Kampf der Karten. Propaganda- und Geschichtskarten als politische Instrumente und Identitätstexte in Europa seit 1918

Kampf der Karten. Propaganda- und Geschichtskarten als politische Instrumente und Identitätstexte in Europa seit 1918

Organisatoren
Herder-Institut Marburg; Justus-Liebig-Universität Gießen, Historisches Institut
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.05.2009 - 08.05.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Anna Veronika Wendland, Herder-Institut Marburg

Der spatial turn in den Geschichtswissenschaften hat auch die historische Kartographie aus der Nische der so genannten „Hilfswissenschaften“ herausgeholt und sie als bedeutendes Forschungsfeld aus eigenem Recht etabliert. Karten werden heute als kulturelle Texte verstanden, die ihrerseits Ergebnis von sozialen Kommunikationsprozessen sind. Immer hat dabei die Karte als Instrument der Herrschaftsausübung eine bedeutende Rolle gespielt: Karten schreiben – im Wortsinne – Bedeutungen und Besitzansprüche in die dargestellten Räume ein.1 „Die Macht der Karten“2, Karten und Macht – das impliziert einen „Kampf der Karten“ im Falle konkurrierender Herrschafts- und Definitionsansprüche auf Territorien und die sie bewohnenden Menschen. Dazu gehört auch der Zugriff auf Raumorientierung und Raumerinnerung der Individuen: Die Kartographie soll Orientierungswissen über die jeweilige Umgebung bereitstellen, weswegen sie seit Ende des 19. Jahrhunderts auch ihren Platz im Schulunterricht hat. Die durch die Karten hergestellten Wissensordnungen und die durch sie transportierten politischen Botschaften unterlagen wie die Herrschaftsverhältnisse und Diskurse, in denen sie entstanden, einem steten Wandel.

An diesem Punkt setzte die Marburger Tagung in der Auswahl ihrer Quellen und Themen an. Ihr ging es um die Schärfung des Blicks für die gattungsspezifischen Fragestellungen der didaktischen Kartographie, als deren Spezialfälle die Propaganda- und Geschichtskarten des 20. und 21. Jahrhunderts gelten können. Eng damit verbunden waren folglich Themenfelder, die in der Forschung bislang weniger berücksichtigt wurden, so die Frage nach dem Umgang mit Karten in der Geschichtsdidaktik und im Geographieunterricht. Dabei wurde bewusst über den selbstgewählten Titel hinausgedacht: Statt bei der Frage nach der Funktion der Karte in Propaganda und Identitätskonstrukten stehenzubleiben, wurde auch über die medientheoretischen Implikationen des Kartenproduzierens und -lesens diskutiert. Sprachen und Grammatiken kartographischer Texte, die mit jeweils spezifischen Voraussetzungen, Absichten und (erwünschten wie unerwünschten) Effekten eingesetzt wurden, kamen dabei genauso zur Sprache wie performative und multimediale Aspekte didaktischer Kartographie. Von besonderem Interesse für die vergleichende Geschichtswissenschaft war darüber hinaus die umfangreiche Berücksichtigung ostmitteleuropäischer Beispiele.

Grundsätzlich greift die Unterstellung, die Karte „bewirke“ Dinge gemäß der Absicht ihrer Erfinder und Auftraggeber – die Karte also gleichsam als blankgezogene Waffe aus dem Arsenal der Machtpolitik – in der Regel genauso zu kurz wie die veraltete Vorstellung, Karten seien detailgenaue Repräsentationsflächen geographischer und historischer Sachverhalte. Gleichwohl gibt es Beispiele für den konkret waffenförmigen Charakter der Karte, so die von der Ostforschungs-„Publikationsstelle“ (PuSte) Berlin-Dahlem hergestellten Kartenwerke im Marschgepäck von Wehrmacht, Polizeibataillonen und SS-Einsatzgruppen. Diese Karten erregten als willkommenes Osteuropa-Know-how auch das Interesse der alliierten Siegermächte im beginnenden Kalten Krieg, wie WOLFGANG KREFT und CHRISTINA SOHL (Marburg) darlegten.

