Vergesellschaftung unter Abwesenden: Räume des clandestinen Untergrunds in der Frühen Neuzeit

Vergesellschaftung unter Abwesenden: Räume des clandestinen Untergrunds in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.12.2009 - 11.12.2009
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Von
Anne-Simone Knöfel / Michael Multhammer, Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt

In Variation des Ansatzes zur Anwesenheitskommunikation in der frühneuzeitlichen Gesellschaft1 widmet sich das Forschungszentrum Gotha mit seinem Graduiertenkolleg „Untergrundforschung 1600-1800“ der Kommunikation unter Abwesenden in intransparenten und nicht öffentlichen Räumen. Die vielfältigen Gruppen des Untergrundes, die ihre wahre Identität oder Intention zu verbergen suchten, reichen von Geheimbünden und Freidenkern jeglicher Couleur über Hochstapler und Spione bis hin zu Alchemisten und Räubern. Die dazu durchgeführte Tagung stellte die Frage, wie Vergesellschaftung innerhalb und auch zwischen den Gruppen funktionierte und welche Strategien zur Bewahrung der doppelten Identität entwickelt wurden. Im engeren Fokus standen dabei verschiedene Konzepte von Räumlichkeit. Diese sollten – so die Vorgabe des Veranstalters – mit sozialen Aspekten und der Problematik der Verschriftlichung und Schriftlichkeit im Untergrund in Zusammenhang gebracht werden.

MARTIN MULSOW (Erfurt/Gotha) eröffnete die Tagung mit einem Bericht über den antitrinitarisch gesinnten Prediger Adam Neuser (1530-76) und seine Kontakte zu Glaubensgenossen aus Siebenbürgen und dem Osmanischen Reich. Ein abgefangener Brief an den türkischen Sultan, der Neuser um ein Haar den Kopf gekostet hätte – bislang nur in einer deutschen Übersetzung aus dem Lateinischen in den Prozessakten bekannt und bereits von Lessing in seiner Authentizität angezweifelt2 – tauchte jetzt in der Forschungsbibliothek Gotha im lateinischen Original auf. In diesem Falle müsse Geschichte umgeschrieben werden. Die verschiedenen gescheiterten Fluchten Neusers und eine gelungene Vergesellschaftung der Exilanten in London sowie die Tätigkeit seines Sohnes als österreichischer Doppelspion boten den Spannungsbogen zwischen Hoffnungsräumen – Fluchträumen – Exilräumen.

Die Vergesellschaftung unter Pietisten stellte DANIEL EIßNER (Halle) vor. Das Verbot des radikalen Pietismus erzwang Clandestinität. Durch eine zunehmend scharfe Kontrolle des Konsistoriums vernetzten sich die Dissidenten und lebten zwischen öffentlicher Verfolgung, Selbstausgrenzung und Elitebildung. Da der pietistische Habitus leicht zu imitieren war und demnach also Trittbrettfahrer auftreten konnten, biete die Unterwanderung des Pietismus der Forschung noch genügend Ansatzpunkte für die Verknüpfung von Kriminalitäts- und Religionsgeschichte.

Über die in den Zwischenräumen zwischen christlicher Majorität und jüdischer Minorität ausgeübte Magie informierte DANIEL JÜTTE (Heidelberg). Nicht in Vernetzung, sondern an zentralen Knotenpunkten, nämlich auf den Marktplätzen für okkulte jüdische Praktiken wurden chemische Experimente durchgeführt, medizinische Geheimnisse und verbotene Bücher gehandelt, Kryptographie betrieben und verschiedene magische Tricks angewandt. Der Referent legte dar, dass die Interaktion strukturiert und organisiert erfolgte, so dass es im Ghetto allseits bekannte Orte für das „shopping“ arkaner Themen gab.

Auf die Hybridität von Öffentlichkeit und Untergrund wies SUSANNE RAU (Erfurt) hin. Sie betonte, dass Geheimnisse nicht völlig im Verborgenen blieben, da jede clandestine Praktik ihren je eigenen Grad an Öffentlichkeit habe. Orte seien mit einer doppelten Identität als öffentliche wie verborgene Räume ausgestattet. Sie machte ihre von den Tagungsmitgliedern diskutierten Thesen deutlich am Beispiel des informellen Marktes in einer Stadt, der für die Konsumenten auffindbar sein und sich demnach institutionalisieren müsse, um funktionieren zu können. Weiterhin stellte sie die organisierte Kriminalität in der frühneuzeitlichen Stadt als Forschungsdesiderat heraus.

Im Anschluss daran widmete PHILIPP HOFFMANN-REHNITZ (Konstanz) seinen Beitrag dem ebenfalls wenig erforschten untergründigen Handwerk. Der Aufenthalt von Störern und Pfuschern in schwer kontrollierbaren semiöffentlichen Räumen griff die kulturelle Ordnung der Zünfte an. Die unvernetzt agierenden Bönhasen bildeten eine informelle Handwerksökonomie heraus, die durch schlechte Qualität und niedrige Preise gekennzeichnet war. Die oftmals auf Dachböden tätigen, ausgestoßenen Handwerker entzogen sich den Kontrollen durch Flucht.

