Prekäre Figuren – Politische Umbrüche

Prekäre Figuren – Politische Umbrüche

Organisatoren
Sonderforschungsbereich 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration“, Universität Konstanz
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.11.2009 - 28.11.2009
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Von
Mareike Clauss, Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie, Universität Konstanz; Angelica Hilsebein, Universität Konstanz; Sandro Liniger, Exzellenzcluster 16, Universität Konstanz; Christian Seebacher, Universität Konstanz

Die Tagung „Prekäre Figuren – Politische Umbrüche“ bildete die offizielle Abschlussveranstaltung des Sonderforschungsbereichs (SFB) 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration“, der zum 1. Januar 2000 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an der Universität Konstanz eingerichtet wurde. In seiner Begrüßung hob der Rektor der Universität Konstanz ULRICH RÜDIGER die besondere Bedeutung des SFB für die Universität Konstanz hervor; so war der SFB eine entscheidende Voraussetzung für die Bewilligung des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ in der ersten Runde der Exzellenzinitiative und damit für den Erfolg der Universität in der dritten Förderlinie. SFB wie Exzellenzcluster haben einen wesentlichen Anteil an der nationalen wie internationalen Ausstrahlung der Konstanzer Geistes- und Sozialwissenschaften beigetragen.

Der Sprecher des SFB 485 RUDOLF SCHLÖGL (Konstanz) skizzierte in seinem einführenden Referat die zentralen Ziele und Forschungsinteressen des SFB. Im Zentrum stand dabei die Frage nach den sozialen und kulturellen Voraussetzungen sozialer Ordnungsbildung und Integration sowie der besonderen Rolle, die Normen und Symbolen hierfür zukommt. Grundlegend für die gemeinsame Arbeit war bei aller methodischen Offenheit eine kommunikationstheoretische Ausrichtung, die die medialen Bedingungen der Erzeugung und Vermittlung sozialen Sinns in den Mittelpunkt stellte. Greifbar werden Prozesse sozialer Sinnstiftung wie auch ihrer Infragestellung und Subversion in Figuren, das heißt in diskursiv aufgeladenen Verkörperungen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei ‚prekären Figuren‘ zu. Sie bezeichnen eine gesellschaftlich prekäre Positionalität zwischen Zugehörigkeit und Ausschluss, für die der Zufall, nicht zuletzt der biographische Zufall, eine besondere Rolle spielt, in der das Kontingente und Fragile sozialer Ordnungen unmittelbar erfahrbar wird und sich entsprechend Ausdruck verschafft. Solchen prekären Figuren kommt in Zeiten des sozialen und politischen Umbruchs, der Revolution und der Krise, die in der letzten Förderphase des SFB einen Themenschwerpunkt der gemeinsamen Arbeit bildeten, eine wichtige Rolle zu. Diesen Zusammenhängen zwischen ‚prekären Figuren‘ und ‚politischen Umbrüchen‘ nachzugehen, war das Ziel dieser Tagung.

Die erste Sektion „Prekäre Figuren – Politische Umbrüche: Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven“ wurde eröffnet mit einem Vortrag von ALBRECHT KOSCHORKE (Konstanz), in dem er der Frage nach der Figur des radikalisierten Akademikers, des Intellektuellen nachging. Dieser Akteurstyp vermöge in Phasen sozialer Spannungslagen und kollektiver Erregungszustände gleichsam die Rolle eines triggers politischer Konflikte zu übernehmen, der die soziale Ordnung gefährdet, nicht zuletzt indem er ihre Unwahrscheinlichkeit sichtbar macht. Jedoch besitze dieser Akteurstyp in ökonomischen oder politischen Krisen aufgrund seines begrenzten Potenzials als dauerhafte Identifikationsfigur nur eine zeitlich eingeschränkte Bedeutung. Eine zentrale Funktion komme ihm demnach in den Formationsphasen sozialer und politischer Umbrüche zu, während seine Relevanz in der Folgezeit und in den Saturationsphasen, in denen sich das gesellschaftliche Krisenbewusstsein abschwächt, abnehme.