Doch konnte das kartographische Instrument nur in spezifischen historischen Kontexten und Machtverhältnissen seine intendierten Wirkungen entfalten. So gab es im Staatenbildungsprozess nach dem Ersten Weltkrieg eine Deutungskonkurrenz verschiedener Versionen ethnischer Karten, nämlich bei der Untermauerung von Gebietsansprüchen in Grenzverhandlungen. Die polnische Delegation auf der Versailler Konferenz hatte nach Meinung der Zeitgenossen sprichwörtlich die besseren Karten, nämlich den schon während des Krieges in Auftrag gegebenen „statistisch-geographischen“ Atlas polski3, während andere Parteien auf die Improvisationskünste der Konferenzkartographen und auf veraltete Daten zurückgreifen mussten, wie DARIUSZ PRZYBYTEK und GRZEGORZ STRAUCHOLD (Wrocław) zeigten. Sie kombinierten in ihrer Übersicht zur polnischen Kartographie der deutsch-polnischen Grenzgebiete ein verständigungspolitisch inspiriertes Entgegenkommen gegenüber einer angenommenen, aber nicht mehr dem Diskussionsstand entsprechenden deutschen Perspektive („zwei Teilungen Deutschlands“) mit einem Festhalten an polnisch-nationalen Sichtweisen hinsichtlich der historischen Ostgebiete Polens – ein Vorgehen, das einigen Widerspruch herausforderte.

Wie UTE SCHNEIDER (Essen) darlegte, steht die – von der Diplomatiegeschichte unterschätzte – ethnische Kartographie, die während der Diskussionen im Kartenraum von Versailles erstmals politisch manifest wurde, in einem globalen wissenschaftshistorischen Kontext, der nicht auf Europa und die Epoche der beiden Weltkriege reduziert werden sollte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts versprachen die neuen statistischen Methoden der Nationalökonomie und die seriellen Daten der Volkszählungen eine vermeintlich naturwissenschaftlich präzise Darstellung von demographisch-ethnischen Gegebenheiten in Karten. Vor dem Hintergrund eines gleichzeitig formulierten Anspruchs auf Ver(natur)wissenschaftlichung der Geographie seien auch die geopolitischen Arbeiten Friedrich Ratzels zu sehen, dessen Werk, so Schneider, nach wie vor zu stark auf das NS-Vordenkertum reduziert werde und folglich einer Historisierung harre.

Schließlich war im Versailler Kontext letztlich nicht das Kartenwerk selbst, also der Text und seine Grammatik der entscheidende Faktor, sondern seine Positionierung im Nachkriegs-Machtgefüge. Die ungarischen Kartenwerke, die hinsichtlich wissenschaftlich-technischer Standards den polnischen vergleichbar waren, konnten die Gebietsverluste von Trianon nicht verhindern. Wie RÓBERT KEMÉNYFI (Debrecen) darlegte, hat das Trauma des territorialen Verlusts zur bis zum heutigen Tage andauernden Perpetuierung der in der Zwischenkriegszeit geprägten „zentrifugalen“ Kartographie in Ungarn geführt: Um das – tiefrot markierte – Kernterritorium herum wurden die nun außerhalb der Staatsgrenzen liegenden Peripherien mit den roten Einsprengseln ungarischer Siedlungsgebiete angeordnet, das Karpatenbecken als ein auf Kern-Ungarn bezogener Kontext reklamiert. Keményfi verwies auch auf die medienimmanenten Eigenschaften der ethnischen Karten: Gerade die hochpräzise statistische Datengrundlage suggeriere eine Genauigkeit und damit Legitimität der Darstellung, die aber statistisch nicht abgebildete Phänomene (Multilingualität, nationale Indifferenz, staatlich nicht als Minderheiten anerkannte Diasporagruppen) gerade unterschlage.

