Europäische Herrscher und die Toskana im Spiegel der urkundlichen Überlieferung/ I sovrani europei e la Toscana nel riflesso della tradizione documentaria

Europäische Herrscher und die Toskana im Spiegel der urkundlichen Überlieferung/ I sovrani europei e la Toscana nel riflesso della tradizione documentaria

Organisatoren
Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig; Dipartimento di Studi sul Medioevo e Rinascimento – Sezione di Paleografia „Luigi Schiapparelli“ dell’Università degli studi di Firenze
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.12.2009 - 12.12.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Marie Schmidt, Lehrstuhl für Baugeschichte, Brandenburgische Technische Univerisät Cottbus

Die Tagung „Europäische Herrscher und die Toskana im Spiegel der urkundlichen Überlieferung/I sovrani europei e la Toscana nel riflesso della tradizione documentaria (800-1100)“ wurde von Mitstreitern des internationalen datenbankgestützten Forschungsprojektes „Italia Regia“1 veranstaltet. Ziel des Projektes ist die Untersuchung und Online-Präsentation von Urkunden (zunächst Placita und Herrscherurkunden) im Kontext der Empfängerüberlieferung im Regnum Italiae im Zeitraum von circa 800-1100 und damit ein Perspektivwechsel gegenüber der Ausstellerperspektive der Monumenta Germaniae Historica (MGH), der Regesta Imperii (RI) und der Fonti per la Storia d’Italia (FSI).

ANTONELLA GHIGNOLI (Florenz/Italia Regia) oblag die Vorstellung der Datenbank des Projektes. Die Arbeit an den Dokumenten wird zwischen den Universitäten von Paris, Florenz und Leipzig sowie der Scuola Normale Superiore di Pisa (LARTTE) koordiniert. Ghignoli zeigte die getrennte Eingabe der Daten durch die Bearbeiter und die externe Abrufung durch den Nutzer, wobei die Dynamik des Systems hervorgehoben und die Vernetzung der einzelnen schede „intern“ wie „extern“ erläutert wurde. Für die Region Toskana sind 127 Diplome und 57 Placita bearbeitet, die nun validiert werden.

WOLFGANG HUSCHNER (Leipzig/Italia Regia) stellte vor, in welchen Punkten das Projekt an moderne Ansätze der Diplomatikforschung (Urkunden als audiovisuelles Kommunikationsmittel im personellen Elitengefüge statt klassischer Kanzleitheorie) anknüpft und sie weiterentwickelt. Aufgrund neuer Originalfunde sei die diplomatische und historische Bewertung von einzelnen Urkunden, deren Überlieferungsformen, der „Kanzleigewohnheiten“, aber auch von Herrschaftsstrukturen neu zu überdenken. So sollte die oft strikte Dualität von Fälschung und Original durch die Auswertung der kopialen Überlieferung, insbesondere der imitierenden Kopien, erweitert werden. Huschner stellte außerdem einige ungewöhnliche „Design-Experimente“ auf Urkunden vor und diskutierte deren Bedeutung im Hinblick auf die Übernahme älterer Traditionen sowie die Fernwirkung der Dokumente.

Der Vortrag von FRANÇOIS BOUGARD (Paris/Italia Regia) erörterte die von der Forschung abhängige Wahrnehmung der Überlieferung von Gerichtsurkunden. Da sich Cesare Manaresi auf die durch öffentliche Gewalten ausgestellten Placita konzentrierte, seien von geistlicher Seite ausgestellte Placita (unvollendete Hübner-Regesten) schwerer fassbar. In Bezug auf das Formular der Dokumente sei ein Vergleich der drei Großräume Westfranken, Ostfranken und Italien notwendig. Für die Region Italien spiele die Entstehung des Notariates eine besondere Rolle. Bougard stellte fünf übliche Formulare vor und thematisierte die Rolle des Placitums bei der Konfliktaustragung. Eine statistische Auswertung der Urkunden in den einzelnen Regionen Italiens und innerhalb der Toskana machte deutlich, dass in der Toskana die meisten Placita anzutreffen sind, wobei Lucca deutlich hervortritt. Die chronologische Verteilung zeigt ein Minimum der Überlieferung im 10. Jahrhundert. Ferner stellte Bougard anhand der äußeren Merkmale einzelner Placita eine Hypothese zur Entstehung dieser Urkunden vor. In der Diskussion wurde erörtert, warum Notare zwar Placita, nie aber Diplome schrieben. Letzteres blieb eine Aufgabe der Geistlichkeit.

