendigkeit einer Vertiefung interdisziplinärerer Studien aufgezeigt.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Eröffnung durch Werner Bergmann und Ulrich Wyrwa

Öffentlicher Abendvortrag
Victor Karady (Budapest): Antisemitismus in der Moderne. Versuch einer Deutung des Undeutbaren

Politische Bewegungen, Debatten und Organisationen

Iulia Onac (Bukarest): Die rumänischen Parlamentsdebatten um den Berliner Kongress. Ko-Referat von Christoph Jahr (Heidelberg/ Berlin)

Petra Rybářová (Bratislava): Politischer Antisemitismus in Ungarn in den 1880er Jahren. Ko-Referat von Albert Lichtblau (Wien)

Marija Vulesica (Berlin): Wie antisemitisch war der politische Katholizismus in Kroatien-Slawonien? Ko-Referat von Steven Englund (Paris)

Politik und Öffentlichkeit. Antisemitismus in den Medien

Veselina Kulenska (Berlin): Die antisemitische Presse in Bulgarien am Ende des 19. Jahrhunderts. Ko-Referat von Theodore Weeks (Carbondale, Illinois)

Maciej Moszyński (Posen/Berlin): „Das Vierteljahrhundert des Kampfes“. Die Wochenzeitung „Rola“ in Kongresspolen. Ko-Referat von Gregor Hufenreuter (Berlin)

Antisemitismus in der politischen Kultur

Damien Guillaume (Paris/Berlin): Wie politisch war der französische Antisemitismus? Ko-Referat von François Guesnet (London)

Susanne Terwey (Berlin): Der Antisemitismus in der politischen Öffentlichkeit Großbritanniens. Ko-Referat von Silvia Marton (Bukarest)

Die Politik der Gewalt

Stefan Wiese (Berlin): Die große Angst in Žitomir. Gewalt und Gerücht in Russland 1905. Ko-Referat von Helmut Walser Smith (Nashville/Tenn.)

Tim Buchen (Berlin): Antijüdische Gewalt und die Dynamik der galizischen "Exzesse" 1898. Ko-Referat von Darius Staliūnas (Vilnius)

Maria Margaroni (Volos/Berlin): Korfu 1891: Von Ritualmordgerüchten zum Pogrom. Ko-Referat von Michal Frankl (Prag)

Politik und Agitation im ländlichen Raum

Miloslav Szabó (Berlin): „Denn Worte sind keine Taten“. Nationalismus und antisemitische Praxis in Oberungarn um 1900. Ko-Referat von Ulrich Baumann (Berlin)

Klaus Richter (Berlin): Genossenschaftsbewegungen und Antisemitismus in Litauen 1904-1914. Ko-Referat von Kai Struve (Halle)

Der politische Antisemitismus im städtischen Raum

Kati Vörös (Chicago): Antisemitismus im öffentlichen Raum. Die Nachtseite des Zusammenlebensvon Juden und Nicht-Juden in Budapest um 1900. Ko-Referat von Klaus Hödl (Graz)

Christoph Buller (Berlin): Begegnungen im Bürgertum. Partizipation und Exklusion von Juden in der politischen Kultur Göteborgs 1870-1917. Ko-Referat von Ulrich Wyrwa (Berlin)

Abschlussdiskussion mit Reinhard Rürup (Berlin) und Shulamit Volkov (Tel Aviv)