Als zweiter Vortragender sprach HEINZ BUDE (Kassel/Hamburg) über die prekäre Figur des Überflüssigen, wie er in der literarischen Figur des Don Quichotte exemplifiziert wird. Der Überflüssige oder die Überflüssigen ließen sich literarisch gleichermaßen als gefährdetes Individuum wie als abgeschriebenes Kollektiv formulieren. Diese ignorierbare dritte Person zeichne sich dadurch aus, dass eine Gesellschaft ihre Fähigkeiten und Erfahrungen (scheinbar) nicht mehr benötige und dass es ihr an Fürsprechern fehle. Diesem Typus mangele es auch im Gegensatz zur Figur des ‚prekären Intellektuellen’, der unter der Erfahrung der eigenen Marginalisierung zum Revolutionstrigger werden könne, an Artikulationsmöglichkeiten, um in Phasen sozialer oder ökonomischer Umbrüche eine tragende Rolle übernehmen zu können.

Während die vorhergehenden Beiträge sich auf bestimmte, eher abstrakte Typenformationen konzentrierten, widmete sich die zweite Sektion „Figuren prekärer Herrschaft und politischer Umbrüche in der Vor- und Frühmoderne“. Den Anfang machte ULRICH GOTTER (Konstanz) mit einem Vortrag, der die prekäre Rolle des Nachfolgers im römischen Prinzipat und dessen Legitimationsstrategien in den Blick nahm. Neben der „Neuerfindung“ des Princeps mittels Differenzsetzung zum Vorgänger konnte auch die Berufung auf Vorvorheriges erfolgreich erscheinen. Dabei gestalteten sich diese Legitimationsbemühungen umso komplizierter, je erfolgreicher der jeweilige Vorgänger gewesen sei. Das Prinzipat brachte insofern eine besonders prekäre Herrschaftsfigur hervor, als die imperiale persona eine Fülle unterschiedlichster Rollen in sich vereinigte.

Anhand des Beispiels des Prager Erzbischofs Johannes von Jenstein diskutierte PAVLINA RYCHTEROVA (Wien) in ihrem Vortrag das Scheitern von religiösem Charisma. Durch die Art der Ausübung und des Verständnisses des Bischofsamtes sei eine charismatische Prädestinierung der Person Johann von Jensteins zur Heiligenpersona ebenso möglich gewesen wie sein letztendliches Scheitern. Prekär erscheine dabei nicht nur die Person und Position des Erzbischofs selbst, sondern auch die Divergenz zwischen zeitgenössischen negativen wie positiven Zuschreibungen und den Interpretationen der Geschichtsschreibung.

Die Sektion wurde abgeschlossen mit einem Vortrag von GÜNTHER LOTTES (Potsdam) über die prekäre Position des französischen Adels nach dem Ausbruch der Französischen Revolution. In dieser Zeit einer historisch einzigartigen gesellschaftlichen Transformation hatte der Adel des Ancien Régime nicht allein seine führende Rolle eingebüßt und hatten die Legitimationsstrategien, auf denen seine Ansprüche als herrschende Klasse basierten, ihre Bedeutung verloren. Ein Großteil des Adels sei durch die politisch erzwungene Emigration in die europäischen Nachbarländer zu einer ortlosen, prekarisierten Gruppe geworden.

