„Fakta, und kein moralisches Geschwätz“. Die Fallgeschichten im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783-1793)

„Fakta, und kein moralisches Geschwätz“. Die Fallgeschichten im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783-1793)

Organisatoren
Institut für Germanistik, Universität Potsdam; Karl Philipp Moritz-Arbeitsstelle bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.01.2010 - 30.01.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Christoph Johannes Wagenseil, Universität Marburg

Zu einer interdisziplinären Tagung über „Die Fallgeschichten im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793)“ luden am 29. und 30. Januar 2010 das Institut für Germanistik der Universität Potsdam und die Karl Philipp Moritz-Arbeitsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ein. Unter der Devise "Fakta, und kein moralisches Geschwätz", forderte Karl Philipp Moritz "Gelehrte und Ungelehrte" auf, Vorfälle des Seelenlebens unter eigenem Namen oder anonym, doch wahrheitsgetreu zu schildern und dem von ihm herausgegebenen "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" (MzE), der ersten psychologischen Zeitschrift Deutschlands, zuzustellen. Diese Fallgeschichten waren der Gegenstand von elf Tagungsbeiträgen, welche zugleich unterschiedliche Herangehensweisen verschiedener Fachdisziplinen und Forschungsfelder verdeutlichten. Zudem wurde eine rege Diskussion angestoßen, die sich an gattungstheoretischen, wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Fragen entzündete.

In seiner autobiographisch rückblickenden Einleitung würdigte STEFAN GOLDMANN (Berlin/Potsdam), der Initiator der Tagung, den Reprint und die Erschließung des MzE (1978/79) durch Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni als Pionierleistung und führte das anhaltende kulturwissenschaftliche Interesse an der „Fallgeschichte“ auf Michel Foucaults ebenfalls in den 1970er-Jahren erschienenen Studien zur Geburt des Gefängnisses und der Klinik zurück. NICOLAS PETHES (Bochum) eröffnete die Konferenz mit der Darlegung seines Konzeptes der „Fallgeschichte als Schreibweise der Literatur um 1800“. Fallgeschichten sind biographisch strukturiert, mit dramaturgischen Wendepunkten versehen, welche „Symptome“ der Abweichung eines Charakters sichtbar machen, zugleich aber etwas potentiell Generalisierbares begründen. Der Fall als Text zwischen den Kulturen des Wissens und der Poesie entwickele eine spezifische propädeutische Funktion als „Empirie einer künftigen Wissenschaft“. Pethes exemplifizierte dies an Hand einer neuen Lektüre von Lessings „Abhandlung über die Fabel“ (1759) und Friedrich von Blanckenburgs „Versuch über den Roman“ (1774).

Die crisis und der casus stehen neben den literarischen Formen der Krankengeschichte und der Novelle im Mittelpunkt des Ansatzes von STEFAN GOLDMANN (Berlin/Potsdam). Unter Rückgriff auf Thomas Sydenhams „Observationes medicae“ (1676) erläuterte er das Konzept der historia morbi, den topischen Fragenkatalog, den das Krankenexamen ebenso leitete wie die Niederschrift der Krankengeschichte. Dieser vielfach tradierte medizinische Fragenkatalog diente weit in das 19. Jahrhundert hinein auch Laien zur Strukturierung der Erzählung ihrer eigenen Krankheitsgeschichte. Während Salomon Maimon, der letzte Herausgeber des Magazins, den Begriff casus tatsächlich einmal verwendet (MzE X,2 mit Blick auf Johann Joachim Spalding), sei ansonsten nur von "Fall" oder „Zufällen“ gesprochen worden. Dem Ausdruck „Fallgeschichte“ hingegen begegne man weder im 18. Jahrhundert noch im 19. Jahrhundert und schon gar nicht bei Sigmund Freud. Erst in den 1950er-Jahren ist er, von Gelegenheitsbildungen abgesehen, nachweisbar und setzte sich zunehmend durch. Der casus aber verweise zugleich auf die Traditionen der Novellistik, welche, wie die casi d'amore des "Decameron" Giovanni Boccaccios zeigen, zur Serialität neigen und eine besondere Form der narrativen Ausgestaltung einer crisis ausprägen.

