Kirchenräume

Organisatoren
Sonderforschungsbereich "Institutionalität und Geschichtlichkeit" an der Technischen Universität Dresden/ Projekt S: Institutionelle Ordnungsarrangements öffentlicher Räume in der Frühen Neuzeit
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.10.2003 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Susanne Rau, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Teilnehmer/innen: Renate Dürr (Frankfurt/Main), Werner Freitag (Halle/S.), Frank Hatje (Hamburg), Peter Th. Lang (Albstadt-Ebingen), Anne Schaich (Dresden), Frauke Volkland (Neustadt/W.) - Kreis der Veranstalter: Christian Hochmuth, Alexander Kästner, Katja Lindenau, Susanne Rau, Gerd Schwerhoff

Was haben Kirchenräume mit Wirtshäusern zu tun? Zunächst scheint es zwischen diesen beiden Räumen keine Beziehungen zu geben, sind wir doch gewohnt, mit der Kirche das "Sakrale", mit dem Wirtshaus hingegen das "Profane" zu verbinden. 1 Doch auch diese Zuschreibung bzw. die daraus resultierende Gegensätzlichkeit dieser Räume hat ihre Geschichte. In Spätmittelalter und Früher Neuzeit gab es Überlagerungen auf verschiedenen Ebenen: So lagen in vielen Städten und Dörfern Wirtshäuser in unmittelbarer Nähe zur Kirche, was nicht selten dazu einlud, vor oder nach dem Gottesdienst in die Schenke zu gehen. Hatte die Schenke schon während des Gottesdienstes geöffnet, so verweilten die Kirchenbesucher dort sogar in dieser Zeit. Auf dem Land mussten die Bauern nicht selten lange Wege zur Kirche zurücklegen, wobei ihnen eine Erfrischung unterwegs willkommen war. Diese Gewohnheiten versuchten die Obrigkeiten der Frühen Neuzeit nach und nach zu unterbinden, viele Kleriker redeten in ihren Disziplinierungsversuchen oft von dem Wirtshaus als der Kirche des Teufels. So wurde ein Gegensatz konstruiert, der bei den Klerikern zum Teil seinen Grund in der Furcht vor Profanierung des Gottesdienstes hatte, der aber bei den Untertanen noch lange nicht auf Gegenliebe stieß. Zu bedeutend waren die Funktionen des frühneuzeitlichen Wirtshauses jenseits von Geselligkeit. Doch auch die Kirche war ja nicht nur Ort des Gottesdienstes, sondern auch Ort der Kommunalpolitik oder Ort, an dem man sich über die neuesten Neuigkeiten austauschte. Vieles spricht dafür, Kirchen wie Wirtshäuser als öffentliche Räume der Vormoderne zu bezeichnen; als Orte einer Öffentlichkeit, die zwar nicht alle Kriterien der von Habermas geprägten bürgerlichen Öffentlichkeit erfüllt, aber doch in einem genetischen Zusammenhang mit dieser stehen.

Ein Weg, der Frage nach der vormodernen "Öffentlichkeit der Kirche" nachzugehen, ist es nach Nutzungen dieses Raumes jenseits von Gottesdienst und Liturgie zu fragen. Dies schließt Fragen nach den Personen, die dort verkehrten, nach Ausstattung, Raumordnungen sowie Veränderungen ebenso ein wie Zugangsbeschränkungen, Öffnungszeiten oder die Nutzung durch mehrere Konfessionen. Zur Diskussion dieser Fragen und zum Austausch über bislang vorliegende Erkenntnisse trafen sich die oben genannten Historiker und Historikerinnen zu einem Workshop in Dresden, nachdem zuvor bereits Texte (z.T. im Druck befindliche Arbeiten) ausgetauscht worden waren.

Dass die Frage nach der Nutzung der Kirchenräume mit zum Teil sehr unterschiedlichen Ansätzen angegangen werden kann, liegt in der Natur der Sache. Deshalb werden im Folgenden die einzelnen Beiträge und Thesen kurz vorgestellt. Zuvor aber soll eine Reihe von Quellengattungen aufgezählt werden, die im Laufe der Diskussion genannt wurden und die alle diejenigen interessieren könnten, die gerade anfangen, sich mit Kirchen als öffentlichen Räumen zu beschäftigen. Hauptquellen dieser Fragestellung sind weder theologisches Schrifttum noch Kirchenordnungen, sondern Visitationsakten (die weniger für Städte als für das Land vorhanden sind), Bestände der Pfarr- oder Kirchenarchive (u.a. zur Baugeschichte), Ministeriumsprotokolle, Rechnungsbücher, Ratsprotokolle, Korrespondenzen (z.B. zwischen Pfarrern/ Rat und Bischof/ Landeskirche), gedruckte Predigten, Reisebeschreibungen, Chroniken, Testamente (wegen der Stiftungen), alte Stadtansichten, Protokolle von Bruderschaften, aber auch Kriminalitätsakten (für Schändungen, Diebstähle oder andere Vergehen) oder Inschriften in/an Kirchen, erhaltene Ausstattungen bzw. ältere Inventare, sofern die Kirchen im Zuge der Zeit oder kriegsbedingt umgestaltet wurden.

