Erfahrung kultureller Räume im Wandel. Transformationsprozesse in ostdeutschen und osteuropäischen Regionen

Erfahrung kultureller Räume im Wandel. Transformationsprozesse in ostdeutschen und osteuropäischen Regionen

Organisatoren
Sonderforschungsbereich 580 "Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität. Tradition. Strukturbildung" Teilprojekt A 5 / Lehrstuhl für Volkskunde, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Ort
Dornburg (bei Jena)
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.12.2009 - 04.12.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Uta Bretschneider, Hennebergisches Museum Kloster Veßra

Soziologie und Europäische Ethnologie (Volkskunde) verbindet meist eine ‚herzliche Distanz‘ im Hinblick auf theoretische Konzepte und methodische Ansätze. Das Thema „Erfahrung kultureller Räumer im Wandel“ war überaus geeignet, diese Kluft zu überwinden. So kamen im Alten Schloss in Dornburg, hoch über dem Saaletal, etwa 60 Wissenschaftler/innen beider Disziplinen sowie unter anderem Historiker/innen, Linguisten/innen und Kommunikationswissenschaftler/innen zusammen. Die Vorträge der zwei Veranstaltungstage waren in die beiden Sektionen „Transformationsprozesse in ostdeutschen Regionen“ sowie „Transformationsprozesse in osteuropäischen Regionen“ unterteilt und wurden von Anita Bagus (Jena), Tanja Bürgel (Jena) und Christel Köhle-Hezinger (Jena), sowie von Sanna Schondelmayer (Jena) und Silke Satjukow (Jena) moderiert.

MICHAEL HOFMANN (Jena) eröffnete die Veranstaltung mit einer kurzen Vorstellung der Arbeit des SFB 580. Die Mitarbeiter/innen des Teilprojekts A5 „Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im Generationenumbruch. Beteiligungschancen und Deutungssysteme ausgewählter Kultureliten“, das eine Kooperation der Disziplinen Zeitgeschichte und Volkskunde darstellt, richteten die Tagung aus. CHRISTEL KÖHLE-HEZINGER zeigte den volkskundlichen Blickwinkel auf Transformationsprozesse auf. Sie plädierte für eine Verwendung des Traditionsbegriffs im Sinne eines dynamischen Prozesses der Tradierung, der Kulturvermittlung und Bewahrung des Alten unter Einbeziehung von Kritik und Verwandlung durch neue Kontexte. Der Eröffnungsvortrag „Forcierte Säkularität. Das erzwungene Eigene“, den MONIKA WOHLRAB-SAHR (Leipzig) hielt, thematisierte die subjektive Aneignung des mit Zwangsmaßnahmen vorangetriebenen Säkularisierungsprozesses in der DDR. Die Untersuchungsgrundlage bildeten familienbiografische Interviews. Das dem Prozess der forcierten Säkularisation innewohnende Konfliktpotenzial erstrecke sich auf die Bereiche Zugehörigkeit und Loyalität, „Weltdeutung“, Ethik und Moral und sei auch in den Semantiken der Befragten erkennbar. Dennoch mündete das Verordnete vielfach in bis heute sich reproduzierende Selbstverständlichkeit.