MARCUS SANDL (Zürich) beleuchtete in seinem Beitrag, der den zweiten Tagungstag und die Sektion „Prekäre Figuren kultureller Kommunikation in der Frühen Neuzeit“ eröffnete, den Diskurs des Propheten im Zeitalter der Reformation. Er hob hervor, dass sich Figuren nicht über ihre Gestalt oder Ausgestaltung, sondern über ihre Funktion bestimmen ließen. Historische Figuren wie der frühneuzeitliche Prophet seien immer Effekte des Sprechens über Figuren. So näherte sich Sandl dem Propheten von der Prophezeiung her, vom Diskurs des Propheten, also seines Auftauchens, seiner performativen Kraft und seiner gegenwärtigen und zukünftigen Wirklichkeit. Spätmittelalterliche Prophezeiungen eröffneten über zwei grundlegende epistemologische Implikationen, der permanenten Referenzverschiebung und der Verzeitlichung der Erkenntnisbildung, einen Bereich des Dazwischen und des Prekären, in dem es keine Festschreibungen gab, sondern nur noch Vollzugsformen der Veränderung zwischen apokalyptischer Verheißung und Erfüllung. Mit dem Propheten ließe sich eine Figur beschreiben, die eben diesen Zwischenraum von Verheißung und Erfüllung überbrücke und damit verschiedene Ebenen der historischen Wirklichkeit rekursiv aufeinander beziehe. Er werde damit zu einer Figur, über die sich letztlich nicht nur Übergänge zwischen Spätmittelalter und Reformation organisieren ließen, sondern der Übergang selbst, das Dazwischen und Prekäre, eine epochale Signatur bekomme.

Anhand einzelner Konstellationen um 1700 konturierte MARTIN MULSOW (Erfurt) die sozial prekäre Lage radikaler Frühaufklärer und versuchte damit Licht ins weitgehend unerforschte Dunkel des frühaufklärerischen Milieus zu bringen. Gekennzeichnet sei dieses durch pseudonymes Publizieren, Schreiben im Geheimen, drohende Arbeitslosigkeit, Widerrufbarkeit des Wissens und der Existenz, demnach durch mannigfaltige Schwebezustände. Mulsow plädierte für eine Kommunikationsgeschichte des gelehrten Milieus, die die Matrix der kommunikativen Strategien aufzeige und die sich der wechselseitigen Abhängigkeit und vielfältigen Verwobenheit radikaler und moderater Aufklärung annehme. Der Beginn des „Projekts der Moderne“ sei dabei in Konstellationen des Denkens um 1700 und nicht erst um 1800 zu suchen.

Dass sich gerade die Geschichte der Frühen Neuzeit mit einer Vielzahl von Randfiguren und Außenseitern konfrontiert sieht, stellte der Beitrag von GERHILD SCHOLZ-WILLIAMS (St. Louis) deutlich vor Augen. Sie verfolgte anhand der Erzählungen von Eberhard Happel die Figur des Piraten und die Geschichte seiner Abenteuer und Unglücksfälle. Gerade Piraten, so ließe sich formulieren, besetzen in den Erzählungen von Happel zwar die Rolle eines Outsiders, einer prekären Figur, spielten aber gerade in den frühneuzeitlichen Ordnungssystemen eine funktionale Rolle. Sie überbrückten ebenso frühneuzeitliche Differenzierungen, wie in ihnen diese Unterscheidungen erst thematisierbar seien.

Der Beitrag von BENJAMIN BÜHLER (Konstanz) widmete sich dem Erscheinen der Figur der Bevölkerung im 18. Jahrhundert. Den Gouvernementalitätsstudien Michel Foucaults folgend, beschrieb Bühler die Bevölkerung als Kippfigur zwischen den Bereichen des Menschlichen und des Animalischen. Entlang von Bernard Mandevilles Bienenfabel zeichnete er nach, wie die Unterscheidung von Tugend und Laster in dieser Zeit insofern undeutlich wurde, als die Moral zum positiven Wissen von Regierungstechniken wurde. Mit Mandeville, so Bühler, vollziehe sich eine Zieländerung des Regierens selbst, die nicht mehr auf die Unterdrückung von Lastern ziele, sondern auf die gezielte Steuerung und Stimulierung von Begierden und Lüsten. In das Zentrum der politischen Ökonomie trete fortan ein Wissen vom triebhaften und begehrenden Menschen.

