Ästhetisierung des Sozialen in Geschichte und Gegenwart am Beispiel der visuellen Kulturen

Ästhetisierung des Sozialen in Geschichte und Gegenwart am Beispiel der visuellen Kulturen

Organisatoren
Sektion Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.11.2009 - 07.11.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Karolina Kempa, Hannover

Die Jahrestagung der Sektion Kultursoziologie, die dem Thema „Ästhetisierung des Sozialen in Geschichte und Gegenwart am Beispiel der visuellen Kulturen“ gewidmet war, gastierte am 6. und 7. November 2009 im Historischen Museum Hannover. Organisiert wurde sie von Lutz Hieber (Hannover) und Stephan Moebius (Graz). Sie war inhaltlich in sechs Blöcke unterteilt, insgesamt wurden 20 Vorträge gehalten. Zentrale Fragestellung war, wie sich in kulturellen Produkten, Ereignissen, Medienformaten und Kontexten eine Ästhetisierung des Sozialen vollzieht.

Die Tagung begann am 6. November 2009 mit dem ersten Themenblock „Reklame und Avantgarden“. Den Anfang machte KATHARINA SCHERKE (Graz). In ihrem Beitrag über die „Ästhetisierung des Sozialen heute und in der ‚Wiener Moderne‘ um 1900“ stellte sie dar, weshalb die ‚Wiener Moderne‘ als ein frühes Beispiel für Ästhetisierungsformen des Sozialen angesehen werden kann. In den Städten Zentraleuropas, so auch besonders in Wien, fanden um 1900 ein Aufeinanderprallen verschiedener Lebenswelten sowie eine zunehmende Diversifikation von Lebenslagen statt, die unterschiedliche Entwicklungen befördert haben. Das Bewusstsein von der Modellierbarkeit der Wirklichkeit zeigte sich zum Beispiel in der Akzentuierung von (ästhetischen, sozialen) Unterschieden bzw. in einer Hybridisierung kultureller Phänomene. Im Anschluss skizzierte LUTZ HIEBER (Hannover) die „Sozialgeschichte der Werbung“ in einem Bogen seit der frühen Neuzeit bis zur Werbepraxis im hochindustrialisierten England und weiter zum Jugendstilplakat. Er zeigte, dass in der Phase, in der die Ideologie des ‚autonomen Kunstwerks‘ bestimmend war, die Populärkultur verarmte. Ein ästhetischer Eigenwert der Werbung konnte und kann sich nur entfalten, wenn künstlerische Praktiken nicht gegen heteronome Einflüsse abgeschottet sind. In STEPHAN MOEBIUS‘ (Graz) Beitrag zur „Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis am Beispiel surrealistischer Zeitschriften“ wurden anhand von Documents und Acéphale sowie surrealistischer Modefotografien die unterschiedlichen Versuche einer Ästhetisierung und der damit verbundene Wunsch einer Veränderung des Sozialen am Beispiel der surrealistischen Avantgarde analysiert. Die Felder der Wissenschaft, Religion, Politik und Mode sollten mit Hilfe der Zeitschriften und der in ihnen angelegten Neuimplementierungen ästhetischer Erfahrungen eine Überschreitung und Entdifferenzierung der sozialen Felder herbeiführen – und damit letztendlich eine Transformation des Sozialen insgesamt. Anschließend referierte YORK KAUT (Gießen) in seinem Beitrag „Image und visuelle Kultur“, dass Image-Kommunikation, zum Beispiel in Werbung und Werbeanzeigen, als spezifischer Mechanismus der Schematisierung individueller oder kollektiver Identität aufzufassen sei, der gleichsam quer stehe zu bekannten Strukturen sozialer Ungleichheit und sich als eine weitere Form der Vergemeinschaftung bzw. der Regulierung sozialer Inklusion/Exklusion anbiete. Abschließend zeigte DOMINIQUE RUDINs (Basel) Vortrag „Subversive Ästhetik? Videos der Schweizer Protestbewegung um 1980“ auf, inwiefern Musikvideos mithilfe ,subversiver‛, alternativer Ästhetisierungsformen als mediale Gegenöffentlichkeit wirken können, jedoch auch immer in heterotopischer Spannung zum jeweiligen Normensystem von Gesellschaften stehen.