Mit der Neuberwertung von Diplomen als Original, Fälschung oder (imitierende) Kopie auf der Basis der im Projekt „Italia Regia“ angewandten differenzierten Herangehensweise, beschäftigten sich drei Vorträge und gelangten teils zu von der maßgeblichen Edition abweichenden Ergebnissen. So unternahm SEBASTIAN RÖBERT (Leipzig/Italia Regia) eine Neubewertung der karolingischen Urkundenüberlieferung für das Kloster San Salvatore al Monte Amiata (insbesondere Urkundenpaare von Ludwig II., Arnulf von Kärnten, Berengar I.). Es sei dabei kein einheitliches Muster der Abhängigkeit zu erkennen, so dass die Urkundenpaare differenziert bewertet werden müssen. Der Referent hob die Sonderstellung der beiden äußerlich sehr ähnlichen Arnulfurkunden hervor und zeigte Abhängigkeiten bei den als Fälschungen eingestuften Urkunden auf (besonders D Lu. II. 71 zu D Wido 18). Die zeitliche Nähe der Ausstellungen zu den jeweiligen Kaiserkrönungen unterstreiche die Rolle des Klosters. Die Diskussion kam hier vom eigentlichen Thema des Vortrages ab und ging vor allem auf die Motive von Fälschungen ein. Außerdem wurde überlegt, welche Überlieferungsform (Original oder imitierende Kopie) am Herrscherhof als Vorurkunde vorgelegt wurde.

ANTONELLA GHIGNOLI (Florenz/Italia Regia) ging in ihrem zweiten Vortrag auf Probleme bei der Einschätzung der Überlieferung zweier Luccheser Urkunden (DD O. I. 270, O. III. 269) ein. Allerdings traf Ghignoli keine abschließende Entscheidung hinsichtlich Pseudo-Original oder verunechtete imitierende Kopie für das D O. I. 270. Das D O. III. 269 hingegen ordnete sie, wie auch die MGH, unter ausführlicher Diskussion der signifikant voneinander abweichenden Methoden von Sickel und Bresslau, als Fälschung ein, wobei jedoch Bezüge zu einer echten Urkunde Ottos III. zu erkennen seien. Wolfgang Huschner ergänzte in der Diskussion, dass der Bezug zu einem Originaldiplom auch durch die typische Rekognition von Heribert (C) angenommen werden könne.

Mit drei von Otto III. zwischen 996 und 1000 ausgestellten Diplomen zugunsten seines Getreuen Manfredo aus der Familie der Ripafratta, befasste sich ANDREA ANTONIO VERARDI (Rom). Die Charakteristika des ersten Diploms (D O. III. 223) ließen nicht an dessen Authentizität zweifeln. Das D O. III. 382 hingegen weise beachtliche Ungereimtheiten auf und wird aus diesem Grund von den Editoren auch als Kopie eines authentischen Textes mit Interpolationen eingestuft. Verardi hingegen hält die Urkunde für eine Fälschung auf Basis des D O. III. 421, zu welchem die Ripafratta leichten Zugang gehabt hätten. Grund der Fälschung sei das Vorgehen der Kommune von Pisa während der Zeit des „governo popolo“ am Ende des 13. Jahrhunderts gewesen, welches die Adligen und somit auch die Ripafratta zwang, ihre Besitzungen und Rechte zu belegen. Die anschließende Diskussion zeigte jedoch deutliche Zweifel an dieser These.

In der räumlich und zeitlich am weitesten gefasste Sektion III wurden durch die gewählten Vergleichsdimensionen die Grenzen der Toskana überschritten. Die Zeit der italienischen „Nationalkönige“ von 888-926 war Thema des Vortrages von KARINA VIEHMANN (Leipzig/Italia Regia). Anhand von Karten wurde festgestellt, dass die Herrschaftsbereiche der verschiedenen Könige und Kaiser vor allem durch die Präsenz ihrer Urkunden am Empfängersitz bestimmt werden und die Toskana dabei als ein Randgebiet der Herrschaft erscheint. Charakteristisch für die Urkunden für Empfänger in der Toskana in dieser Zeit sei, dass, im Gegensatz zu Oberitalien, die Urkunden ohne Ausnahme von herrschernahen Schreibern verfasst wurden und zum größten Teil als Besitzbestätigungen an bischöfliche Kirchen gegangen seien. Die in den Urkunden genannten Fürsprecher kämen meistens aus der Region selbst. Als Praxis der Urkundenausstellung vermutete die Referentin in herrschaftsfernen Gebieten eine anfängliche Begünstigung von Institutionen, die von einer späteren Konzentration auf Personennetzwerke abgelöst worden sei. Die Diskutanten hoben eine Ähnlichkeit von Toskana, Aquitanien und Bayern als Fernzonen von Königsherrschaft hervor. Darüber hinaus wurde die außergewöhnlich hohe Überlieferungschance der Urkunden Berengars I. erörtert.