Im Mittelpunkt der Nachmittagssektion standen „Prekäre Figuren der Moderne“. Die Sektion wurde von LYDIA H. LIU (Columbia University, New York) eröffnet. In ihrem Vortrag setzte sie sich mit einem besonderen Fall von prekärer Kommunikation auseinander: dem so genannten ‚Barbarian Eye Incident‘ in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Übersetzung des Begriffs ‚yimu‘, mit dem Lord Napier am chinesischen Hof bezeichnet wurde, mit ‚Barbarian Eye‘ habe zu einer britisch-chinesischen Krise geführt, die in einem Vertragswerk schließlich zum Verbot der Nutzung des Begriffs ‚yi‘ gegenüber Briten in offiziellen Dokumenten geführt habe. Liu zeigte auf, dass der Begriff ‚yi‘ schlicht fremd, ‚yimu‘ fremder Herr bedeutete und von Napiers Übersetzer falsch übertragen worden war. Die Empörung der britischen Seite lieferte einen Vorwand für die Opiumkriege, sie sei jedoch in erster Linie als Unsicherheit der Briten in der prekären Kommunikation mit einer unbekannten und daher unbestimmbaren Kultur zu deuten. Folglich verhelfe diese semiotische Überproduktion zu einer Strukturierbarkeit der als prekär begriffenen Umwelt, die allerdings maßgeblich zu der allgemein etablierten britischen Geschichtsdeutung der Chinesen als einer xenophoben Nation beigetragen habe.

SABINE DAMIR-GEILDORF (Marburg) diskutierte am Beispiel religiös-politischer Bewegungen in Palästina verschiedene Typen von Märtyrerfiguren und deren Wandel in den letzten rund dreißig Jahren. Insbesondere ging sie auf die prekäre Situation der palästinensischen Selbstmordattentäter und ihre medialen Repräsentationen ein. Sie verkörperten dabei, so Damir-Geildorf, im Gegensatz zum (älteren) Typus des ohnmächtigen Opfers den aktiv handelnden „Helden“, der sich durch seine Selbst-Opferung in den Dienst des Kollektivs stelle und damit zugleich in paradoxer Weise eine exkludierte wie inkludierte Figur darstelle.

Ging es bisher um prekäre Figuren, arbeitete THOMAS G. KIRSCH (Konstanz) am Beispiel der Semiotik der im öffentlichen Raum Südafrikas omnipräsenten Schilder privater Sicherheitsunternehmen die kommunikativen Ambivalenzen im Umgang mit den verwendeten Zeichencodes heraus. Einerseits werde über solche Schilder kommuniziert, dass der jeweilige private Raum unter dem Schutz besonderer Sicherheitsmaßnahmen stehe, andererseits werde im Akt der Versicherung genau das aufgerufen, was eigentlich negiert bzw. eliminiert werden solle: die Unsicherheit und omnipräsente Gefährdung durch Kriminalität. Durch diese Ambivalenzen werde eine geteilte Subjektposition konstituiert, in der das kommunizierte Sicherheitsversprechen in paradox erscheinender Weise zu prekären Unsicherheitsgefühlen führe.

FRANZISKA SCHÖSSLER (Trier) thematisierte die Prekarität als Sujet in postdramatischen Inszenierungen wie Christoph Schlingensiefs Container-Projekt „Ausländer raus“ und seinem Wahlzirkus „Chance 2000“ sowie Rene Polleschs „Prater-Trilogie“. Während Schlingensief einerseits die Beobachter zu Mittätern und prekären Aktivisten mache und andererseits einer Ästhetik der Entprekarisierung folge, beschäftige sich Pollesch mit dem globalen Kapitalismus aus afrikanischer Perspektive. In einem späteren Stück nehme Pollesch schließlich explizit auf die prekäre Lage der Schauspieler Bezug, wodurch nicht mehr das Prekäre, sondern die Prekarität der Kulturschaffenden selbst in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt werde.