ROBERT LEVENTHAL (Williamsburg) behandelte "die Fallgeschichte zwischen Ästhetik und Therapeutik". Entsprechend der von Alexander Gottlieb Baumgarten, Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff entworfenen Vermögenspsychologie verbinden sich in den Fallgeschichten ähnliche Diskursstrategien über die "dunklen Vorstellungen" (petites perceptions), wie sie sich sowohl in Träumen, Ahnungen und Somnambulismus als auch in den Werken der Poesie zeigen. Die dem MzE auf den Titelblättern vorangestellte Aufforderung des Gnothi Sauton, der Selbsterkenntnis, erhalte so ein transformatives Potential zur Selbstüberwindung bzw. Sorge um sich selbst. In der Diskussion wurde auf Kants Kritik eines erkenntnisgeleiteten Heilungsoptimismus hingewiesen. Eine auf Kasuistik angewiesene Disziplin wie die Psychologie könne durch die Notwendigkeit der intelligiblen Verdopplung der Ich-Instanz während der reflektierten Selbstbeobachtung sich nie auf ein Kriterium berufen, das Selbstüberwindung und Selbsttäuschung sicher unterscheidet (vgl. auch die entsprechenden Magazin-Beiträge der Stücke VII,3; VIII,3; IX,1).

Den Abschluss des ersten Tages bildete CHRISTOF WINGERTSZAHNs (Berlin) Erörterung der Fallgeschichte als „Denkwürdigkeit“ in topischer Tradition der memorabilia. Er wies zunächst auf ein zweites Zeitschriftenprojekt von Moritz hin, das "Denkwürdigkeiten aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen“ (1786), an dem auch Carl Friedrich Pockels, der zeitweilige Mitherausgeber des MzE, beteiligt war. Den Umstand, dass einige Texte in beiden Periodika abgedruckt wurden, analysierte Wingertszahn am Beispiel der Kleptomanie-Erzählungen, deren Rezeption er bis hin zu dem Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1840-1902) nachwies. Dabei zeigte sich auf eindrucksvolle Weise die faktenorientierte Transformation der Texte, die selbst bereits aus englischen Journalen genommene Adaptionen populärer Erzählstoffe sein konnten.

SEBASTIAN W. STORK (Berlin) stellte am folgenden Tag seine Überlegungen zu theologischen Aspekten der Fallgeschichte vor. Abgesehen von den im MzE abgedruckten pietistischen und quietistischen Selbstzeugnissen gäbe es eigentlich keine explizit pietistische Fallgeschichte. Allerdings scheint der Pietismus-Begriff des Referenten normativ und eng gefasst zu sein, etwa da seine Kategorialisierung mit dem Kriterium verknüpft wurde, das Ich habe in den Fallgeschichten die Position Gottes eingenommen.

Im Gegenzug ging es VOLKER HESS (Berlin) um "das Material einer guten Geschichte“, das in Formularen, Reglements und Registern, wie sie an der Berliner Charité und in Paris in der medizinischen Verwaltung Verwendung fanden, niedergelegt wurde. Der Medizinhistoriker vertrat die These, dass in den überlieferten Krankengeschichten eine medizinische Aneignung verwaltungstechnischer Registratur zum Ausdruck komme. Von den “Observationes“ des Théophile Bonet (1620-1689) bis zu den vorgedruckten Krankenblättern, die 1820 an der Charité eingeführt wurden, den Bogen spannend, wurde die veränderte Modellierung der Erzählung von Krankheiten auf die sich wandelnde Ordnung des Krankenhauses bzw. die "tabulation of illness", wie Geyer-Kordesch diesen Prozess in der Diskussion nannte, zurückgeführt. Kontrovers diskutiert wurde die Möglichkeit des direkten und indirekten Einflusses dieses Wissens auf jene Laien, die im Magazin ihre Krankengeschichten erzählten.

Die im Magazin von Moses Mendelssohn vollzogene Analyse einer Fehlleistung von Johann Joachim Spalding (MzE I,3) war Thema des Vortrags von JOACHIM GESSINGER (Potsdam). Die sich durch alle Bände des Magazins ziehende intensive Debatte über den ursprünglich von Spalding an Johann Georg Sulzer geschickten Bericht einer Aphasie, während welcher Spalding den Satz „fünfzig Thaler durch Heiligung des Bra=“ aufgeschrieben hatte, wurde nachgezeichnet und Mendelssohns psychophysischer Erklärungsversuch als die Geburtsstunde einer neuen Organologie begriffen. Durch die Konzeptualisierung der Wahrnehmung als physische Bewegung habe Mendelssohn der Erforschung des Gehirns den Weg gewiesen.