Die im Verborgenen geführten Manipulationen mit Geld standen im Zentrum des Vortrags von WOLFGANG STEGUWEIT (Berlin/Gotha). Zur Maximierung des Gewinns ließ der Herzog von Sachsen-Gotha 1678/79 Münzen mit schlechtem Gehalt prägen. Da auf diesen kein Gütesiegel vertretbar war, entfiel das Münzmeisterzeichen. Personalrechtlich organisierte der Hof den Betrug durch „outsourcing“, indem der Münzmeister zum Münzpächter wurde und während der Auftragsarbeit nicht unter der Gerichtsbarkeit des Obersächsischen Reichskreises stand. Angesichts der Folgen des Wertverlustes und der kaiserlichen Gegenmaßnahmen war der Münzbetrug des Herzogs ein durchaus riskantes, aber lukratives Unternehmen.

Die Risiken der Postbeförderung im Alten Reich wurden am Beispiel der „Geheimen Expedition“ des sächsisch-polnischen Hofes deutlich, deren Organisationsstruktur ANNE-SIMONE KNÖFEL (Gotha) offenlegte. Die vom Grafen Heinrich von Brühl gegen Brandenburg-Preußen eingerichtete Briefinterzeptionsstelle beschäftigte Kopisten, Handschriftenimitatoren und Dechiffreure. Mit Hilfe bestochener Angestellter der preußischen Gesandtschaft gelangte man so ab 1736 in den Besitz politisch wichtiger Informationen. Nachdem dieses typische „cabinet noir“ im Stile Kardinal Richelieus entdeckt war, gelang dem preußischen König die Gegenspionage im sächsischen Briefverkehr, so dass diese Institutionen wohl zu den gängigen Methoden der Arkanpolitik jener Zeit zu zählen sind.

Die Autorität, das Versprechen und die verschiedenen Möglichkeiten, Bindungen herzustellen, definierte ULRIKE KRAMPL (Tours) als drei Elemente öffentlicher Magie. Daneben seien eine kleinräumige Mobilität, Mundpropaganda und die Dynamik von Raum und Zeit prägend für „Zwischenräume“. Von der Attraktivität und Macht des Geheimnisses ließen sich besonders Leichtgläubige beeindrucken, die auch bereit waren dafür tief in die Tasche zu greifen. Eine kommerzielle Seite der Magie sei also nicht zu leugnen. Genau dies aber taten alle Beteiligten, sobald der geheime „magische Handel“ polizeibekannt wurde. Nur mit einer Neustrukturierung der Polizeiorganisation ausgangs des 18. Jahrhunderts war den Betrügern überhaupt beizukommen.

ANDREAS PIETSCH (Münster) stellte in der Sektion zu den Geheimbünden Henrik Niklas und David Juris als Prediger der Familisten vor, die ihren alternativen Kirchenentwurf anonym drucken ließen und sich später 1582 bzw. 1599 auf dem Index der katholischen Kirche wiederfanden. Hinter ihrer orthodoxen Fassade bildeten sie eine innere Separation aus, die sie zur Flucht und zur Pilgerreise trieb.

Die Logen der Freimaurer als lokale Sozialisationsorte, ihre imaginäre Verwandtschaft untereinander und das geteilte Geheimwissen sind nur drei der Merkmale, die ANDREAS ÖNNERFORS (Sheffield) heranzog, um den Geheimbund als Netzwerk zu definieren. Dem „raffinierten Aufbau“ der Logen könne man in zehntausenden von Briefen nachspüren, die durch Kontinentaleuropa verschickt wurden. Dabei erschufen die Freimaurer eine Einteilung Europas als Raum mit einer imaginären Struktur, der eine Mobilität zwischen den so konstituierten Knotenpunkten ermöglichte.

HERMANN SCHÜTTLER (Gotha) richtete seine Ausführungen auf das Ziel des Illuminatenordens, eine gelehrte Akademie mit eigenem Bildungssystem in einem abgeschotteten Raum zu errichten. Die Schule war hierarchisch gegliedert und sah eine strenge Beobachtung der Schüler vor. Da die heimlich geführten Berichte nach einem Schema erfolgten, dienten sie zum Aufbau einer Personaldatei, aus der heraus über Beförderungen entschieden wurde. Dieses Zwangssystem stand dezidiert im Gegensatz zur Aufklärungsidee und führte zu einer Vergesellschaftung der Abwesenden innerhalb der Berichte.

Den Anteil des Untergrundes am gesellschaftlichen Diskurs hob ULMAN WEIß (Erfurt) hervor. Da diese Gesinnungsgemeinschaften auf die Gesellschaft einwirken wollten, entwickelten sie Verbreitungsmethoden, die eine Kontrolle der Vervielfältigung bald nicht mehr zuließen. So seien „Teilöffentlichkeiten“ entstanden, die sich Geltung verschafften und den „gemeinen Untergrund“ als Resonanzboden clandestiner Praktiken etablierten.