JULIANE STÜCKRAD (Eisenach) zeigte in ihrer „Ethnographie des Unmuts“, wie sich Verwaltungsreformen im Elbe-Elster-Kreis auf die Identitätsbildung auswirken und Eingang in die Kommunikationsformen finden. Die Bewohner verlören durch wiederholte Gebietsreformen, die zum Teil gegen Mehrheitsentscheide durchgeführt wurden, ihre emotionale Bindung an die Region. Ein regionales Marketing aber auch die Förderung einer regionalen Identität sei demnach schwierig. Den in diesem Kontext artikulierten Unmut wertete die Referentin als Zeichen dafür, dass „Schimpfen“ in Ostdeutschland nur scheinbar unpolitisch sei. Dass der Vereinigungsprozess nicht nur ein ökonomischer, sondern vor allem auch ein psychologischer Kraftakt war und ist, demonstrierte GÜNTER JEROUSCHEK (Jena) unter dem Titel „Mauern in Köpfen – Balken in den Augen?“ So bestünde nach wie vor ein Gefühl des Fremdseins, das sich in Mentalitätszuschreibungen (Projektionen) wie „besserwisserischer Westdeutscher“ oder „umständliche Ostdeutsche“ manifestiere. Als Ausweg plädierte Jerouschek für einen Einstellungswandel, der das Anderssein nicht leugnet, sondern die Andersartigkeit akzeptiert. Private Erinnerungen an die DDR als „Repräsentation des Einstigen“ waren der Forschungsgegenstand von SABINE KITTEL (Münster). Anhand biografischer Interviews zeigte sie verschiedene Formen des Erinnerns an die DDR auf: von der Strategie, Parallelen zu ziehen zwischen eigener Biografie und DDR-Geschichte („zeitgleich in die Sackgasse geraten“) bis hin zur (partiellen) Verteidigung des Systems. Nicht selten legten sich die Befragten sukzessive ein „Identitäts-Schutzschild“ zu, indem sie die positiven Seiten der DDR betonten, was zur Löschung oder Trivialisierung von negativen Aspekten führen könne. Um „‚Qualifizierung’ als dominanter Stereotypen-Frame der Arbeitslosen-Berichterstattung“ ging es im Beitrag von STEPHAN SIELSCHOTT (Marburg). Er untersuchte ein Sample von 160 Artikeln aus zwei ostdeutschen Regionalzeitungen hinsichtlich der Repräsentation von Arbeitslosen-Stereotypen. Auf dieser Grundlage arbeitete er drei Stereotypen-Frames heraus: „Den hilfsbedürftigen Arbeitslosen“, „Den problematischen Arbeitslosen“ sowie „Den engagierten Arbeitslosen“, denen er Unter-Frames („ohnmächtiger Arbeitsloser“; „arbeitsloser Kinderverwahrloser“; „eingestellter Ex-Arbeitsloser“) zuordnete. BRUNO HILDENBRAND (Jena) präsentierte Forschungsergebnisse zu den „Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen“, die er in Beziehung zu regionalen Besonderheiten bei Jugendhilfemaßnahmen setzte. Hildenbrand stellte die These auf, dass die historische Verteilung von ländlichem Grundbesitz (im 19. Jahrhundert) Mentalitäten generiert habe, die bis heute prägend seien. So werde auf Rügen (ehemalige Gutsherrschaft, heteronomiegeprägt) die Jugendhilfe etwa doppelt so häufig aktiv wie in Saalfeld-Rudolstadt (vormals Mittelbauern, Autonomie vorherrschend). Hinsichtlich der Interventionstypen wies Hildenbrand dagegen auf eine Ost-West-Verteilung hin („Abwarten“ – Ostholstein und Heidenheim; „Rausholen“ – Rügen und Saalfeld). Den Abschluss des ersten Veranstaltungstages – und zugleich einen Ausblick auf die zweite Sektion – bildete der Vortrag KLAUS-JÜRGEN HERMANIKs (Graz). Er stellte „Beispiele aus dem Ethnomanagement der Siebenbürger Sachsen und der Ungarndeutschen“ vor. Die Transformation in Südosteuropa habe zu einer Besinnung auf die eigene ethnische Gruppe geführt und damit zu einer neuen Selbstverortung. Während bei den Ungarndeutschen vor allem die Sprache als ethnischer Marker funktioniere, sei dies bei den Siebenbürger Sachsen die Religion. Im Ethnomanagement beider Minderheiten lasse sich die Strategie nachweisen, am kulturellen Erbe festzuhalten, um Assimilations- und Akkulturationsprozesse abzuwehren.