WOLFGANG HUSCHNER (Leipzig/Italia Regia) betrachtete die Diplome nicht nur als Medium der Repräsentation von Herrschern, sondern als Teil der transalpinen Wechselwirkungen innerhalb der Eliten. Anhand aufgeführter Beispiele betonte Huschner, dass nicht subalterne Kanzleibeamte, sondern die an der Urkundenausstellung (Verhandlung und Verschriftlichung) beteiligten Großen das Bild der Urkunde maßgeblich beeinflussten. Besonders der intensive transalpine Austausch unter Otto III. nach 996 habe charakteristische Veränderungen im äußeren Erscheinungsbild der Urkunden gefördert. Zudem wurde die Rolle Kadelohs von Naumburg als Urkundenempfänger sowie Urkundenschreiber für süd- und nordalpine Empfänger hervorgehoben. Die Zuweisung eines Urkundenschreibers könne über Subskriptionen, etwa in Placita oder Synodalurkunden erbracht werden. Aufgrund des hohen Empfängereinflusses wurde in der Diskussion nach der Autorität des herrscherlichen Ausstellers gefragt und in diesem Zusammenhang die Eigenhändigkeit von Vollziehungselementen auf Urkunden debattiert.

Dass für die Beurteilung von Placita unterschiedliche Phasen und die Logik der Empfänger einzubeziehen seien, illustrierte FRANÇOIS BOUGARD (Paris/Italia Regia) in seinem zweiten Vortrag. Nachdem es unter Langobarden und Merowingern verschiedene Formen von Gerichtsurkunden gegeben habe, blieben in der Karolingerzeit lediglich die Placita der missi als Regelfall übrig, in denen der König nur selten präsent gewesen sei. Unter den Ottonen und Saliern steigere sich in den Placita sowohl die Präsenz des Königs als auch die des Markgrafen in der Toskana. Da die Streitparteien nun einem höheren sozialen Rang angehörten, sei die Gerichtsbarkeit stärker zum Politikum geworden, weswegen sich auch neue Formularien der Urkunden entwickelt hätten. Anschließend diskutierte Bougard die Ostensio Cartae in einzelnen Fällen und kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass Placita einen protokollarischen Charakter haben, aber auch ein Diplom unterstützen konnten. Seit dem 10. Jahrhundert seien auch formale Annäherungen zwischen Diplomen und Placita nachzuweisen, welche sich im 11. Jahrhundert noch verstärkten. Damit sei das Placitum fast gleichwertig mit dem Diplom, aber bedeutend „preiswerter“. In der anschließenden Diskussion verneinte er die Frage nach aktiver königlicher Mitwirkung an der Rechtssprechung.

Ausgehend von der Herrscherperspektive wurde in zwei Vorträgen das Gefüge der lokalen Gewalten in der Toskana charakterisiert. GIULIA BARONE (Rom) widmete sich den Beziehungen päpstlicher Privilegien und kaiserlicher Diplome für toskanische Klöster. Sie stellte dabei keinen Gegensatz, sondern eine Akkumulation von Rechten und Freiheiten fest. Anfangs sei allerdings im Unterschied zu kaiserlichen Privilegien eine schlechte Überlieferung von Papsturkunden zu konstatieren. Erst mit Leo IX. (1049-1054) nehme die Überlieferung für toskanische Klöster deutlich und aufgrund bewusster Politik zu. Anschließend wurden die Form der Empfängerausfertigung für Herrscher- und Papsturkunden und deren verschiedene Varianten diskutiert, wobei für die päpstlichen Dokumente der Kenntnisstand noch zu gering sei. Peter Herde (Würzburg) verwies auf hochmittelalterliche Parallelen.