Damit war ein zentraler Aspekt angesprochen, der auch in den Überlegungen zur Kartendidaktik zum Tragen kam. VADIM OSWALT (Gießen) nannte als eine der „Lügen“ und immanenten Probleme der Kartendarstellung eben diese Unschärfe aufgrund falscher oder fehlender statistischer Information genauso wie die Verfahren von Reduktion, Ausklammerung von Sachverhalten oder Herstellung trügerischer Eindeutigkeit. Ein Anliegen der modernen Geschichtsdidaktik, insbesondere jener der 1970er-Jahre, sei daher die Dekonstruktion des Abbildungsmythos gewesen. Im frühen 20. Jahrhundert stand hingegen das Memorieren und der Erwerb prüfbaren Kartenwissens im Vordergrund, in den Reformschulbüchern der 1920er-Jahre die Veranschaulichung von Sachverhalten. Die neueste Kartendidaktik wiederum zentriere sich zunehmend um „Gattungskompetenz“ und methodische Fragen des Umgangs mit Raum.

Um die heute von Schülern geforderten Kompetenzen ging es auch bei ARMIN HÜTTERMANN (Ludwigsburg). Dazu zählten die Kartenlesekompetenz, die Orientierung in Realräumen und die Reflexion von Raumwahrnehmung und -konstruktion, was die Reflexion der Schritte von der Aufbereitung der Daten bis zur graphischen Darstellungsweise hin zum Kartenwerk einschließe. Die Einbeziehung des Kontextes (Karten-Bild-Text-Komplex) sei dabei von zentraler Bedeutung, keine Karte sei aus sich heraus interpretierbar. Hüttermann betonte in der Diskussion die Kontextabhängigkeit guter Geschichtskarten: Diese seien vor allem innerhalb von erklärenden Texten zu finden, während die auf Verallgemeinerung abzielenden Geschichtsatlanten das eigentliche Problem seien. Wenige Erkenntnisse gebe es aber nach wie vor über die Rezeption von Kartenwerken durch die Adressatengruppen.

HANS-DIETRICH SCHULZ (Berlin) bestätigte diese Reichweitengrenzen der didaktischen Kartographie. Andererseits war sein Vortrag dazu angetan, überzeugend und vergnüglich glauben zu machen, wie ein rhetorisch und performativ begabter Geographielehrer im Verbund mit suggestiven Kartenwerken auch den indolentesten Schüler geopolitisch auf Trab zu bringen vermocht hätte. Die deutsche Geographie habe „nicht in Staaten, sondern in Ländern“ gedacht und kartiert – „Völker“ wurden nach ihrem Verhältnis zu dem ihnen naturräumlich zugewiesenen „Ländern“ und den existierenden Staatsgrenzen klassifiziert, was die Unterscheidung von Völkern „ohne Raum“ bzw. zur Raumkontrolle unfähiger oder über ihre natürlichen Grenzen hinweg expandierender Völker führte. Viele dieser Sichtweisen seien auch in modernen Karten nachweisbar, etwa wenn die Instabilität von Vielvölkerstaaten oder die Unverrückbarkeit von Nationalstaatsgrenzen kartographisch insinuiert werde.

Widerspruch gab es in der Diskussion zur These von den Karten-“Lügen“ – die Leistungen der graphischen Semiologie bei der Darstellung hochkomplexer Sachverhalte sollten nicht unterschätzt werden. Erhellend war daher der Beitrag von DIRK HÄNSGEN (Leipzig), der eben diese Kartensprachen und -grammatiken thematisierte. Auch moderne Kartensprachen hinterfragen demnach nicht das Konzept der möglichst präzisen Repräsentation: Die chorèmes nach Roger Brunet zielen auf eine schematische Darstellung des gewählten Raumausschnitts bei gleichzeitiger Berücksichtigung seiner Komplexität und historischen Veränderung; als Instrument dient ein auf geometrischen Grundformen aufbauendes Zeichensystem. Hänsgen verwies auf erstaunliche Parallelen zwischen diesem modernem französischem „Geodesign“ und den Kartensignaturen der deutschen geopolitischen Schule. Was der Historikerin auffällt, aber vom Geographen Hänsgen nicht thematisiert wurde, ist der zeitverschobene Vergleichsfall zum Verhältnis Annales-„Volksgeschichte“, die beide ebenfalls bei krass divergenten politischen und ideologischen Kontexten die methodologische Innovation und den Anspruch der getreueren und ganzheitlichen Darstellung hochkomplexer Sachverhalte gemeinsam hatten.

