Ostdeutsche Unternehmen im Transformationsprozess

Ostdeutsche Unternehmen im Transformationsprozess

Organisatoren
Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V.; Bielefeld Graduate School of History and Sociology; Sächsisches Wirtschaftsarchiv e.V.
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.02.2010 - 20.02.2010
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Von
Veit Damm, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Der Workshop verfolgte das Ziel, als neues unternehmensgeschichtliches Themenfeld eine systematische Erschließung der Geschichte ostdeutscher Unternehmen vorzuschlagen und die Perspektiven ihrer Erforschung unter dem Gesichtspunkt der Transformationsgeschichte aufzuzeigen.

Einführend skizzierte THOMAS WELSKOPP (Bielefeld) einige grundlegende Ansatzpunkte für eine historische Analyse von (ostdeutschen) Unternehmen im Transformationsprozess. Dabei gehe es nicht um eine Regionalgeschichte ostdeutscher Unternehmen. Vielmehr richte sich das Augenmerk auf die System-Übergänge von 1945 und 1989 in unterschiedlichen Betrieben und Firmen, deren Vergleich die Bildung von Generalisierungen und systematischen Parametern erlaube, ohne die jeweiligen Besonderheiten verschwinden zu lassen. Zugleich werde so eine Erweiterung der bislang sehr stark auf die Geschichte von westdeutschen Unternehmen – und dabei besonders von Großunternehmen – fokussierten Forschung möglich. Die Perspektiven dieser thematischen Erweiterung stellte der Workshop anhand ausgewählter Unternehmen dar, die bereits vor 1945 existiert hatten und auch nach 1989 weiter bestanden. Dabei sollten gemeinsame Merkmale von erfolgreichen bzw. erfolglosen Transformationen herausgearbeitet werden.

Vor den Untersuchungen zu einzelnen Unternehmen stellte ULRIKE SCHULZ (Bielefeld) ein von ihr selbst gemeinsam mit SYLVIA WÖLFEL (Dresden), SWEN STEINBERG (Dresden) und VEIT DAMM (Saarbrücken) entwickeltes theoretisches Rahmenkonzept vor, dessen Anwendung die bisherigen, besonders für Ostdeutschland erheblichen Defizite der systemübergreifenden Unternehmensforschung beheben soll. Aus historischer Sicht ergebe sich die herausfordernde Aufgabe, die multifaktorischen Gründe für die überwiegend negativ geprägte Sicht auf die ostdeutsche Transformationsökonomie zu ergründen, die in einen scharfen Kontrast zu ihrer Geschichte steht. So gibt es eine gravierende Forschungslücke und eine Vernachlässigung der Geschichte ostdeutscher Unternehmen vor 1989 und ein kollektives Vergessen darüber, wie stark industrialisiert und verflochten die ostdeutsche Wirtschaft und wie traditionsreich und leistungsfähig ihre Unternehmen einmal waren. Dazu soll die ostdeutsche Unternehmensgeschichte als Transformationsgeschichte aufgefasst werden. Transformation meint dabei im weiteren Sinne ökonomische „Umwandlungen“ in einzel- oder gesamtwirtschaftlicher, struktureller oder regionaler, verhaltensbedingter oder regelbezogener Hinsicht. Im Besonderen geht es um Systemumwandlungen, zum Beispiel die marktwirtschaftliche Umwandlung der osteuropäischen sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften im Prozess ihrer EU-Integration oder die Systemtransformation nach 1945. Dazu müssten systematische Auswertungen der Archivbestände erfolgen, das bestehende Theoriedefizit der DDR-Wirtschaftsgeschichte überwunden sowie die Forschung sowohl zeitlich als auch räumlich aus der Engführung der letzten zwanzig Jahren herausgeführt werden.