Begonnen wurde mit der Vorstellung des Dresdner SFB-Projektes, in dem nicht nur Kirchenräume untersucht werden, sondern das in einem breiteren Ansatz den institutionellen Ordnungsarrangements öffentlicher Räume in der Frühen Neuzeit, vor allem in Städten, nachgeht. Auf Ansatz und Methode soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, weil all dies demnächst in der Einleitung zu einem Sammelband nachzulesen ist. 2

Renate Dürr, die sich kürzlich in Frankfurt/Main mit einer Arbeit über "Kirchenräume. Handlungsmuster von Pfarrer, Obrigkeiten und Gemeinden in Stadt und Kleinem Stift Hildesheim, 1550-1750" habilitiert hat, untersucht den Kirchenraum unter der Leitfrage, wer dort die Autorität habe und kommt in ihren Untersuchungen zu dem Schluss, dass im Kirchenraum stets ein Miteinander von Pfarrern und Gemeinden herrschte. Sie hat sich den relationalen Raumbegriff der Soziologin Martina Löw angeeignet, die Raum nicht als "Behälter", als etwas Vorgegebenes ansieht, sondern als Ort, der durch Ordnung, Platzierung und Dynamik gekennzeichnet ist. Durch die nähere Untersuchung von zwei typischen Handlungsfeldern, die Pfarrerwahl sowie Beichte und Abendmahl, kommt Dürr zu dem Schluss, dass im Kirchenraum die Gemeinden handelnd in Erscheinung traten und dass dieser Handlungsraum auch einen Rückkoppelungseffekt auf das Gebäude selbst hat.

Werner Freitag beschäftigt sich seit den 80er Jahren in verschiedener Hinsicht mit dem Kirchenraum, angefangen mit Pfarrerstudien, dem Wallfahrtswesen bis hin zur katholischen Konfessionalisierung v.a. im westfälischen Raum. 3 Bei diesen Arbeiten konnte er auch immer wieder das Gegensatzpaar heilig - profan in fruchtbarer Weise erörtern. Hinter der Absicht der frühneuzeitlichen Theologen und Visitatoren, die "profanen" immer stärker von den "heiligen" Dingen zu trennen, sieht er eine Neudefinition von Sakralität, die verbunden ist mit einer neuen Ästhetik und einer Vorstellung von Sauberkeit/Reinheit des Kirchenraumes. So ist auch erklärbar, warum in der Frühen Neuzeit der Küster mit dem Staubwedel durch die Kirche gehen musste, warum die Wände getüncht wurden und warum Kirche und Kirchhof von Bewohnern, Händlern und Vieh freigehalten werden sollten. Alle Veränderungen im Raum, auch die des Bildprogrammes oder der Ausstattung (Kniebank, Drehtabernakel) zielten, so Freitag, schließlich auf eine Veränderung des Verhaltens der Gläubigen ab.

Frauke Volkland arbeitet derzeit zu gemischtkonfessionellen Gemeinden der Eidgenossenschaft und widmet sich dabei insbesondere den Simultaneen (Typ 1: gemeinsame Nutzung des gesamten Raumes, Typ 2: Aufteilung des Raumes unter den Konfessionen). 4 Simultankirchen stellen für sie den Ort dar, an dem sich der Begriff der konfessionellen Identität besonders gut untersuchen lässt. Durch das buchstäbliche Aufeinanderprallen zweier Konfessionen in einem Raum, der von beiden - allerdings unterschiedlich im Detail - als heilig betrachtet wurde, mussten die religiösen Grenzen vor Ort immer wieder ausgehandelt werden. Wenn etwa Protestanten im Chor herumgingen, sich auf Altäre setzten oder auch willentlich das Sakramentshäuschen umstießen, so empfanden dies die Katholiken zugleich als Desakralisierung, da es einer tatsächlichen wie symbolischen Grenzüberschreitung gleichkam.

Frank Hatje stellte seine Forschungen zu verschiedenen Hamburger Stiftungen und deren Einbindung in die Stadt vor. 5 In diesen Rahmen gehören auch zwei Hamburger Nebenkirchen, die Marien-Magdalene-Kirche und das Heiliggeisthospital. Da eine Gemeinde in der Frühen Neuzeit immer zugleich Heilsgemeinschaft und Gemeinwesen war, ergeben sich auch für deren Kirchen vielfältige Nutzungen. An der Außenseite des Gebäudes angefangen, waren Kirchtürme Fixpunkte der Kirchspiele und Orientierungspunkte innerhalb der Stadt; die Glocken wurden zudem für die Rhythmisierung des Tagesablaufs oder für Sturmleuten und Feueralarm eingesetzt. An der Kirchenmauer waren meist Verkaufsbuden angebracht und die Anwohner nutzten das Kirchenschiff, um Fußwege innerhalb der Stadt abzukürzen. Der Kirchenraum war aber auch eine Bühne für soziale Institutionen (Bruderschaften, Armenwesen) und ein Ort der Erinnerung (Stiftergedenken, Familiengräber, Epitaphien). Nicht zu vergessen sind Aspekte der Akustik (Orgel, Kirchengesang, hoher Geräuschpegel durch Gespräche) und des Geruchs (insbes. in Zeiten hoher Mortalität). Insgesamt, so Hatje, hat sich der Innenraum in nachreformatorischer Zeit aber nur allmählich verändert; auch Beichtstühle waren in protestantischen Kirchen teilweise noch am Ende des 18. Jahrhunderts in Gebrauch.