Der Beitrag von JOHANNA GEYER-KORDESCH (Glasgow) „Spiritual Narratives and the Impossible Imperative: Know Thyself“ bewegte sich im Rahmen der bekannten These, dass die im MzE gesammelten autobiographischen Schilderungen einer säkularisierten Praxis pietistischer Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung entstammen. Vergleichend wurden Adam Bernds “Lebensbeschreibung“ (1738) und Johann Caspar Lavaters “Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner selbst“ (1771) und die „Unveränderten Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst“ (1773) herangezogen. Texte beider Autoren wurden im Magazin in Auszügen abgedruckt. Die zeitgenössische Debatte über die Pathologie der Schwärmerei konfrontierte Geyer-Kordesch mit der therapeutischen Funktion der spiritual narratives innerhalb radikalpietistischer Gruppen. In religionssoziologischer Perspektive sei das MzE ein Kommentar über das Verschwinden heterodoxer Religionsgemeinschaften, welche durch individualisierte Formen der Frömmigkeitspraxis und der Bibelinterpretation abgelöst werden.

Die epistemische Funktion der „Geistergeschichten“ im Magazin behandelte YVONNE WÜBBEN (Hagen/Berlin). Im Mittelpunkt stand die „Gemüthsgeschichte Christian Philipp Schönfelds, eines spanischen Webers in Berlin“ (MzE I,1). Anhand dieser Schatzgräber-Erzählung wurde unter Rückgriff auf die Theorie der „Einfachen Formen“ von André Jolles (1930) die Gattung des „Kasus“ über die Konstituenten Regel und Überschreitung bestimmt. Der Seelenkrankheitsfall von „Wahnwitz“ erhalte dabei seine inhaltliche Füllung durch Übernahme gängiger Topoi der Geisterseher-Literatur (vgl. Georg Friedrich Meiers „Vertheidigung der Gedanken von Gespenstern“ von 1747). In der anschließenden Diskussion wurden alte und moderne Erklärungsmuster wie "Ansteckung", "fixe Idee" und folie à deux sowie kulturelle Hintergründe (Spiritismus, Volksreligiosität) erläuternd herangezogen .

NEIL VICKERS (London) stellte Samuel Taylor Coleridge als „English Romantic Exponent“ von Karl Philipp Moritz vor. Der bedeutende Vermittler deutscher Literatur und Philosophie (Kant, Schelling) in England, kannte das MzE auszugsweise aus englischen Journalen und medizinischen Werken (Thomas Beddoes). Nicht zuletzt aufgrund seines Interesses an den „facts of mind“ scheint er 1808 erstmals eine an den Fallgeschichten des Magazins orientierte moderne Definition von „psychology“ in englischer Sprache verfasst zu haben. Eine persönliche Episode seines Lebens, welche in der Diskussion mit der „Geschichte eines im frühesten Jünglingsalter intendirten Brudermords“ (MzE III,2, S. 58-62 und III,3, S. 61-81) verglichen wurde, schärfte Coleridges Aufmerksamkeit gegenüber Kindheitserinnerungen und prägenden Kindheitserlebnissen, so dass er seine hypochondrischen Krankheitsgefühle nicht mehr somatisch als „rheumatic fever“ oder als Nebenwirkungen seiner Opiumsucht verstand, sondern psychisch als Auswirkungen konfliktuöser Kindheitserfahrungen auffasste. Dieses anhand der Fallgeschichten des Magazins eingeübte psychologische Denken sensibilisierte ihn zudem, aus Shakespeares Dramenwelt das Schicksal einzelner Helden als Fall zu konzipieren.