NICOLANGELO D’ACUNTO (Brescia/Mailand) versteht den König und den Markgrafen der Toskana als partiell konkurriende „Anbieter“ von „servizi pubblici“ und Gerichtsbarkeit. Dieses von Misstrauen geprägte Verhältnis erlebe im Jahre 1027 mit der Absetzung des Markgrafen Rainer und der Etablierung der Familie Canossa eine Zäsur. Der in dieser Zeit zu verzeichnende Rückgang der Herrscherdiplome für die Markgrafen, besonders unter Heinrich IV., lasse sich vermutlich auf ein neues Autoritätsbewusstsein dieses Königs zurückführen. In der Hofkapelle Mathildes von Tuszien sei die offene Ablehnung des Königs anzutreffen, dennoch finde sich in den Placita eine konstante Berufung auf das bannum regis, auch wenn die Gerichtsgewalt vom Markgrafen ausgeübt wurde. Auf die anschließende Frage nach dem Verhältnis von Markgraf und König zur Zeit Konrads II. verwies D’Acunto auf die aktivere Italienpolitik im Vergleich zu Heinrich II. Entscheidend jedoch sei der mit den markgräflichen Interessen kaum zu vereinbarende Reformgeist Heinrichs III. im Gegensatz zur „Simoniepraxis“ Konrads II. gewesen. Der Begriff der „chiesa marchionale“ sei eine Arbeitshypothese, die für die enge Beziehung der Bistümer zum Markgrafen der Toskana stehe. Generell führten sich etwa viele Klöster auf Markgraf Hugo zurück.

In der abschließenden Diskussion – wie auch während der gesamten Tagung – wurden die Vorteile einer empfängerbezogenen Betrachtung, sowohl bei der Bewertung von Einzelstücken als auch für ein Urteil über die Stellung bestimmter Institutionen in bestimmten Regionen (z. B. Monte Amiata), hervorgehoben. Deutlich wurden auch die gegenseitigen Beziehungen zwischen Herrscherdiplomen und Placita, während Papsturkunden erst ab dem 11. Jahrhundert eine Rolle spielten. Die schnellstmögliche Veröffentlichung der neu aufgefundenen Originale wurde im Laufe der Tagung mehrfach angeregt. Auch die Publikation von Abbildungen wurde als wichtiges Desiderat hervorgehoben, da sich aus den äußeren Merkmalen der Dokumente in erheblichem Ausmaß neue Erkenntnisse ableiten lassen, wie die Tagung zeigte. Auf die Frage, wie unbekannte Originale in Archiven aufzufinden seien, ließ sich keine konkrete Strategie festhalten. Sowohl systematisches Suchen als auch zufällige Funde, vor allem in unsortierten Archivbeständen, können die vorhandene Überlieferung erweitern. Insgesamt wurde das Projekt „Italia Regia“ als lohnend und durch die systematische Einbeziehung der äußeren Merkmale bei der Beurteilung von Urkunden als erkenntnisfördernd eingeschätzt.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Aktueller diplomatischer Überlieferungsstand und historische Forschung
Moderation Andreas Meyer (Marburg an der Lahn)

Wolfgang Huschner (Leipzig/Italia Regia) – Originale, Kopien und Fälschungen von Herrscherurkunden für Empfänger in der Toskana

François Bougard (Paris/Italia Regia) – Notai e placiti in Toscana fino al secolo XI

Antonella Ghignoli (Florenz/Italia Regia) – Il sistema informatico del progetto „Italia Regia“. Risultati per la Toscana

Sektion II: Klöster und Herrscher
Moderation Silio P. P. Scalfati (Pisa)

Giulia Barone (Rom) – Diplomi imperiali e privilegi pontifici per monasteri toscani

Antonella Ghignoli (Florenz/Italia Regia) – Diplomi regi e imperiali per monasteri di Lucca (962-1100)

Sebastian Röbert (Leipzig/Italia Regia) – Originale und Fälschungen karolingischer Urkunden für das Kloster San Salvatore al Monte Amiata

Sektion III: Bischöfe, Domherren und Herrscher
Moderation Irmgard Fees (München)

Karina Viehmann (Leipzig/Italia Regia) – „Oberitalienische“ Herrscherurkunden und ihre Empfänger in der Toskana (888-926)

Wolfgang Huschner (Leipzig/Italia Regia) – Ottonisch-salische Diplome für bischöfliche Kirchen in Sachsen und der Toskana

François Bougard (Paris/Italia Regia) – Diplomi e placiti per destinatari in Toscana

Sektion IV: Weltliche Große und Herrscher
Moderation Reinhard Härtel (Graz)

Nicolangelo D’Acunto (Brescia/Mailand) – I rapporti tra i marchesi di Toscana e i sovrani salici nel riflesso di diplomi e placiti (1024-1100)

Andrea Antonio Verardi (Rom) – I nobili di Ripafratta e tre diplomi di Ottone III. Diplomi imperiali e strategie di legittimazione nobiliare nel tardo medioevo

Anmerkung:
1 <www.italiaregia.it> (27.01.2010).


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts