Autonomie und Menschenwürde. Origenes in der Philosophie der Neuzeit

Autonomie und Menschenwürde. Origenes in der Philosophie der Neuzeit

Organisatoren
Christian Hengstermann / Alfons Fürst, Katholisch-Theologische Fakultät, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.02.2010 - 11.02.2010
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Von
Ulrike Weichert, Exzellenzcluster Religion und Politik, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Der griechische Kirchenvater Origenes aus Alexandria (185-254) ist in der abendländischen Geistesgeschichte der Philosophie und Theologie eine bekannte Größe, obwohl viele seiner Schriften meist subkutan und indirekt über Sekundärquellen rezipiert wurden. Grund dafür sind vornehmlich rezeptionsgeschichtlich bedingte Missverständnisse und Streitigkeiten sowie die daraus resultierende offizielle kirchliche Verketzerung und Vernichtung des größten Teils seiner Werke im 4. Jahrhundert. So blieben trotz literarischer Produktivität viele seiner revolutionären theologischen und philosophischen Aspekte und deren Einflüsse auf die Geistesgeschichte weitestgehend unerforscht. Dabei finden gerade origeneische Gedanken wie sein Menschen- und Gottesbild, die Gestaltbarkeit des Daseins sowie seine Trinitäts- und Heilslehre Anschluss an gegenwärtige Debatten. Die Tagung „Autonomie und Menschenwürde. Origenes in der Philosophie der Neuzeit“ befasste sich vor allem mit dem Philosophen Origenes und begab sich auf rezeptionsgeschichtliche Spurensuche nach Einflüssen seines systematischen Freiheitsdenkens in den Epochen des europäischen Humanismus, des englischen Platonismus sowie der klassischen deutschen Philosophie. Die Tagung ermöglichte es, dem „so unsichtbar allgegenwärtigen“ (von Balthasar) Denker Origenes mit seinen Gedanken zur menschlichen Autonomie und Würde einen Platz als zentrale Gestalt in der Philosophiegeschichte einzuräumen.

Die international und interdisziplinär ausgerichtete Tagung war ein Gemeinschaftsprojekt der „Forschungsstelle Origenes“ sowie dem Projekt der Arbeitsgruppe „Kantische Normativität“ des Exzellenzclusters Religion und Politik.

Mit einem Abendvortrag zum Thema „Freiheit und Würde des Menschen – Origenes und seine Bedeutung für die Philosophie der Neuzeit“ eröffnete EBERHARD SCHOCKENHOFF (Freiburg) die Tagung. Er zeichnete eine biographische und rezeptionsgeschichtliche Linie der historischen Forschung über Origenes nach sowie seine grundlegenden Ideen zum selbst bestimmten, freien Willen des Menschen und seine Rolle im Kosmos. Origenes’ Menschenbild zeichne sich durch eine Mittelposition zwischen dem sterblichen Tier und dem unsterblichen Göttlichen aus. Der Mensch als „Former und Bildner seiner selbst“ (Pico della Mirandola) könne in diesem Spektrum seinen Rang selbst bestimmen und hat daher eine ontologisch offene unbestimmte Wesensstruktur, weswegen Schockenhoff einen Vergleich mit der gleichermaßen radikalen Freiheitsphilosophie Sartres wagte. Sein Wesen sei dem Menschen nicht von Gott vor-, sondern aufgegeben, weswegen der Vortragende ausführlich auf Origenes’ Auslegung der Töpfer-Metapher im Röm. 9 und 2. Tim. einging. Gott forme die Menschen nicht willkürlich, sondern entsprechend vorangehenden Ursachen durch Selbstbestimmung in früherer Lebenszeit, die von Gott berücksichtigt werden. Im Gegensatz zu Paulus entwerfe der Mensch sein Schicksal jedoch selbst und sei dementsprechend zugleich Tonmaterial als auch Töpfer. Während der Mensch im modernen Existenzialismus radikal „zur Freiheit verdammt“ sei, strebe der vorgezeichnete geschichtliche Verlauf einen finalen Weltzustand der Allversöhnung (apokatastasis) an, in der sich die Guten wie auch die Bösen mit Gott vereinigen. Das Böse könne demnach überwunden werden und der Mensch sich selbst bereits im Diesseits zum Göttlichen durch seine Vernunft vervollkommnen. Schockenhoff ging besonders auf die entgegen gerichtete Ansicht Augustinus’ ein, der dem von Gott prädestinierten Menschen kein Entkommen aus dem vorherbestimmten Schicksal der Hölle zuschrieb. Die Hölle bei Origenes sei vielmehr durch ein Selbstgericht der einzelnen Gewissen charakterisiert, auf das der eigenverantwortliche Mensch hoffend und zitternd zugleich blicken könne. Die Freiheit des Menschen liege zwar in dem normativen Rahmen der Gottesebenbildlichkeit vorgegeben, doch entscheide der Mensch frei und eigenverantwortlich, sich diesem immer mehr anzugleichen. Schockenhoff hob dadurch Origenes’ Bedeutung als Weichensteller für das moderne christliche Freiheitsdenken hervor, dem die Kirche an Stelle von Augustinus hätte folgen sollen.

THEO KOBUSCH (Bonn) zeichnete in seinem Vortrag Origenes’ Freiheitslehre und deren Rezeption nach. Den antiken, vor allem manichäischen Theoretikern, die von festen, naturgegebenen Prinzipien und Naturen ausgingen, stelle Origenes ein revolutionäres Konzept des individuellen freien Willens entgegen. Dem Mensch liege keine wesenhafte Schlechtigkeit zugrunde, sondern er erschaffe und bestimme sich freiheitlich selbst durch seinen Willen. Erst durch diesen Primat des Willens sei auch das Moralische denkbar. Sünde gelte dabei als Verfehlung des Willens. Die Freiheit und Würde des Menschen habe dabei zugleich verlierbare und unverlierbare Elemente, wofür Kobusch einen Vergleich mit Artikel 1 des Grundgesetzes heranzog. Alle Menschen seien gleich in ihrer Vernunftnatur nach dem Ebenbild Gottes erschaffen, aus der sich die „Würde des Bildes“ (imaginis dignitas) ableite. Die Vollendung der Ähnlichkeit als Gleichwerden mit Gott müsse aus dem freien Willen des Einzelnen erfolgen, das heißt aus seiner Freiheit, die ihn Gott oder dem Tier ähnlich mache. Während die Gleichnishaftigkeit verloren gehen könne und daher schützenswert sei, könne dies die unantastbare Ebenbildlichkeit nicht.

In einer ausführlichen Untersuchung der Rolle des Origenes im neuzeitlichen Christentum untersuchte PETER WALTER (Freiburg) die Auseinandersetzung über die Freiheit des menschlichen Willens zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther. Erasmus verwende in „De libero arbitrio“ ausschließlich Origenes’ bibelexegetische Verteidigung von Argumenten, die eigentlich gegen den freien Willen sprechen würden. Grundlegend war für Walter die Selbstbezeichnung Erasmus‘ als Forscher (inquisitor) und nicht als Dogmatiker bezüglich der Frage nach dem freien Willen. Laut Walter nehme Erasmus eine Mittelposition ein, indem er zwar den freien Willen des Menschen bejahe, diesem jedoch einen minimalen Anteil gegenüber der göttlichen Gnade zuschreibe. Im Gegensatz zu Augustin und Luther habe der freie Wille zwar einen Platz in der göttlichen Gnade, doch falle der menschliche Beitrag bedeutend geringer aus als bei Origenes. In der antwortenden Schrift „De servo arbitrio“ kritisiere Luther Erasmus‘ theologische Kompetenz durch dessen Bezug auf Origenes und warf ihm Skeptizismus vor.

RUDOLF BRANKO HEIN (Münster) verglich den Begriff des Gewissens des Domprobstes und Begründers der St. Pauls School John Colet mit dem von Origenes. Dabei stellte er sowohl Übereinstimmungen als auch Abweichungen fest und wies auf die methodologische Besonderheit im Umgang mit Originaltexten hin. Colet zitiere Origenes zwar öfter als Augustinus, doch sei seine homiletische Mission nicht zu vernachlässigen. Colet habe eine dezidierte inhaltliche Akzentverschiebung vorgenommen, um seine Adressaten wachzurütteln, zu mahnen und sie auf den rechten Weg für das jenseitige Leben vorzubereiten. So stimme zwar der Aspekt der ins Herz geschriebenen göttlichen Gesetzes als sittliches Formalprinzip mit Origenes überein, doch beanspruche die allgemeine Erlösungsbedürftigkeit durch Gnade bei Colet einen viel größeren Raum. Beide hätten einen Begriff eines richtenden Gewissens, doch habe dieses bei Colet nur eine geringe Bedeutung für die Heilsrelevanz aufgrund der Möglichkeit zu irren. Es sei daher vermessen, Colet als Anhänger Origenes’ zu bezeichnen, doch hob Hein die „Brückenfunktion“ hervor, mit der Colet Grundgedanken Origenes’ in die nördlichen Gebiete der Renaissance getragen habe.

Aus der engen Freundschaft zwischen Erasmus und John Colet resultierte eine Verbindung origeneischen Gedankenguts des Humanismus mit dem englischen Reformationsdenken. Dieses beeinflusste auch das Denken der Schule von Cambridge – einem Kreis anglikanischer Theologen und Philosophen im 17. Jahrhundert, die einen noch kaum gewürdigten Beitrag zur Entwicklung des neuzeitlichen Autonomiegedankens geleistet haben. Die deutsche Rezeption der Schule von Cambridge beschränkt sich bisher praktisch auf Assmann und Cassirers Werk von 1932 und eröffnet dadurch ein relevantes Forschungsfeld gerade auf den neuzeitlichen Autonomie-Begriff, für das von dieser Tagung sehr viel zu lernen war. DOUGLAS HEDLEY (Cambridge) skizzierte origeneische Grundgedanken bei den Hauptvertretern der Cambridge Platonists. Er ging dabei auf die – sehr origeneische – Theorie der geistigen Sinnlichkeit (divine sensation) in der Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie von John Smith, die Präexistenzlehre der Seelen bei Henry More sowie die Trinitätslehre Ralph Cudworths ein. Smith eröffne eine dualistische Anthropologie im Wahrnehmungsbereich und betone vornehmlich eine intellektuelle Wahrnehmung (spiritual sensation), die er als eine Art „inneres Auge“ erklärte. Jedem der fünf physischen Sinne entspreche demnach ein intellektueller, göttlicher Sinn, der jedoch nicht als Spekulation, sondern als Wahrnehmungsmöglichkeit, das Göttliche zu erkennen, zu verstehen sei. Die Seelenlehre Mores folge aus der problematischen Fragestellung, wie ein guter, gerechter und liebender Gott Leiden und Ungerechtigkeit zulassen könne. Mit der Seelenwanderungslehre sei es somit nicht Gott, der Böses verursache, sondern der Mensch selbst, der die Folgen aus vorhergehenden Leben zu tragen habe. Cudworth hingegen lehne die für ihn absurde Präexistenz der Seelen ab und beschäftige sich vornehmlich mit dem Problem der Trinität. Mit Origenes halte er eine Unterordnung der Stellung des Sohnes für notwendig, um einer tritheistischen Position zu entgehen, wenn alle drei Naturen Gottes nicht erschaffen und unendlich seien.

Die Editorin vieler Werke der Cambridge Platonists SARAH HUTTON (Aberystwyth) zeichnete die Rezeption von Origenes anhand von Briefen und dem Werk „Principia philosophiae“ (1692) der Philosophin Anne Conway nach. Origenes erfuhr in England von 1658-1662 große Aufmerksamkeit durch den anonym herausgegebenen „Letter of Resolution“ (1661). Dieser sei Conway von ihrem Lehrer More als ein gefährliches, aber lesenswertes Buch empfohlen worden, das heterodoxe Meinungen über die Präexistenz der Seelen und eine Allversöhnung beinhalte. Hutton arbeitete Parallelen zu Origenes in Conways Werk hervor. Diese bezögen sich hauptsächlich auf das Konzept des Bösen als ein freies Abfallen vom Guten und dem Gottesbild eines weisen, guten und gerechten Gottes, der kein grausamer Tyrann sei. Conway konzipiere daraus ein proportionales Bestrafungssystem und lehne die Vorstellung ewiger Höllenstrafen ab. Hutton stellte außerdem Conways Beeinflussung der christlichen Kabbala sowie des Quakerismus heraus. Zwar fänden sich in Conways Werk kaum direkte Referenzen zu Origenes, doch seien die Gedanken des Alexandriners Conway so vertraut gewesen, dass sie die kabbalistische Lehre akzeptieren konnte.

Der dritte Teil der Tagung beschäftigte sich mit der klassischen deutschen Philosophie anhand einer direkten Origenes-Lektüre von Staudenmaier und einer eher entfernten Beeinflussung durch die Christologie und Trinitätslehre von Schelling. Anhand des kaum erforschten Tübinger Theologen Franz Anton Staudenmaier (1800-1856) untersuchte MARGIT WASMAIER-SAILER (Münster) sein Bemühen, ein System christlicher Philosophie zu bilden, ohne sich dabei pantheistischer Grundlagen zu bedienen. Schon sein Lehrer Möhler setzte sich mit Origenes auseinander, so dass Wasmaier-Sailer origeneische Spuren in Staudenmaiers Werk „Die christliche Dogmatik“ (1848) verfolgen konnte. Vor allem ging sie der Leib-Seele-Problematik in Staudenmaiers Kritik an Origenes’ trichotomischer Konzeption nach sowie dem Freiheitsbegriff und der Unterscheidung zwischen Gottebenbildlichkeit und Gottähnlichkeit des Menschen. Wie in Kobuschs Vortrag habe der Mensch den freien Willen, sich in der von Gott gelegten Anlage seiner Ebenbildlichkeit zur Gottähnlichkeit zu vervollkommnen. Staudenmaier übernehme daher das origeneische Konzept von der unverlierbaren Anlage und der Möglichkeit zur freien Wahl, seine Bestimmung zu erreichen. Spezifisch idealistisch sei bei Staudenmaier die Auffassung des Menschen nicht als Organ Gottes, sondern als Selbstzweck sowie das Gute als Ausbildung des Sittengesetzes im Menschen.

Als letzter Redner der Tagung untersuchte KLAUS MÜLLER (Münster) die schwer greifbaren indirekten Spuren und Inspirationsquellen des Origenes in Schellings Lehre. Schelling, so Müller, sei nicht verstehbar ohne christologische Bezüge und Denkformen, die aus christlicher Tradition aufgenommen und von ihm systematisiert wurden. Dabei untersuchte er den Frühidealisten Schelling nicht direkt, sondern las diesen durch Schriften von Jürgen Habermas und Alfred Döblin. Wirkliche Freiheit sei nicht cartesianisch, sondern nur als Einheit denkbar, für die Müller panentheistische Bibelzitate bei Origenes heranzog. Freiheit gehöre notwendig zur Natur, wobei ein alternativer monistischer Naturbegriff als „gefrorener Geist“ notwendig sei und das Mentale so eine unhintergehbare Dimension einnehme.

Die Tagung bezog sich auf die Rezeption des Philosophen Origenes innerhalb der Geistesgeschichte und beleuchtete unterschiedliche Einflüsse in Epochen des Humanismus, englischen Platonismus und frühen und späten deutschen Idealismus und zeichnete deren Verbindungen nach. Dabei wurde vornehmlich das origeneische Konzept der Autonomie in dem Spannungsfeld zwischen menschlicher Freiheit und Gnade untersucht. Dessen Folgen sind direkt an das Konzept einer zweifachen Menschenwürde gekoppelt, die von den meisten Vortragenden als eine von Gott gegebene Anlage in der Ebenbildlichkeit mit der moralischen Möglichkeit zu Vervollkommnung als Gottesgleichheit betrachtet wurde. Der Katholisch-Theologischen Fakultät gelang es dabei, Origenes in der Tagung nicht unter theologischen Aspekten zu untersuchen, sondern sich vornehmlich auf die Rezeption seiner Freiheits-Philosophie zu konzentrieren, um ihm auf diese Weise einen Platz in der Philosophiegeschichte einzuräumen. Für ein zukünftiges Forschungsfeld des Origenismus in der Geistesgeschichte können die von Kobusch und Schockenhoff erwähnten neuzeitlichen existentialistischen Autoren sicherlich von hoher Bedeutung sein. Auch die Rezeption und Wirkung Origenes‘ in der nicht-liberalen Dimension der Gegenaufklärung wie sie beispielsweise von Joseph de Maistre erfolgte, gilt es noch zu erforschen.

Konferenzübersicht:

Eberhard Schockenhoff (Freiburg): Freiheit und die Würde des Menschen – Origenes und seine Bedeutung für die Philosophie der Neuzeit

Theo Kobusch (Bonn): Die origeneische Autonomie-Ethik und ihre systematische Relevanz

Peter Walter (Freiburg): Erasmus‘ Origenismus in der Auseinandersetzung mit Martin Luther

Rudolf Branko Hein (Münster): Der Begriff des Gewissens bei John Colet

Douglas Hedley (Cambridge): Origen and the Cambridge Platonists

Sarah Hutton (Aberystwyth): Anne Conway and the 17th Century Doctrines of the Restitution of All Things

Margit Wasmaier-Sailer (Münster): Pflichtgedanke und Liebesbegriff – Origenes und der Frühidealismus

Klaus Müller (Münster): Schellings Natur- und Freiheitsphilosophie und ihr Verhältnis zu Origenes


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