Am Samstag wurden in der fünften und letzten Sektion „Prekäre Situationen und Akteure des Umbruchs“ thematisiert. Den Anfang machte VALENTIN RAUER (Konstanz) mit seiner Interpretation von „9/11 als Enteignis“. Dazu entwarf Rauer eine Systematik von Ereignissen, Nicht-Ereignissen und Enteignissen: Während Ereignisse und Nichtereignisse relativ präzise zu verorten seien, sei dem Enteignis eine unbestimmte Zeitlichkeit inhärent, und seine Räumlichkeit sei flüchtig und offen. Zudem besitzt es nach Rauer eine performativ-responsive Medialität, da die unbegrenzte Wiederholung in den Medien zur Entfremdung vom Geschehenen führe und dem Verlust des Ereignisses gleichkomme. Wie mit einem solcherart prekären Er- bzw. Enteignis öffentlich umgegangen wird, werde anhand von Veranstaltungsabsagen im Umfeld von 9/11 und den Diskussionen in den Medien über deren Für und Wider aufgezeigt.

Im Anschluss daran befasste sich JURIJ MURAŠOV (Konstanz) mit dem Einfluss der Expansion elektrifizierter Medien auf den institutionellen Status und die kommunikative Verbindlichkeit von schriftfundierten Diskursen. Diese Medien der „sekundären Oralität“ entwickelten, so die These, in bestimmten historischen Gesellschaften eine Schubkraft, die prekäre, nicht mehr steuerbare Systemzustände hervorbrachte bzw. katastrophische Dynamiken auslöste. Im Fall der Etablierung der Sowjetkultur unter Lenin und Stalin stand dabei die Radiophonie als prekäres Medium im Zentrum, während im Fall der Erosion Jugoslawiens die expandierende Fernsehkommunikation die Haltung gegenüber Sprache und Politischem so grundlegend wandelte, dass dies den Zerfall des Systems wesentlich bedingte.

Mit der prekären Figur der Mutter zwischen häuslicher Privatheit und politischer Aktion setzte sich KIRSTEN MAHLKE (Konstanz) am Beispiel der „Madres de Plaza de Mayo“ in Argentinien auseinander. Die seit 1977 stattfindenden wöchentlichen Demonstrationen der ‚Madres‘ richteten sich gegen die argentinische Militärjunta und deren Verantwortung für das Verschwinden der als Staatsfeinde diffamierten Kinder der „Madres“. Die An- bzw. Abwesenheit der verschwundenen toten Kinder führe vor Augen, dass der Terror der Militärjunta nicht nur das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit, sondern auch das Recht auf die Bestattung des toten Körpers verletze. Die Mütter machten sich ihre Rolle als Mütter und die Symbolkraft der Plaza de Mayo zunutze und deuteten den Platz zugleich um als den Ort, an dem die Diktatur entlarvt und die Praxis des Verschwindenlassens und Verschweigens öffentlich sichtbar gemacht wurde.

In seinem abschließenden Vortrag beleuchtete THOMAS MERGEL (Berlin) die prekäre Situation der Dissidenten vom Prenzlauer Berg vor und nach 1989. Verstanden sie sich vor der Wende als ein mehr oder weniger apolitisches Milieu, dessen Funktion als externe und distanzierte Beobachter des ‚Systems’ sie zu prekären Figuren mache, büßten sie nach dem Mauerfall ihre vormalige soziale Rolle ein. Ihre Wirksamkeit habe sich nur in der Auseinandersetzung mit dem Staat entfalten können. An diesem Fall wurde noch einmal deutlich, wie solche prekären Figuren durch die Verkörperung beziehungsweise Inkporporierung von Erwartungsstrukturen, die sich aus der Enttäuschung heraus entwickelten, ihre Identität und soziale Relevanz generieren und wie diese durch soziale Transformationen und politische Umbrüche, die sie nicht selten selbst mit hervorgebracht haben, gefährdet sind.