Ein ganzer Block von geschichtsregionalen Beiträgen beleuchtete die Bedeutung der Kartographie für die Wahrnehmung spezifischer (Grenz-)räume in ihren historischen Zusammenhängen. Das europäische Sample zeigte die Vielfalt von Verfahrensweisen am Übergang von der Repräsentativität zur Instrumentalität auf, schärfte aber auch die Wahrnehmung für transnational nachweisbare mediale und formale Aspekte. Dies demonstrierte an vielfältigen Beispielen im europäischen Vergleich PETER HASLINGER (Marburg / Gießen) in seinem Einführungsvortrag zu Karten als „Medium der politischen Selbstpositionierung“. Diese erfolgte auch mittels farbpsychologischer Verfahren: Wie im Fall der Ungarn wählten auch andere Auftraggeber die rote Farbe zur Markierung der „eigenen“ Gruppe als dominantem und aktivem Faktor, während anderen Kollektiven unscheinbare Farben zugeordnet wurden. Insellagen-Bevölkerungen wurden so implizit als Vorreiter der eigenen Kultur in einer passiven Umgebung präsentiert.

GUNTRAM HERB (Middlebury) präsentierte die „suggestiven“ deutschen Karten der Zwischenkriegszeit, welche den Schock von Versailles zu verarbeiten trachteten („Einkreisung“, „Abschneidung“ als Leitmotive) und gleichzeitig in eingängiger Farbgebung nach der Agenda zu seiner Revision riefen. Dies seien, so die damalige Auffassung, die „besseren“ Karten, welche den guten der Gegner wissenschaftlich Paroli bieten konnten. Herb plädierte ebenfalls für eine Historisierung der „Kulturboden“-Geographie im Kontext der Weimarer Republik. Es handle sich hier um eine mit dem Nationalsozialismus eigentlich relativ inkompatible “rhizomorphe“ Protestbewegung gegen den Status quo der Zwischenkriegszeit, die schon vor 1933 von vielfältigen Erfolgsaussichten befeuert wurde: von der Zustimmung in breiten Gesellschaftsschichten, den materiellen Vorteilen, die sich aus der Begründung von Forschungsstellen und aus Forschungskooperationen mit Militärs ergaben, schließlich der Durchsetzung der eigenen Kartographie im „Putzger“ und in Schulbüchern.

RALF FORSTER (Potsdam) lieferte zu dieser deutschen Kartographiegeschichte einen komplementären Beitrag von der medialen Schnittstelle zwischen Karte und Film. Die animierten Karten in deutschen Wochenschauen und Lehrfilmen sind ein weithin noch unentdecktes Feld, in dem Fragen der Performanz aufgeworfen werden: Die Animationstechnik ermöglichte neue Formen der feldherrenhaften Draufsicht auf Schlachtfelder sowie eine nie gekannte Dramatisierung und Blicklenkung in der Kartographie. Die Kombination von Trickfilmkarte und bewegtem Bild in Filmausschnitten sorgte für eine neuartige intermediale Zusprechung von Authentizität. Beides machte die animierte Karte zu einem hervorragenden Medium des NS-Propagandafilms (so in „Der Ewige Jude“), unterwarf sie aber auch den Wechselfällen der Kriegshistorie: Dominierten zu Beginn des Zweiten Welkrieges die großen, durch Vorstoßpfeile dynamisierten Kartenpanoramen der siegreichen Feldzüge, wurden diese nach der Wende des Krieges durch kleinräumige Karten ersetzt, deren Aufgabe die Verschleierung der Rückzugsbewegung war.