Peter Thaddäus Lang, ausgewiesener Spezialist für Visitationsakten, hielt zuerst einen Vortrag über diese Quellengattung, deren Vorkommen und Entwicklung. 6 Aus der protestantischen Materialvisitation sowie aus der Visitation der Amtsführung des katholischen Klerus ließen sich am ehesten Erkenntnisse über die Nutzung des Kirchenraumes gewinnen. Danach zählte Lang eine Reihe von eindrücklichen Vorfällen und Konflikten auf, die sich in Kirchenräumen und auf Kirchhöfen zugetragen haben; allesamt Beispiele, die zeigen, dass die Akteure bei der Zuschreibung von "sakral" oder "sauber" bzw. "profan" oder "schmutzig" verschiedene Maßstäbe anlegten. Insgesamt lasse sich in der Frühen Neuzeit eine Tendenz zur stärkeren Trennung des Sakralen vom Profanen feststellen, jedoch müsse auch gesehen werden, dass sich sowohl die Sichtweisen (die Wahrnehmung von "Schmutz") als auch die Quellengattung selbst im Laufe der Zeit veränderten.

Abschließend stellte die Kunsthistorikerin Anne Schaich ihr Dissertationsprojekt zu mittelalterlichen Sakristeien vor, was sie dann am Beispiel des Meißner Doms exemplifizierte. Dabei stellte sie fest, dass Sakristeien ihren Ort in ein und demselben Kirchengebäude im Laufe der Zeit gewechselt haben. Es gab Räume, die auch Sakristei genannt wurden, jedoch auch Räume, denen im Laufe der Baugeschichte Sakristeifunktion zugeschrieben wurde (z.B. weil sich dort Piszinen oder Wandnischen befanden). Wird die Sakristei zwar von der ursprünglichen Definition her als Ort des Heiligtums begriffen, so lässt sich die Trennung sakral - profan an diesem Ort nicht wirklich eindeutig bestimmen. Die Sakristei war zwar meist der Ort der Vorbereitung des Gottesdienstes sowie der Aufbewahrung der vasa sacra, jedoch fanden sich dort mitunter auch Schreibstuben oder Bibliotheken.

In der Diskussion wurde immer wieder die Frage nach der Offenheit, nach Zugangsmöglichkeiten oder Nutzungsbeschränkungen der Kirchen gestellt, auch nach geschlechtlichen Raumaufteilungen, nach Licht, Fenstern und Sauberkeit. Die Antworten auf die Fragen sind kaum zu generalisieren, um so mehr aber sind es Fragen, die weiterhin im "Raum" stehen - in einem Raum, darüber waren sich alle Workshop-Teilnehmer einig, der stark durch das Handeln der Menschen, die in ihm verkehrten, geprägt war.

1 Vgl. dazu jüngst Alain Cabantous: Entre fêtes et clochers. Profane et sacré dans l'Europe moderne, XVIIe-XVIIIe siècle, Paris: Fayard 2002.
2 Susanne Rau/ Gerd Schwerhoff (Hgg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln u.a. 2003 [erscheint vorauss. im Januar 2004 beim Böhlau Verlag].
3 Werner Freitag: Volks- und Elitenfrömmigkeit in der frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster, Paderborn 1991; Ders.: Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft. Das Dekanat Vechta 1400-1800, Bielefeld 1998.
4 Frauke Volkland: Reformiert sein >unter< Katholiken. Zur religiösen Praxis reformiert Gläubiger in gemischtkonfessionellen Gemeinden der Alten Eidgenossenschaft im 17. Jahrhundert, in: Norbert Haag u.a. (Hgg.): Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500-1850, Stuttgart 2002, S. 159-177, sowie demnächst die Dissertation der Autorin.
5 Frank Hatje: "Gott zu Ehren, der Armut zum Besten". Hospital zum Heiligen Geist und Marien-Magdalenen-Kloster in der Geschichte Hamburgs vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Hamburg 2002.
6 Vgl. jüngst Peter Th. Lang: Visitationsprotokolle und andere Quellen zur Frömmigkeitsgeschichte, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quellen, Stuttgart 2002, S. 302-324.