So müsse die DDR-Wirtschaftsgeschichte zum Beispiel durch instititutionenökonomische Zugänge, durch die Frage nach „kulturellen Überhängen“ und durch das Hinzuziehen praxeologischer Zugänge – das heißt ein Aufbrechen der weitgehend akteursfernen Wirtschaftsgeschichtsschreibung vor und nach 1989 – erweitert werden. Unternehmensgeschichte als Transformationsgeschichte soll dabei weder auf das Gebiet der neuen Bundesländer beschränkt, noch auf die Epochenzäsuren von 1945 und 1989 eingeengt werden. Vielmehr wird zeitlich davon ausgegangen, dass die doppelte Transformation der ostdeutschen Unternehmen stärker in den Blick genommen werden muss, womit der Ausgangspunkt vor 1939 anzusetzen sei. Das Schicksal des Überlebens ostdeutscher Unternehmen war auch nicht 1989 besiegelt, sondern erst mit der offiziellen Abgabe des Privatisierungsauftrages der Treuhand – daher sei eine Ausweitung des Zeitrahmens bis 1995 anzusetzen.

Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen wurden in verschiedenen Fallstudien zu ostdeutschen Unternehmen der Fahrzeugindustrie (VEB Simson, VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau, VEB Automobilwerke Ludwigsfelde), der Eisen- und Stahlindustrie und der Papierindustrie (Kübler & Niethammer) neue Daten zum Ablauf der Transformationen von 1945 und 1989 auf der Unternehmensebene vorgestellt.

Ulrike Schulz widmete sich der Transformation des 1856 gegründeten Familienunternehmens „Simson & Co“ in Suhl/Thüringen, dessen Organisations- und Eigentümerstruktur bei politischen Systemwechseln von 1935 bis 1995 mehrfach grundlegend umgewandelt worden war. So erfolgte 1935 eine Enteignung des „jüdischen“ Waffen- und Fahrzeugherstellers durch die Nationalsozialisten, 1945 eine Überführung der Firma in einen Volkseigenen Betrieb und schließlich 1989 die Privatisierung und Insolvenz des Unternehmens. Im Vortrag ging Ulrike Schulz der Frage nach, warum das Unternehmen diese gravierenden Eigentümerwechsel und Transformationen überleben konnte und untersuchte dabei beispielhaft die Entwicklung der Belegschaft 1924 bis 1952. Dabei zeigte sie, dass bei der erfolgreichen Transformation des Unternehmens nach 1945 drei Schlüsselfaktoren wirkten: (1.) die Kontinuität der Führungskräfte, (2.) die Kontinuität der Produktlinien, (3.) die Identifikation mit dem Unternehmen. Gerade dieses Unternehmen sei, dies betonte die Referentin abschließend, ein gutes Beispiel für die übergeordnete Frage, warum Transformationen nach 1989 nicht erfolgreich verliefen. Im Falle der Simson-Werke spielten dabei die Eigentumsrechte am Unternehmen und deren Klärung eine entscheidende Rolle.

KIM C. PRIEMEL (Berlin) und DAGMARA JAJESNIAK-QUAST (Erfurt) behandelten die Transformation der mitteldeutsche Eisen- und Stahlindustrie im 20. Jahrhundert. Dabei stellte Priemel fest, dass hier bereits vor 1945 strukturelle Defizite bestanden. So habe die Industrie schon vor dem Ersten Weltkrieg unter einer mangelnden Rohstoffbasis und langen Transportwegen gelitten sowie im deutschen Vergleich nur eine geringe Bedeutung gehabt. Erst nach 1918 setzte eine Konsolidierungs- und Konzentrationsphase ein, die in den 1930er-Jahren in eine besondere Wachstumsperiode mündete – worauf allerdings nach 1945 eine vollständige Demontage der Werke der mitteldeutschen Stahlindustrie in der Sowjetischen Besatzungszone folgte. Insgesamt sei die Bedeutung des Standorts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar fortwährend angewachsen, die spezifischen Standortnachteile blieben jedoch bestehen. Auf diesen Überlegungen aufbauend, stellte Jajesniak-Quast die Fortführung der Industrietradition und den Neuaufbau von Werken nach 1945 am Beispiel des Eisenhüttenkombinats in Fürstenberg/Oder (später: Eisenhüttenstadt) vor. Wichtig für die erfolgreiche Transformation der Industrie seien dabei neben der Kontinuität von Fachkräften vor allem territoriale bzw. politisch-strategische Aspekte für die Auswahl des Ortes gewesen. Sie spielten sowohl nach den Systemwechseln von 1945 und 1989 – als das Werk in Eisenhüttenstadt durch den Zufluss von 1,3 Milliarden Euro Subventionen gerettet werden konnte und heute wieder schwarze Zahlen schreibt – ein wichtige Rolle. Allerdings sei die präzise Bestimmung der Erfolgsfaktoren von Transformationen als historische Phänomene durch die Gleichzeitigkeit verschiedener paralleler Transformationsprozesse eingeschränkt, sagte Jajesniak-Quast. So müsse beachtet werden, dass stets Prozesse von politisch-staatlichen Transformationen, Transformationen der Wirtschaftsordnung sowie soziokulturelle Transformationen gleichzeitig abliefen.

