Membra unius capitis: Neue Studien zu Herrschaftsauffassungen und -praxis in Kurbrandenburg (1640-1688)

Membra unius capitis: Neue Studien zu Herrschaftsauffassungen und -praxis in Kurbrandenburg (1640-1688)

Organisatoren
Dr. Michael Kaiser (Historisches Seminar der Universität zu Köln), Dr. Michael Rohrschneider (Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., Bonn), Komplettförderung durch die Fritz-Thyssen-Stiftung
Ort
Oranienburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.09.2003 - 01.10.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Michael Kaiser, Köln und Michael Rohrschneider, Bonn

Ausgangspunkt der Tagung war in Anlehnung an die neuere Forschung ein Verständnis Kurfürst Friedrich Wilhelms als Herrscher eines frühneuzeitlichen "composite state" (Koenigsberger, Elliott) oder - um die von Franz Bosbach bevorzugte Begrifflichkeit aufzunehmen - als Mehrfachherrscher. Das kurbrandenburgische Territorienkonglomerat, das vom Niederrhein bis nach Königsberg reichte, war in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht, aber auch in den jeweiligen Verwaltungsstrukturen und Rechtstraditionen höchst unterschiedlich strukturiert; die einzelnen "Membra" pflegten ein ausgeprägtes Sonderbewußtsein. Wie sich nun der Kurfürst als Landesherr im Spannungsfeld von regionaler Differenzierung und gesamtstaatlichen Erfordernissen verhielt, war die grundsätzliche Frage dieser Tagung. Dabei wurde der Blick zum einen auf die einzelnen kurbrandenburgischen Territorien gerichtet, zum anderen wurden diejenigen Strukturelemente herausgearbeitet, die im Verlauf der Regierungszeit des Großen Kurfürsten territorienübergreifende Bedeutung im Prozeß der Integration und Staatsbildung Kurbrandenburgs erlangten.

Der Mehrfachherrschaft als Organisationsform frühmoderner Herrschaft widmete sich das Eingangsreferat von Franz Bosbach (Bayreuth). In vergleichender Perspektive konturierte er die frühneuzeitlichen europäischen Mehrfachherrschaften anhand einer Darstellung ihrer vielfältigen Ausformungen, Rahmenbedingungen und spezifischen Belastungen. Mehrfachherrschaften stellten den gängigen Typus der Herrschaftsorganisation in Alteuropa dar, bis er im 18. Jahrhundert infolge der modernen Staatswerdungsprozesse deutlich zurücktrat.

In dem nachfolgenden Referat von Ernst Opgenoorth (Bonn) wurde der Fokus auf das Selbstverständnis des Großen Kurfürsten als Mehrfachherrscher gerichtet. Den Zusammenhang von Mehrfachherrschaft und landesherrlichem Integrationswillen untersuchend, gelangte Opgenoorth zu dem Ergebnis, daß sich Kurfürst Friedrich Wilhelm mit der Vorstellung von den "membra unius capitis" durchaus identifizierte und seine Untertanen letztlich als einheitlichen Personenverband verstand, auch wenn er sich der Mark Brandenburg emotional näher fühlte als seinen übrigen Landen. Über die Person des Kurfürsten hinaus wiesen Überlegungen zu den kurfürstlichen Amtsträgern, die sich ihrerseits als Träger einer übergeordneten Integrationspolitik profilierten.

Frank Göse (Potsdam) verwies in seinen Ausführungen über den Adel und die Städte der Mark Brandenburg in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf die Bedeutung der Teillandschaften innerhalb der Mark und deren differierende Interessen. In dem von ihm skizzierten Spannungsfeld von regionaler Konkurrenz der Teillandschaften einerseits und ständischer Solidarität andererseits dominierte insgesamt gesehen das Moment der Konkurrenz. Gleichwohl konnte Göse für die Landstände in der Mark ein Loyalitätsverhalten gegenüber Kurfürst Friedrich Wilhelm konstatieren, das mit der ständischen Akzeptanz der Hohenzollern als angestammter Herrscherdynastie zusammenhing.

Ursula Löffler (Hannover) referierte über die brandenburgische Herrschaftsübernahme im Erzbistum Magdeburg im Jahr 1680 und ihre Folgen für die Durchsetzung und Ausübung von Herrschaft auf dem Lande. Anhand der dörflichen Amtsträger zeigte sie auf, daß es Kurfürst Friedrich Wilhelm letztlich nicht darum ging, eine neue Mark Brandenburg im Magdeburgischen entstehen zu lassen. Vielmehr blieben lokale Rechte in ihrer Vielfalt nach der Herrschaftsübernahme weitgehend unangetastet; allerdings verstand es der neue Landesherr, die bestehenden Strukturen auf dem Lande gezielt für seine Interessen zu modifizieren und zu nutzen.

Michael Kaiser (Köln) richtete das Augenmerk auf die Verhältnisse in Kleve und Mark. Anhand einer Gegenüberstellung von schneller landesherrlicher Politik und eines tendenziell langsamen ständischen Vorgehens beschrieb er unterschiedliche Politikstile und deren Verwendung in den Verhandlungen Kurfürst Friedrich Wilhelms mit den kleve-märkischen Ständen. Auch wenn sich langfristig gesehen das Konzept des schnellen, zupackenden Herrschers durchgesetzt hat, sei den Ständen eine eigene politische Rationalität zu attestieren, die sie zu einem langsamen Agieren veranlaßte.