MIROSLAV NĚMEC (Ustí nad Labem) illustrierte am Beispiel tschechoslowakischer Schulatlanten und ihres Umgangs mit multilingualen Gebieten eine kakanisch-pragmatische Unaufgeregtheit, die im Europa der Zwischenkriegszeit selten war und auf den Transfer von österreichischen Vorkriegskartenwerken in den neuen Kontext zurückzuführen ist. Nicht Kampf, sondern „Frieden der Karten“ sei das Leitmotiv der tschechoslowakischen Kartographie gewesen. SYLVIA SCHRAUT (München) nahm sich die geopolitischen Sichtweisen und Sichtachsen deutscher, österreichischer, britischer und US-amerikanischer Geschichtsatlanten vor. Deren Unterschiede gründeten nicht zuletzt auf externen Faktoren (Vorhandensein bzw. Fehlen staatlicher Curricula, politische Vorgaben, persönliche Erfahrungen und Beziehungen der Kartenautoren). SUSANNE GRINDEL (Braunschweig) konstatierte bei ihrer Analyse der Kartographie kolonialer Herrschaft in europäischen Schulbüchern am Beispiel Afrikas, dass die koloniale Kartensprache auch in der postkolonialen Epoche prägend blieb: Das Denken in Kolonialgrenzen und Einflusssphären mit den immergleichen Farbverteilungen („britisch rot“) ersetzte die Frage nach vorkolonialen Herrschaftssystemen, Kulturen und Siedlungsformen. Auch afrikanische Staaten hielten in ihren Schulbüchern an dieser Sprache fest, allerdings mit der entgegengesetzten Absicht der Kolonialismuskritik.

CHRISTIAN LOTZ (Leipzig) untersuchte die Darstellungspraktiken des deutsch-polnischen Grenzraumes in west- und ostdeutschen Kartenwerken und resümierte, dass es weder kartenimmanente Gründe noch politische top-down-Entscheidungen gewesen seien, welche die Gebiete „unter polnischer Verwaltung“ in westdeutschen Kartenwerken vom Schulatlas bis zur Tagesschau-Wetterkarte verschwinden ließen. Lotz nannte ein ganzes Ursachenbündel aus pragmatischen Erwägungen (Vermeidung von diplomatischen Ärgernissen in der Außenpräsentation), gesellschaftlichem Wandel im Zuge der bundesdeutschen Westorientierung und politischer Neuorientierung in der neuen Ostpolitik. In der Diskussion wurde entsprechend auch der Vermutung Raum gegeben, dass es paradoxerweise gerade der Erfolg des rheinischen Kapitalismus war, der das öffentliche Interesse von den ehemaligen Ostgrenzen weg verlagerte und folglich auch die kartographische Sichtweise der Adenauer-Jahre obsolet machte.

Einen Einblick in die Kartographie als Identitätstext anhand neuesten Quellenmaterials lieferte Steffi FRANKE (Leipzig) am Beispiel der Europäischen Union und ihrer für die Öffentlichkeitsarbeit konzipierten Karten. Solche Karten reflektierten das neue Selbstverständnis der osterweiterten EU als globaler Akteur und reproduzierten gleichzeitig ein hochproblematisches Europabild: Einem pluralistischen, farbigen Inneren der EU-Länder stehe eine diffuse Außenwelt ungeklärter Verhältnisse gegenüber. Farbhierarchien, die den Erweiterungsprozess begleiten bzw. rückblickend darstellen, verstärkten die In- und Exklusion: Blaufärbung verschiedener Intensität für Mitgliedsländer und Anwärterstaaten, grüner „ring of friends“, grau für den Rest. Ahistorizität sei das Markenzeichen dieser Karten, die auf Antizipation der Zukunft, weniger aber auf das historische Gedächtnis Europas oder gar seine postkoloniale Verantwortung zielten.