Die zweite Sektion eröffnete SALTANAT RAKHIMZHANOVA (Gießen) mit einem Blick nach Mittelasien. Sie stellte die „nationale, kulturelle und sprachliche Identität im postsowjetischen Kasachstan“ vor, die seit dem Ende der Sowjetzeit von einer „Renaissance der kasachischen Nationalkultur“ geprägt sei, deren wichtigstes Identitätsmedium die Sprache sei. Eine Vielzahl von Maßnahmen soll das bisher dominante Russische durch das Kasachische in allen Lebensbereichen ablösen – von der Forschung bis zum öffentlichen Leben. Zur Durchsetzung werden beispielsweise gesetzliche Regelungen sowie die Einrichtung einer Wortbildungskommission genutzt: Kasachisch soll bis 2010 alleinige Amtssprache werden. „Die Entwicklung des Parteiensystems in Polen nach 1989“ zeichnete KATARZYNA CHIMIAK (Warschau) nach. Dabei veranschaulichte sie die Hindernisse nach 1990, die durch den Rollenwechsel von Dissidenten zur Parteipolitik entstanden. Disziplin und Hierarchie seien den Akteuren der Solidarnosc fern gewesen; die politische Strahlkraft dieser Bewegung konnte daher nicht auf eine Partei übertragen werden. Die Bedeutung der Solidarnosc schwand seit 1990: Sie hat zwar heute noch Relevanz für jene, die persönliche Bezüge dazu hatten, für den Lehrplan des polnischen Geschichtsunterrichts beispielsweise spielt sie jedoch keine Rolle. STEFAN JAROLIMEK (Berlin) thematisierte „Die Entstehung zweier Journalismuskulturen in Belarus seit 1994“ und damit das kommunikationswissenschaftliche Interesse am Transformationsprozess: Öffentlichkeit und öffentliche Kommunikation. Er erläuterte für Belarus – als Übergangsstaat in zweifacher Hinsicht: zwischen EU und Russland sowie historisch – Orientierungen (staatlich versus unabhängig), Praktiken (strukturelle Zensur) und Artefakte (die Massenmedien betreffende Gesetze) im Journalismus, wobei das Transformationsziel „Vielfalt“ bisher längst nicht erreicht werden konnte. Nach den „Kulturpolitischen Rahmenbedingungen nach dem Systemumbruch in Mittel- und Osteuropa“ fragte MARIA DAVYDCHYK (Ludwigsburg) am Beispiel der Russische Föderation, der Ukraine und Polens. Sie untersuchte anhand von Primärquellen der staatlichen Kulturpolitik die Rolle des Staates als Akteur, den Zweck, die Ziele und die zentralen Elemente der staatlichen Steuerung. Die Politik im Kulturbereich sei dabei der allgemeinen Systemtransformation unterworfen und der Umbruch habe je unterschiedliche Veränderungen der kulturpolitischen Konzepte in den Ländern evoziert. Während in Polen die Kultur erst relativ spät einen Wert zugesprochen bekommen habe, sei sie in der Ukraine von Anfang an Instrument im Prozess der Nationsbildung gewesen und habe in Russland unter besonders starkem staatlichen Einfluss gestanden. Den Abschlussvortrag „Wirtschaftssoziologische Aspekte regionaler Identität“ hielt MICHAEL BEHR (Jena). Er warf die These auf, dass das „Westideal“ in den Köpfen der Ostdeutschen allmählich bröckele und ein neuer Stolz auf die eigene Region wachse, wobei der Arbeit noch immer eine entscheidende Rolle zukäme. Einer der Erfolgsfaktoren ostdeutscher Unternehmen, die Fachkräftebasis befinde sich jedoch auf Grund des demografischen Wandels (der Osten sei „chronisch unterjüngt“) im Wegbrechen. Behr beschrieb drei Szenarien, die als Folge dieser Entwicklung denkbar wären: der „ökonomische Statusverlust“ (Fachkräftemangel – Verlust an Innovation – sinkende Erträge – sinkende Gehälter), „Schrumpfungsrezession“ (Wanderungsverluste) oder „Demografische Chance statt demografische Falle“ (vermehrter Ersatzbedarf).