In den Reisen des Kantianers Johann Benjamin Erhard brachte GUIDO NASCHERT (Gotha) ein Beispiel politischer Radikalität in den Blick. Um die verschiedenen, einander unbekannten jakobinisch-kantianischen Zirkel der Revolutionszeit zusammenzubringen, bereiste Erhard Orte demokratischer Gesinnung in ganz Europa, geriet mehrfach unter Spionageverdacht, kam in Kontakt zu Vorbereitern eines Staatsstreichs sowie Spionen. In Nürnberg pflegte er zeitweise eine Mehrfachexistenz als Arzt, Philosoph und französischer Agent und bewegte sich dabei mit großer Selbstverständlichkeit in den Räumen des politischen Untergrundes.

Ein Abenteuer anderer Art spinnt sich um eine anonyme äußerst kritische Rezension von Christian Gottlob Heynes „Ilias“ in der „Allgemeinen Literaturzeitung“, über die RENÉ STERNKE (Berlin) berichtete. Im Kontext eines wissenschaftlichen Diskurses an der Universität Jena duellierten sich die klassischen Philologen auf öffentlicher Bühne, ohne ihre wahre Identität preiszugeben. Mittels Spionage und Gegenspionage des Wissenschaftssystems agierten beide Seiten und nutzten die Rezension für ihre Zwecke als organisatorischen Rahmen. Die kollektive clandestine Autorschaft (wahrscheinlich von Johann Heinrich Voss und Friedrich August Wolf) sei Bestandteil einer Kabale gewesen, die bestehende soziale Systeme für ihre machtorientierten Zwecke funktionalisierte.

In Anbetracht ihrer Multiperspektivität gelang es der Tagung, den Untergrund in der Unterschiedlichkeit seiner Organisationsweise und der Variationsbreite seiner Ausprägungen genauer auszumessen, ohne indes Vollständigkeit beanspruchen zu können. In den Beiträgen bildete sich ein Gesamtbild von Institutionalisierung einerseits und Flexibilität andererseits heraus, das ergänzt wird durch die Gegensätze von Professionalisierung und Privatengagement, Flucht und Ortsgebundenheit, Stadt und Peripherie oder Arkana und Veröffentlichung. Der frühneuzeitliche „Untergrund“ erwies sich dabei immer wieder als eine Art „Third Space“, der sich eindeutiger Festschreibungen entzieht. Seine Komplexität erfordert einen interdisziplinären Zugriff von der Religions-, Wirtschafts-, Sozial- und Wissenschafts- bis zur Politikgeschichte. Hier deutete die Tagung Möglichkeiten an, um die vielfach angesprochenen Forschungslücken zu schließen. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.

Konferenzübersicht:

Religiöse Dissidenten

Martin Mulsow (Erfurt/Gotha): Fluchträume und Konversionsräume zwischen Heidelberg und Konstantinopel: Der Fall Adam Neuser
Daniel Eißner (Halle): Der Pietismus: eine imagined community im Untergrund?

Handel, Geld, Geheimnis

Daniel Jütte (Heidelberg): Arkana und jüdische Lebenswelt in der Frühen Neuzeit

Susanne Rau (Erfurt): Geheime Praktiken in öffentlichen Räumen? Zu den räumlichen Dimensionen von informellem Handel, Prostitution und verbotener Glaubensausübung in einer frühneuzeitlichen Stadt

Philipp Hoffmann-Rehnitz (Konstanz): Störer-Pfuscher-Clancularii. Figuren urbaner Subökonomien und die Grenzen der Vergesellschaftung in der frühneuzeitlichen Stadt

Wolfgang Steguweit (Berlin/Gotha): Die Gothaer Münzprägung im späten 17. Jahrhundert zwischen Hoheitsrecht, Konspiration und Kriminalität

Spionage

Anne-Simone Knöfel (Gotha): Eine Staatsfabrik für „riskante Post“. Die „Geheime Expedition“ des Grafen Brühl 1736-1750

Magie

Ulrike Krampl (Tours): Öffentliche Magie in einer opaken Stadt. Alltagsgeselligkeit, Schrift und die Zwischenräume des Glaubens im Paris des 18. Jahrhunderts

Geheimbünde

Andreas Pietsch (Münster): Kirche, Druckhaus, Terra pacis: Zur Tropologie eines Paralleluniversums bei den Familisten des 16. Jahrhunderts

Andreas Önnerfors (Sheffield): Geheime Kommunikationsnetzwerke der „Strikten Observanz“ 1754-1782

Hermann Schüttler (Gotha): Geheime Weisheitsschule. Adam Weishaupt und die Pädagogik der Illuminaten

Ulman Weiß (Erfurt): Kommunikation im Untergrund

Politisch-intellektuelle Radikalität

Guido Naschert (Erfurt/Gotha): Netzwerkbildung und Ideenzirkulation. Johann Benjamin Erhards Reisen durch das Europa der französischen Revolution

Akademische Heimlichkeiten

René Sternke (Berlin): Kabale und Kritik. Die Ilias malorum gegen Christian Gottlob Heyne im Mai 1803

Anmerkungen:
1 Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155-224; André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt am Main 1999.
2 Gotthold Ephraim Lessing, Von Adam Neuser, einige authentische Nachrichten (1774).


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