Wenngleich das friedliche EU-Flaggen-Blau das aggressive Rot der „Unsrigen“ früherer Epochen abgelöst hat, scheint doch hier die Karte als suggestives Ausdrucksmittel von Machtansprüchen einen späten Triumph zu feiern – fest etabliert im demokratischen Europa und außerhalb der Forschung nach wie vor erstaunlich wenig angefochten. Ein Anliegen an diese Forschung wäre folglich, die eigenen Erträge offensiver als bisher in die öffentlichen Räume, die Parlamente und die Schulhäuser zu tragen.

Konferenzübersicht:

1) Methodische und theoretische Perspektiven

Ute Schneider (Essen)
Der geographisch-politische Blick auf Raum

Peter Haslinger (Marburg/Gießen)
¬¬Karten als Medium der politischen Selbstpositionierung

Armin Hüttermann (Ludwigsburg)
Kompetenzen und Bildungsstandards. Karten in geographiedidaktischer Sicht

Vadim Oswalt (Gießen)
Vom repräsentativen zum instrumentellen Modell? Karten in geschichtsdidaktischer Sicht

2) Karten als Mittel von Propaganda im Europa der Zwischenkriegszeit

Guntram Herb (Middlebury)
Das größte Deutschland soll es sein. Suggestive Karten in der Weimarer Republik

Róbert Keményfi (Debrecen)
Die ethnische Kartographie als Mittel der Machtpolitik

Dariusz Przybytek (Breslau)/Grzegorz Strauchold (Breslau)
Die politische Kartographie in der Zeit der Entstehung Polens
(1916-1922)

Ralf Forster (Berlin)
Animierte Karten. Nachgestellte Kriege und symbolische Landnahmen in
deutschen Kulturfilmen und Wochenschauen 1921-1945

3) Karten als Instrument didaktischer Vermittlung

Hans-Dietrich Schultz (Berlin)
Umgang mit ethnischen Karten im Geographieunterricht früher und heute

Susanne Grindel (Braunschweig)
„...soviel von der Karte von Afrika britisch rot zu malen als möglich“.
Karten kolonialer Herrschaft in europäischen Schulbüchern des 20. Jh.

Sylvia Schraut (München)
Geschichtskonzepte im Geschichtsatlas – der Wandel von Schulgeschichts-
atlanten in Deutschland, Österreich, Großbritannien und den USA in der
Zwischenkriegszeit

Miroslav Nĕmec (Ústí nad Labem)
Geschichtsatlanten im Schulunterricht. Umgang mit Sprachenvielfalt und Multi-
kulturalität in der Tschechoslowakei während der Zwischenkriegszeit

4) Methodologische Aspekte der Kartendarstellung und ihre ideologischen Implikationen

Steffi Franke (Leipzig)
Die Kartierung der europäischen Nachbarschaft. Kartographische Narrative für eine neue Frontier

Dirk Hänsgen (Leipzig)
Chorematische Kartensprache zwischen französischem Geodesign und deutscher Geopolitik – ein Leseversuch

Wolfgang Kreft (Marburg)/Christina Sohl (Marburg)
Landkarten als Waffe. Die Arbeit der Publikationsstelle Berlin-Dahlem seit 1933

Christian Lotz (Leipzig)
Der Knick in der Karte. Der internationale Streit um die kartographische Darstellung des deutsch-polnischen Grenzraumes (1956-1975)

Anmerkungen:
1 John B. Harley, The New Nature of Maps. Essays in the History of Cartography, Baltimore 2001; Jeremy Black, Maps and Politics, London 1997.
2 Ute Schneider, Die Macht der Karten: eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004.
3 Geograficzno-statystyczny Atlas polski. Redagowany i opracowany przez Eurgeniusza Romera, Warszawa u.a. 1916. Dieser Atlas wurde auch in deutscher und französischer Sprache herausgegeben.