In der abschließenden Podiumsveranstaltung diskutierten CHRISTEL KÖHLE-HEZINGER, INA MERKEL (Marburg), LUTZ NIETHAMMER (Jena) sowie KAZIMIEREZ WÓYCICKI (Warschau) unter der Moderation von WOLFGANG DAHMEN (Jena) Antworten auf die Frage „Braucht die Transformationsforschung neue Perspektiven?“. Lutz Niethammer verdeutlichte, dass die Transformationsforschung nun in eine neue Phase übergehe, die sich den nicht-intendierten Folgeprozessen der Komplexität des Geschehens widmen müsse. Kazimierz Wóycicki zeigte am Beispiel Polens, dass der Transformationsbegriff nach dem EU-Beitritt 2005, der als Abschluss dieses Prozesses wahrgenommen wurde, in der Forschung kaum mehr eine Rolle spiele. Christel Köhle-Hezinger verdeutlichte erneut das spezifisch volkskundliche Interesse an der Thematik: vor allem die Widerspruchsräume innen – außen (Selbstbild – Fremdperspektive) sowie Subjektivation – Objektivation (Glaube/Wissen – Brauch/Ding). Zweifel an der postulierten Wertfreiheit des Transformationsbegriffs äußerte Ina Merkel und forderte ein Ende der „Besonderung“: eine Ablösung des „Sonderforschungsgebietes Ostdeutschland“ durch das Untersuchungskonzept „Region“. Abschließend warf Kazimierz Wóycicki die Frage auf, ob – auch anhand der Ergebnisse der Tagung – ein „Rezept“ zur erfolgreichen Transformation zu verfassen sei. Eine abschließende Antwort auf diese, wie auch auf andere Fragen im Transformationskontext, konnte naturgemäß nicht gegeben werden. Die Tagung hat dennoch gezeigt, dass es sich durchaus lohnt, das ‚Fremdeln’ mit dem jeweils anderen Fach zu überwinden. Bleibt zu hoffen, dass die instruktive Wirkung des soziologisch-volkskundlichen Zusammenarbeitens in weitere interdisziplinäre Projekte zum Thema Transformation und anderen mündet.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag
Monika Wohlrab-Sahr (Universität Leipzig)
Forcierte Säkularität. Das erzwungene Eigene

Sektion I. Transformationsprozesse in ostdeutschen Regionen

Juliane Stückrad (Eisenach)
Ethnographie des Unmuts

Günter Jerouschek (FSU Jena)
"Mauern in Köpfen - Balken in den Augen?"
Sehen und gesehen werden: Zum deutsch-deutschen Verhältnis
seit der Wiedervereinigung

Sabine Kittel (Universität Münster)
Repräsentation des Einstigen.
Erinnerungen an die DDR im heutigen Deutschland

Stephan Sielschott (Universität Marburg)
Arbeitslos und keine Ahnung – Hier werden sie geholfen!
„Qualifizierung“ als dominanter Frame der Arbeitslosen-Berichterstattung
ostdeutscher Regionalzeitungen

Bruno Hildenbrand (FSU Jena)
Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen und die Jugendhilfe: Ein Ost-West
und ein Nord-Süd-Vergleich

Klaus-Jürgen Hermanik (Universität Graz)
Tradition in der Transformation.
Beispiele aus dem Ethnomanagement der Siebenbürger Sachsen
und der Ungarndeutschen

Sektion II. Transformationsprozesse in osteuropäischen Regionen

Saltanat Rakhimzhanova (Universität Gießen)
Nationale, kulturelle und sprachliche Identität im postsowjetischen Kasachstan

Katarzyna Chimiak (Universität Warschau)
Der Pluralismus nach dem Ende des Kommunismus – die Entwicklung
des Parteiensystems in Polen nach 1989

Stefan Jarolimek (FU Berlin)
Unabhängig versus Staatlich.
Die Entstehung zweier Journalismuskulturen in Belarus seit 1994 in
historisch-kultureller Pfadabhängigkeit

Maria Davydchyk (PH Ludwigsburg)
Kulturpolitische Rahmenbedingungen nach dem Systemumbruch
in Mittel- und Osteuropa

Abschlussvortrag
Michael Behr (FSU Jena)
Wirtschaftssoziologische Aspekte und regionale Identität

Podiumsdiskussion: Transformation – Wohin? Braucht die Transformationsforschung neue Perspektiven?
Wolfgang Dahmen (FSU Jena)
Christel Köhle-Hezinger (FSU Jena)
Ina Merkel (Universität Marburg)
Lutz Niethammer (FSU Jena)
Kazimierz Wóycicki (Warschau)