Im zweiten Themenblock „Religion“ wurden zwei Vorträge zum Thema Medialisierung von Religion gehalten. Zunächst zeigte MARC BREUER (Luzern) in seinem Beitrag „Die ‚Mysterienfeier‘ als Medium religiöser Inklusion im Katholizismus“ auf, wie mit den seit den 1920er-Jahren einsetzenden gesellschaftlichen Veränderungen, zum Beispiel Auflösung traditioneller, konfessionell umschriebener Lebenswelten, auch eine Neuorientierung kirchlich-christlicher Riten, Praktiken und Diskurse stattfand. Da sich auch die Anforderungen an religiöse Inklusion verändert hätten, sei die Inszenierung von Religion einer dem Zeitgeist entsprechenden Form angepasst worden, die hauptsächlich vom katholisch-intellektuellem Bürgertum vollzogen wurde. KATHRIN NIEDERs (Münster) Beitrag „Praktiken medialer Ästhetisierung: Katholizismus im Entertainmentformat“ zeigte auf, wie Fernsehinszenierungen religiös-christlicher Thematiken christliche Religion in verschiedener Weise zu sichtbaren normativen Referenzpunkten konstruieren, die auf den Ebenen der Produktion, Inszenierung und Rezeption christlicher Inhalte eine soziale Ästhetisierung erfuhren.

Der dritte Themenblock „Kunst“ war mit insgesamt sechs Vorträgen der umfangreichste und thematisch stark differenziert. So referierte DOMINIK FUGGER (Erfurt) über „‘Genre‘ als Ästhetisierung des Sozialen“. Im ‚Genre‘ des niederländischen Goldenen Zeitalters zeige sich nicht die Darstellung des Alltags, sondern eine Ästhetisierung des Sozialen dieser Zeit. Obwohl für die niederländische Genremalerei dieser Zeit ein hoher Realismusanspruch behauptet wird, könnten immer wieder bestimmte stereotypische Darstellungsweisen klar definierter sozialer Situationen vorgefunden werden, die Ausdruck des damaligen kulturellen Wertegefühls seien. LILIAN LANDES’ (München) Beitrag „Ästhetisierung des Sozialen im deutschen Vormärz: Carl Wilhelm Hübners sozialthematische Genremalerei“ knüpfte thematisch an die Genremalerei und ihre Darstellung sozialer Ästhetisierung an. Es wurde aufgezeigt, wie der Maler C.H. Hübner in den 1840er-Jahren eine Zäsur im bis dato vom Geniegedanken geprägten Kunstlandschaft geschaffen habe: mit der Thematisierung des Sozialen, insbesondere der sozialen Unterschicht und ihrer Alltagswirklichkeit im Gemälde. Diese scheinbar sozialkritische Genremalerei sei jedoch vielmehr als eine dem damaligen neohumanistischem Zeitgeist entsprechende Ästhetisierung des Sozialen zu verstehen. Im Beitrag „Zur Denkmalkultur am Beispiel des Weimarer Doppelstandbilds“ zeichnete MARIA ZENS (Bonn) am Beispiel des Weimarer Doppelstandbildes Goethe-Schiller die Ästhetisierung des Sozialen im Sinne von ,symbolischer Vergesellschaftung‛ nach. Da sich das Bürgertum über kulturelles Kapital definierte, sei das Doppelstandbild als Versinnbildlichung der eigenen ,Klassenüberlegenheit‛ bzw. als Demonstration des bürgerlichen Kulturbesitzes zu begreifen. Alle drei Vorträge machten deutlich, wie in der Kunst bis ins 19. Jahrhundert ein politisches und soziales Verständnis der Lebensverhältnisse und des Alltages durch ästhetische Mittel bestimmt war.

Der zweite Tag begann mit einer Fortsetzung des Themenblocks „Kunst“. Am Beispiel von Quentin Tarantinos Film „Reservoir Dogs“ machte JÖRN AHRENS (Gießen) deutlich, wie die für die Moderne relevante Agenda der Selbstmächtigkeit des Einzelnen über Habitualisierung der Bilder im Film dargestellt und durch karikatureske Überzeichnung parodiert wird. EVELINE BOUWERS (Bielefeld) sprach über „Die ‚symbolische Codierung‘ der Nationalehre im napoleonischen Europa am Beispiel des parlamentarischen Pantheons in London“. Das Pantheon, das zwischen 1793 und 1823 in London errichtet wurde, sei nicht als Denkmal für die ‚Nation‘ anzusehen, sondern als ästhetisiertes Selbstverständnis und den eigenen Interessen unterworfenes Monument, das symbolisch gegen die Verbürgerlichung der Gesellschaft gerichtet sei und somit als ästhetisierter Ausdruck Monarchischen Selbstanspruchs gedeutet werden könne. SOPHIA PRINZ (Konstanz) leitete mit ihrem Vortrag „Büros zwischen Disziplin und Design – postfordistische Ästhetisierung der Arbeitswelt“ in die Gegenwart über. Prinz argumentierte, dass die Ästhetisierung der Arbeitswelt, insbesondere des Arbeitsplatzes in der ‚kreativen Branche‘, eine Entwicklung des Postfordismus repräsentiere. Eine ästhetisierte und individualisierte Umgebung solle Kreativität fördern, zugleich auch eine stärkere affektive Bindung des Individuums zu seiner Arbeit herstellen, wodurch die Grenze zwischen Beruf und Alltag, wie sie noch im Fordismus dominiert habe, verwischt werde.

Im vierten Themenblock „Selbstinszenierung“ wurden zwei Aspekte aktueller Möglichkeiten von Ästhetisierung in Medienformaten diskutiert. ANDREA GLAUSER (Bern) setzte sich vergleichend mit zwei ästhetischen Inszenierungsformen in Portraits auseinander. Sie stellte fest, dass soziale Distinktion über (Selbst-)Portraitierung vor unterschiedlichen Hintergründen markiert werden könne, wobei die Wahl eines bestimmten Sujets in seiner Wirkung sich symbolisch auf die dargestellte Person übertrage. Stehe Graffitimalerei als Akt illegaler und urbaner Kreativität für ‚Weltgewandtheit‘ und ‚kreative Individualität‘, so fungiere abstrakte moderne Malerei als Statussymbol. Visuelle Medien produzierten auf diese Weise Sinnhorizonte, die Portraits und den Portraitierten zu einer bestimmten öffentlichen Wirkungsweise verhülfen. BODO LIPPL (Hannover) beschäftigte sich mit der Sendung „Germany´s next Topmodel – by Heidi Klum“ als Schule ästhetischen Auftretens. Diese ‚Schule‘ vermittle (gesellschaftliche) Ideale ästhetischer Performanz, die in ihren Postulaten als ‚Lernziele‘ symbolisch für eine ‚erfolgreiche‘, das heißt gesellschaftlich vermeintlich erwünschte Selbstoptimierung stünden.

Der fünfte Themenblock „Museum“ konzentrierte sich auf Fragen der Funktionen, Vermittlungsangebote und Wissensproduktionen des Museums als institutionalisiertem Raum. NINA TESSA ZAHNER (Leipzig) untersuchte die Annahme, dass Zeitgenössische Kunst ihrem Wesen nach nur einem bildungsbürgerliches Publikum zugänglich und erschließbar sei. Vielmehr sollten die Vermittlungsangebote etablierter institutioneller Rahmungen wie dem Museum mit dem Ziel untersucht werden, auf die durch sie erzeugten Exklusionsverhältnisse aufmerksam zu machen. RALF RUMMEL-SUHRCKE (Ottersberg) referierte über die „Vermittlung von Design“ als einem notwendigen Aufgabengebiet von Museen. Design bedürfe (mittlerweile) einer kulturellen Läuterung und Legitimation. Fragwürdig sei jedoch, inwiefern die Musealisierung von Design im Sinne des tradierten Kultes der Präsentation von Ausstellungsstücken auf Sockeln ihrem Gegenstand gerecht werden könne. ANDREAS URBAN (Historisches Museum Hannover) setzte sich in seinem Beitrag „Zur Medialisierung und Musealisierung der 1968er Gegenkultur“ kritisch mit der Institution Museum auseinander: Politischer Aktivismus im öffentlichen Raum sei ein entscheidender Teil der 68er Kultur gewesen, der unterschiedliche Reaktionsweisen in der Gesellschaft hervorrief. Die Musealisierung solcher Ereignisse führe jedoch zu einer Ästhetisierung der Geschichte, die die Sprengkraft und subversive Energie dieser Gegenkultur nicht wiederzuspiegeln vermöge.