SWEN STEINBERG (Dresden) bot in seinem Vortrag eine kulturalistische Sichtweise auf das Thema Transformation in ostdeutschen Unternehmen. Er untersuchte die Entwicklung des innerbetrieblichen Wertesystems des Papierfamilienunternehmens „Kübler & Niethammer“ im sächsischen Kriebstein bis 1956, wobei er zu dem Schluss kam, dass die Enteignung und partielle Demontage nach 1945 die Unternehmenskultur zunächst nicht zerstörte. Vielmehr blieben alte Deutungsmuster bestehen, was sich etwa in der Kontinuität der Jubilarehrungen, der Rentnerweihnachtsfeiern oder des Betriebskindergartens zeigte. Weiter war der Firmen- und Markenname „Niethammer“ trotz der Umbenennung in „VEB Papierfabrik Kriebstein“ durch die lange regionale Einbindung präsent, so dass er bei der Neugründung des Unternehmens nach 1989 wieder aufgenommen wurde. Zugleich wurden die traditionellen Überhänge des Unternehmens aber auch mit neuen Deutungen versehen. So gab es bewusste Eingriffe in die mit der Firma verbundenen optischen Zeichensysteme im öffentlichen Raum. Dabei bestanden neue und traditionelle Deutungsinteressen parallel fort: Während einerseits die alten Unternehmensgründer in Schulungen der Arbeiter durch die SED als „raffinierte und hinterhältige kapitalistische Füchse“ abgelehnt wurden, prangerten andererseits die in Westdeutschland lebenden alten Eigner in vor Ort verteilten Publikationen die „Ausraubung und Zerschlagung“ der Firma an und beschworen den Fortbestand einer „festen Schicksalsgemeinschaft“ zwischen Beschäftigten und alten Besitzern in „Zeiten der Not“.

SÖNKE FRIEDREICH (Dresden) stellte in seinem Vortrag Teilergebnisse seiner Habilitationsschrift zur betrieblichen Identität und zur Verquickung von Lebenswelt und Produktion im VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau vor. Die Autoproduktion in Zwickau erlebte eine doppelte Transformation 1945 und 1989: Die Vorgängerbetriebe Audi und Horch wurden 1945 nur teilweise demontiert und die Vorkriegsmodelle von Horch zunächst in der DDR weiterentwickelt und -produziert. Später wurde in Zwickau der Trabant mit einer Kunststoffkarosserie hergestellt, wobei seit den 1980er-Jahren Beziehungen zum Volkswagen-Konzern bestanden, der nach 1989 in Zwickau ein eigenes Werk baute. Friedreich schilderte, dass das betriebliche Klima im VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau bereits in den 1960er-Jahren besonders bei den hochqualifizierten Technikern und Ingenieuren von Frustration geprägt war. Die Modellpalette wurde nicht weiterentwickelt, Innovationen konnten sich nicht durchsetzen, Modernisierungsvorschläge blieben unberücksichtigt. Entsprechend große Hoffnungen verbanden sich mit der Neuausrichtung der Produktion nach 1989, als das Unternehmen zunächst Montageaufträge für den Volkswagen Polo ausführte. Allerdings blieben diese Erwartungen häufig unerfüllt, viele Beschäftigte verloren ihren Arbeitsplatz, die Hoffnung auf eine neue Beschäftigung bei VW wurde nur selten Realität. Dennoch sei die Geschichte der Automobilwerke Zwickau keine Geschichte des Scheiterns, auch wenn sie zum Teil so wahrgenommen würde – auch heute handelt es sich wie in der Vergangenheit um einen funktionierenden Standort, so dass von erfolgreichen Transformation nach 1945 und 1989 zu sprechen sei.