Wie gerade auch die Abschlussdiskussion deutlich machte, war es der Tagung gelungen, mit dem Thema „Prekäre Figuren und politische Umbrüche“ grundlegende Fragen der aktuellen kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung aufzugreifen. Die intensiven Diskussionen über epochale und disziplinäre Grenzen hinweg ließen die Tagung als gelungenen Abschluss des SFB „Norm und Symbol“ erscheinen und zeigten ihn als einen Ort des interdisziplinären Diskurses und eines konzeptionell angeleiteten Forschens, der Kulturwissenschaft als offenes Projekt versteht, das die Grundlagen, Grenzen wie Paradoxien sozialer Ordnungsbildung auslotet und in diesem Sinne ein durchaus prekäres Unterfangen darstellt.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Prekäre Figuren – Politische Umbrüche: Kultur- und Sozialwissenschaftliche Perspektiven
Moderation: BERNHARD GIESEN (Konstanz)

ALBRECHT KOSCHORKE (Konstanz)
Liminalität und Prekariat

HEINZ BUDE (Kassel/Hamburg)
Unten/Draußen/Zurückgelassen. Figuren der Prekarität

Sektion 2: Figuren Prekärer Herrschaft und Politischer Umbrüche in der Vor- und Frühmoderne
Moderation: BERNHARD GIESEN (Konstanz)

ULRICH GOTTER (Konstanz)
Penelopes Gewebe, oder: Die prekäre Rolle des Nachfolgers im römischen Prinzipat

PAVLINA RYCHTEROVA (Wien)
Gescheitertes religiöses Charisma in der Zeit des großen abendländischen Schismas: der Prager Erzbischof Johannes von Jenstein (1350-1400)

GÜNTHER LOTTES (Potsdam)
Emigration aus der Geschichte. Die prekäre Position des französischen Adels in den Jahren 1789-1791

Sektion 3: Prekäre Figuren Kultureller Kommunikation in der Frühen Neuzeit
Moderation: JÜRGEN OSTERHAMMEL (Konstanz)

MARCUS SANDL (Zürich)
Prekäre Zeiten. Der Diskurs des Propheten im Zeitalter der Reformation

MARTIN MULSOW (Erfurth/Gotha)
Das clandestine Prekariat: Handschriftliches Philosophieren, soziale Unsicherheit und die Risiken der Kommunikation

GERHILD SCHOLZ-WILLIAMS (St. Louis)
History Making Fiction: Pirates and Slaves in Seventeenth-Century Novels (Eberhard Werner Happel 1647-1690)

BENJAMIN BÜHLER (Konstanz)
Der Mensch als prekäre Figur und die neue Kunst des Regierens. Bernard Mandevilles Genealogie der Moral

Sektion 4: Prekäre Figuren der Moderne
Moderation: ALEIDA ASSMANN (Konstanz)

LYDIA H. LIU (New York)
The Barbarian in the Other Tongue: China and the Western World in the 19th Century

SABINE DAMIR-GEILDORF (Marburg)
Prekäre Figuren: Revolutionäres Martyrium in Konzeptionen religiös-politischer Bewegungen

THOMAS G. KIRSCH (Konstanz)
Zeichen der Unsicherheit. Zur Semiotik und Pragmatik kriminalitätspräventiver Abschreckung in Südafrika

FRANZISKA SCHÖSSLER (Trier)
Jenseits der Repräsentation: Prekäre Figuren bei Christoph Schlingensief und René Pollosch

Sektion 5: Prekäre Situationen und Akteure des Umbruchs
Moderation: WOLFGANG SEIBEL (Konstanz)

VALENTIN RAUER (Konstanz)
9/11 als „Enteignis“

JURIJ MURASOV (Konstanz)
Prekäre Medien und Akteure des Umbruchs: Lenin, Tudman, Izetbegovic

KIRSTEN MAHLKE (Konstanz)
Das Recht auf die Leiche – Ästhetik und Dynamik des Mütterprotests auf der Plaza de Mayo (Buenos Aires 1976-1983)

THOMAS MERGEL (Berlin)
Zweimal am Rand. Die Dissidenten vom Prenzlauer Berg vor und nach 1989