Im letzten Themenblock „Aktuelle Themen/Film“ setzte sich CARSTEN HEINZE (Hamburg) mit „Inszenierungsformen von Jugend- und Musikkulturen am Beispiel des Musikdokumentarfilms“ auseinander. Musikdokumentarfilme über Musikgruppen und -szenen fügten sich zu performativen Rekonstruktionen zusammen, wodurch Musik zu einem universalen Erfahrungskontext (v)erklärt werde, was neue Fragen zu Wahrnehmungsweisen von Medien und Musik aufwerfe. Den Abschluss der Tagung bildeten MICHAEL KAUPPERTs (Hildesheim) mediensoziologische Reflexionen über das Beispiel eines „Dacia Automobil Werbespots“. Kauppert zeichnete analytisch nach, wie mit ästhetischen Strategien und kompositorischen Mitteln ein Angebot zur Deutung der Gesellschafts- und Ideengeschichte transportiert werde.

Insgesamt lässt sich resümieren, dass die Tagung ihren eigenen Anspruch erfüllt hat, Formen der Ästhetisierung des Sozialen in unterschiedlichen Kontexten zu durchleuchten. Die zentralen Fragestellungen betrafen vordergründig die Art und Weise, das ,Wie‛ von Ästhetisierung und deren Konsequenzen im gesellschaftlichen Gefüge. Es wurde deutlich, dass Ästhetisierung des Sozialen kein Randphänomen spezifischer Institutionen, Gruppen, Milieus oder Personen ist, sondern dass sie auf allen Ebenen stattfindet und in ihrer Wirkmächtigkeit politische Relevanzen mit sich bringt sowie gesellschaftliche Sinn- und Symbolgehalte, soziale Ordnungen und Hierarchien sichtbar macht bzw. (re-)produziert.

Konferenzübersicht:

Reklame und Avantgarden:

Katharina Scherke: Ästhetisierung des Sozialen heute und in der „Wiener Moderne“ um 1900 – Zur Auflösung und neuen Verfestigung sozialer Unterschiede

Lutz Hieber: Sozialgeschichte des Werbeplakats

Stephan Moebius: Vom Kopf auf die Füße – Die Aufhebung von Kunst in Lebenspraxis am Beispiel surrealistischer Zeitschriften (Documents, Acéphale)

York Kautt: Image und visuelle Kultur

Dominique Rudin: Subversive Ästhetik? Videos der Schweizer Protestbewegung um 1980

Religion:

Marc Breuer: Die „Mysterienfeier“ als Medium religiöser Inklusion: Veränderungen im Katholizismus angesichts funktionaler Differenzierung

Kathrin Nieder: Praktiken medialer Ästhetisierung: Katholizismus im Entertainmentformat

Kunst:

Dominik Fugger: „Genre“ als Ästhetisierung des Sozialen. Das Niederländische Goldene Zeitalter

Lilian Landes: Ästhetisierung des Sozialen im deutschen Vormärz: Carl Wilhelm Hübners sozialthematische Genremalerei

Maria Zens: Die soziale Aneignung des Ästhetischen . Zur Denkmalkultur am Beispiel des Weimarer Doppelstandbilds

Jörn Ahrens: Subjektstrategien und visuelle Kultur: Das Beispiel Film

Eveline Bouwers: Jenseits der Moderne? Die „symbolische Codierung“ der Nationalehre im napoleonischen Europa am Beispiel des parlamentarischen Pantheons in London

Sophia Prinz: Büros zwischen Disziplin und Design. Postfordistische Ästhetisierung der Arbeitswelt

Selbstinszenierung:

Andrea Glauser: Graffiti versus abstrakte Malerei. Distinktionslogik und soziale Differenzierung im Kontext zeitgenössischer (Selbst-)Portraits

Viola Hofmann: Krisenmanager, Lifestylisten und Familienmenschen – Das Erscheinungsbild von Politikerinnen und Politikern als soziales Bekenntnis

Bodo Lippl: „Germany’s Next Topmodel – by Heidi Klum“ als Schule ästhetischen Auftretens

Museum:

Nina Tessa Zahner: Zeitgenössische Kunst, Alltagswissen und institutionelle Rahmung

Ralf Rummel-Suhrcke: Design-Vermittlung und Design-Repräsentanz im Prozess ästhetischer Transformationen der Gesellschaft

Andreas Urban: Irritation und Konfrontation. Zur Medialisierung und Musealisierung der 1968er Gegenkultur

Aktuelle Themen/Film:

Carsten Heinze: Inszenierungsformen von Jugend- und Musikkulturen am Beispiel des Musikdokumentarfilms

Michael Kauppert: Revolution? Über die Arbeit an der Geschichte durch Werbeästhetik