MARVIN BRENDEL (Basel) widmete sich in seinem Vortrag der Geschichte des Lastkraftwagenherstellers VEB Automobilwerke Ludwigsfelde. Dabei betonte er aus transformationsgeschichtlicher Sicht die Kontinuität der Firma Mercedes-Benz als Eigentümer des Unternehmens vor 1945 und nach 1994. Der Systemwechsel 1945, die Enteignung und teilweise Demontage in mehreren Wellen führten zunächst zu einer Phase des Experimentierens mit Plänen für Schiffs- und Flugzeugmotoren sowie Motorrollern. Erst in den 1960er-Jahren begann die erfolgreiche Produktion von Lastkraftwagen, die schnell zu weltweiten Exportschlagern in den sozialistischen Ländern wurden. Trotz der Markteinführung des Nachfolgemodells L60 im Jahr 1987 bestand für die Fahrzeuge nach 1989 jedoch kaum mehr Nachfrage. So erfolgte nach dem Systemwechsel 1989 eine erneute Phase des Experimentierens, wobei Liquiditätsprobleme und der schlagartige Wegfall der osteuropäischen Absatzmärkte die Handlungsmöglichkeiten des Unternehmens stark einschränkten.

Neben der wissenschaftlichen Perspektive stellten aus unternehmerischer Sicht in der Podiumsdiskussion RAINER THIELE, Beiratsvorsitzender der KATHI Rainer Thiele GmbH und DIETMAR MENZEL, Geschäftsführer der REISS Büromöbel GmbH erfolgreiche Fälle der Transformation nach 1989 vor. Dabei betonten sie die Bedeutung von persönlichen Faktoren wie bestehenden Beziehungen und Verhandlungsgeschick sowie von langen Unternehmens- und Produkttraditionen für eine erfolgreiche Transformation nach 1989. Thomas Welskopp betonte, dass der transformationsgeschichtliche Ansatz zeige, dass die DDR-Unternehmen nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen seien. Allerdings seien quantifizierbare Daten zu diesem Thema bislang kaum vorhanden. Auch JOHANN MICHAEL MÖLLER, Hörfunkdirektor des mdr, bestätigte, dass das seit 1989 bestehende Unwissen über die DDR-Betriebe bis heute kaum aufgelöst worden sei.

Die Veranstaltung zeigte, dass der zum Abschluss gegründete Arbeitskreis „Unternehmensgeschichte als Transformationsgeschichte“ in der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V. vor vielfältigen Aufgaben steht. Mit der transformationsgeschichtlichen Unternehmensforschung wurde Neuland betreten, die erforderliche Grundlagenarbeit wird in der Zukunft noch zu leisten sein.

Konferenzübersicht:

Thomas Welskopp (Bielefeld): Einführung in das Thema „Unternehmensgeschichte als Transformationsgeschichte“

Ulrike Schulz (Bielefeld): Die Geschichte der Firma „Simson“, 1935-1993

Kim C. Priemel (Berlin) / Dagmara Jajesniak-Quast (Erfurt): Von Monopol zu Monopol? Die mitteldeutsche Eisen- und Stahlindustrie in der Transformation vom privaten zum Staatskonzern

Swen Steinberg (Dresden): Verlust als Indikator für die Stärke von Kultur? Identifikationsprozesse in der ländlichen Industrie Sachsens am Beispiel des Papierunternehmens Kübler & Niethammer in Kriebstein (1856-1956)

Sönke Friedreich (Dresden): Autos bauen im Sozialismus. Zur Geschichte des VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau (1957-1992)

Marvin Brendel (Basel): Unternehmensgeschichte des VEB Automobilwerke Ludwigsfelde, 1952-1990/94

Podiumsdiskussion: „Umbruch – Aufbruch – Abbruch: Ostdeutsche Unternehmen vor und nach 1989“
Moderation: Johannes Bähr (Frankfurt am Main)

Podium: Johann Michael Möller, Hörfunkdirektor des mdr, Rainer Thiele, Beiratsvorsitzender der KATHI Rainer Thiele GmbH, Prof. Dr. Thomas Welskopp, Universität Bielefeld, Dipl.-Ing. Dietmar Menzel, Geschäftsführer der REISS Büromöbel GmbH


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