Den Abschluss bildete der Beitrag von SHEILA DICKSON (Glasgow), welche die internationale Rezeption der Fallgeschichten des MzE, in drei Stränge gegliedert, vorstellte. Gegenüber der bisherigen Forschungsposition, die zum Teil noch der Meinung eines Rezensenten des MzE von 1795 anhängt, die Fallgeschichten seien überwiegend „Ammenmärchen“, die nur den Aberglauben bestärkten, zeigte sie, dass es tatsächlich eine 100-jährige Rezeptionsgeschichte gebe. Ein erster Traditionsstrang versammelte jene Fälle von Aphasie, Delirium und Persönlichkeitsspaltung im Traum, die innerhalb der Fachliteratur als Musterbeispiele immer wieder zitiert wurden (Johann Christian Reil, Ernst von Feuchtersleben, Adolf Kussmaul). Einen zweiten Strang bildete die internationale Rezeption von Alexander Crichtons „An Inquiry into the Nature and Origin of Mental Derangement“ (1798), ein Werk, das unzählige Passagen aus dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde englisch zitierte. Ins Französische übersetzt, wirkte es unter anderem auf Philippe Pinel in Paris. Ein letzter Strang behandelte die Rezeption des Magazins innerhalb der Parapsychologie im engeren Sinn, z. B. bei Johann Karl Passavant (1821) und Maximilian Perty (1861).

Zusammenfassend darf man sagen, dass von dieser Konferenz neue Impulse ausgehen werden sowohl zur interdisziplinären Erforschung des MzE, das den Beginn einer psychiatrischen Journalistik bezeichnet, als auch zur Erarbeitung einer am empirischen Material erprobten Theorie der Fallgeschichte. Die verschiedenen Beiträger konnten zeigen, dass es möglich ist, mit teilweise unterschiedlicher Herangehensweise „Fälle“ aus diesem Periodikum des 18. Jahrhunderts analytisch zu isolieren. Dieses Verfahren wird sich nur begrenzt auf andere entsprechende Magazinprojekte der Zeit übertragen lassen, vielleicht wird es auch nicht allen Textsorten im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ gerecht und wiederholt seine Verwendung als Steinbruch der Ärzte, wie es Sheila Dicksons Vortrag für die Rezeption des MzE verdeutlichte. Zugleich bleibt diese Perspektive nahe an der vom Herausgeber Moritz bestimmten Aufgabe seiner Zeitschrift. Dennoch scheint die „Fallgeschichte“ als methodischer Versuch, erneut „Fakta“ und „moralisches Geschwätz“ zu trennen, diese Aufgabe zu vorschnell zugunsten moderner Klassifikationen zu entscheiden. Die besondere Rolle des Magazins liegt gerade in der Offenheit, vor der Institutionalisierung von Psychologie und Psychiatrie ein neues Feld der Forschung zu betreten: „Was für ein Feld ist es, wohin sich meine unsichern Schritte wagen; welche unbetretne Pfade, welche Dunkelheit, welch ein Labyrinth! Wie leicht kann hier ein falscher Tritt, den Suchenden irre führen, daß er sein ganzes Leben hindurch nach einem Blendwerke hascht, und nie den milden Strahl der Wahrheit findet, welcher nur den beglückt, der an der Hand der Vernunft geleitet, gleichfern von Enthusiasmus und Kälte, den Weg der ruhigen Weisheit wandelt“ (MzE, I, 1, S. 1).

Konferenzübersicht:

Nicolas Pethes: Die Fallgeschichte als epistemische Schreibweise der Literatur um 1800

Stefan Goldmann: Casus – Krankengeschichte – Novelle

Robert Leventhal: Die Fallgeschichte zwischen Ästhetik und Therapeutik

Christof Wingertszahn: Die Fallgeschichte als ‚Denkwürdigkeit’

Sebastian W. Stork: Theologische Aspekte der Fallgeschichte

Volker Hess: Das Material einer guten Geschichte: Formulare, Reglements und Register

Peter Sindlinger: „Individuelle Erfahrungen von einzelnen Subjecten aufsuchen“ – Die Fallgeschichten von Immanuel David Mauchart aus Tübingen [ausgefallen]

Joachim Gessinger: Moses Mendelssohns Analyse einer Fehlleistung Spaldings

Johanna Geyer-Kordesch: Spriritual Narratives and the Impossible Imperative: Know Thyself

Yvonne Wübben: Nosologie und Narration. Zur epistemischen Funktion der ‚Geistergeschichten’ in K. Ph. Moritz’ „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“

Neil Vickers: Karl Philipp Moritz’s English Romantic Exponent Samuel Taylor Coleridge

Sheila Dickson: Die internationale Rezeption der Fallgeschichten des „Magazins zur Erfahrungsseelenkunde“