Johannes Burkardt (Münster) charakterisierte mit Minden und Ravensberg zwei nordwestfälische Territorien, deren Geschichte während der Herrschaft des Großen Kurfürsten bisher kaum die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden hat. Im Hinblick auf diese beiden jeweils höchst unterschiedlich strukturierten Territorien sei, so Burkardt, für beide festzuhalten, daß die landesherrliche Seite nicht mehr als eine integrative Überformung angestrebt habe. Die Hauptverwaltungstätigkeit wurde weitgehend den lokalen Behörden und deren Sachkompetenz überlassen.

Maria-Elisabeth Brunert (Bonn) stellte in ihrem Referat den Versuch des Mehrfachherrschers Friedrich Wilhelm dar, mit Pommern ein weiteres Territorium dem bereits bestehenden Territorialverband hinzuzufügen. Dazu untersuchte sie das kurbrandenburgische Ringen um Pommern und die Rolle der Reichsstände auf dem Westfälischen Friedenskongreß. Für Friedrich Wilhelm war es gerade auch deswegen schwierig, die eigenen Interessen und Rechtsansprüche in den komplexen Friedensverhandlungen zu wahren, weil insbesondere führende lutherische Reichsstände die Brandenburger in ihren Bemühungen um die Sicherung des pommerischen Erbes kaum unterstützten.

Ständischen Positionen im Herzogtum Preußen widmeten sich die Ausführungen von Esther-Beate Körber (Berlin). Wahrung des alten Rechts, eine größtmögliche Erweiterung der ständischen Handlungsmöglichkeiten und die Erhaltung von Mitbestimmungsrecht waren die zentralen Forderungen der preußischen Stände, wie sie sich insbesondere im Kontext des Streits um den Erwerb der Souveränität im Herzogtum Preußen durch Kurfürst Friedrich Wilhelm artikulierten.

Die Erkenntnismöglichkeiten vergleichender europäischer Untersuchungen demonstrierte Jeroen Duindam (Utrecht) anhand seiner Ausführungen über die Höfe von Wien, Versailles und Berlin. Auf der Grundlage seiner Forschungen über den französischen und den kaiserlichen Hof stellte er weiterführende Fragen - zum Beispiel die nach der Rolle der Ehrenämter als Mittel der Integration der adligen Eliten aus den verschiedenen Territorien -, die es bei der Erforschung des brandenburgischen Hofes zukünftig zu beachten gelte.

Michael Rohrschneider (Bonn) stellte in seinem Referat über die Rolle der Statthalter des Großen Kurfürsten als außenpolitische Akteure Möglichkeiten und Grenzen territorienübergreifenden statthalterlichen Wirkens dar. Anhand des Beispiels Johann Georgs II. von Anhalt-Dessau als Statthalter der Kur und Mark Brandenburg stellte er die große Bedeutung dieser Amtsträger in den außenpolitischen Entscheidungsprozessen heraus und betonte dabei die Rolle der Statthalter als Informationsvermittler. Gleichzeitig blieben die Reichweite und Durchsetzungskraft ihres Handelns letztlich stets vom Willen des Herrschers abhängig.

Die Rolle der Armee im Integrationsprozeß der kurbrandenburgischen Territorien beleuchtete Jürgen Luh (Berlin). Entgegen den Ausführungen der älteren Forschung betonte er, daß die Armee mit Ausnahme des Kriegskommissariats kaum zur Integration der verstreuten Landesteile der kurbrandenburgischen Mehrfachherrschaft beigetragen habe. Die Truppen stärkten zwar Macht und Einfluß des Herrschers, stießen insgesamt aber auf wenig Akzeptanz. Erst unter König Friedrich Wilhelm I. ergaben sich, so Luh, diesbezüglich wesentliche Veränderungen.

Ein Referat von Gerd Heinrich (Berlin) über "das Sterben im Leben des Großen Kurfürsten", in dem mit Blick auf Kurfürst Friedrich Wilhelm die barocke Art und Weise der Wahrnehmung von Tod und Sterben geschildert wurde, sowie eine Führung des Kastellans Jörg Kirschstein durch Schloß Oranienburg rundeten diese Tagung ab, die neue Erkenntnisse über die spezifischen Rahmenbedingungen und Bestimmungsfaktoren der kurbrandenburgischen Mehrfachherrschaft sowie neue Aufschlüsse über das Selbstverständnis Kurfürst Friedrich Wilhelms, seiner Mitarbeiter und der Landstände zutage förderte. Mehr als zehn Jahre nachdem die Summe der Forschung über den Großen Kurfürsten in dem Sammelband "Ein sonderbares Licht in Teutschland"1 vorgestellt wurde, erwies es sich als ausgesprochen fruchtbar, im Kontext des allgemeineuropäischen Forschungsansatzes der "composite states" bzw. Mehrfachherrschaften ein neues Licht auf den Kurfürsten und die kurbrandenburgischen Territorien zu werfen. Eine Drucklegung der Referate ist für das kommende Jahr geplant.

1 Ein sonderbares Licht in Teutschland. Beiträge zur Geschichte des Großen Kurfürsten von Brandenburg (1640 - 1688), hrsg. v. Gerd Heinrich. - Berlin 1990

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