Typen und Techniken wissenschaftlicher Konfliktführung in der respublica litteraria des 17. und 18. Jahrhunderts

Typen und Techniken wissenschaftlicher Konfliktführung in der respublica litteraria des 17. und 18. Jahrhunderts

Organisatoren
Kai Bremer, Gießen; Carlos Spoerhase, Kiel
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2009 - 25.09.2009
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Von
Michael Weise, Institut für Germanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen

Unsachlich und polemisch: Diese beiden Attribute beschreiben nicht die Arbeitsweise der Tagung in Gießen, sondern kennzeichnen die Form der Konfliktaustragung im 17. und 18. Jahrhundert, die im Mittelpunkt des hier anzuzeigenden interdisziplinären Kolloquiums in Gießen stand. Die Veranstalter KAI BREMER (Gießen) und CARLOS SPOERHASE (Kiel) hatten einen fächerübergreifenden Ansatz gewählt, um dem weiten Problemfeld der dissensualen Streitkultur in den frühneuzeitlichen Wissenschaftsfeldern gerecht zu werden. Die erörterten Fragen wie ein Konflikt angemessen ausgetragen, wie er normativ geregelt wurde, in welchem institutionellen Raum er stattfand und durch wen er kompetent zu lösen war, sind dabei keineswegs bloß aktuelle Forschungsdiskurse, sondern Problemstellungen, die schon die historischen Disputanten selbst beschäftigten.

Die Beiträge versuchten daher einerseits die frühneuzeitlichen Streitformen in der Gelehrtenrepublik phänomenologisch zu bestimmen, andererseits aber auch deren kommunikationsgeschichtliche Zusammenhänge einzuordnen. Anhand der referierten Beispiele sollte deutlich werden, wie der Dissens zur Entwicklung der wissenschaftlichen Kultur respektive der Wissenschaft selbst im Sinne von Wagners Sentenz „Seid nicht human, seid wissenschaftlich“ beigetragen hat. Grundlage dafür war eine Vielzahl von Beispielen, aus denen ein gemeinsamer Ansatz- und Ausgangspunkt der epistemischen und sozialen Kontroversenforschung gewonnen werden sollte.

Die Eröffnung der Tagung übernahm Carlos Spoerhase, der die Problemfelder der Kontroversenforschung umriss und ein Gerüst von Forschungsfragen aufstellte, anhand derer die folgenden Beiträge diskutiert werden sollten. MARKUS FRIEDRICH (Frankfurt am Main) schlug vor, die historische Kriminalitätsforschung für die Untersuchung des Dissens in der Gelehrtenrepublik fruchtbar zu machen, indem er dafür plädierte, neben den rationalen Diskursen der Akademiker die Bedeutung der Gefühle nicht zu vernachlässigen. Dass die gelehrte Streitkultur durchaus auch der Selbstinszenierung ihrer Protagonisten diente, exemplifizierte CASPAR HIRSCHI (Cambridge) an den Herausgebern englischer und französischer Wörterbüchern und den dazu gehörigen Rezensionen. Darin wurde durchaus nicht nur sachliche Kritik geäußert, sondern ebenso versucht Machtpositionen und Deutungshoheiten zu behaupten. Den theoretischen Unterbau für die Untersuchung der gelehrten Streitkultur lieferte der renommierte Kontroversenforscher MARCELO DASCAL (Tel Aviv). Er präsentierte eine Typologie von Streitformen, in der er drei (Ideal-)Formen unterschied: discussion, dispute und controversy. Die Klassifizierung kann nach Dascal anhand der Ziele, des Verlaufs, der Mittel, des kognitiven Zugewinns und des Endes des Streites vollzogen werden. Daneben stellte er verschiedene Interpretationsmodi vor und erläuterte seine Idee der soft rationality.

KLARA VANEK (Köln) wandte sich dann wieder der Praxis zu, indem sie Lobschriften des Hebräischen aus dem 16. Jahrhundert analysierte. Dabei zeigte sich, dass sich die Argumentationsmuster weder in synchroner noch in diachroner Perspektive wesentlich veränderten, sondern bis ins 18. Jahrhundert relativ konstant blieben und allenfalls eine inhaltliche Spezialisierung erfuhren. Weniger sachbezogen, dafür umso leidenschaftlicher ging der deutsche Dichterstreit zwischen Gottsched und den Zürchern vonstatten, den ALEXANDER NEBRIG (Berlin) im Hinblick auf seine Abhängigkeit von der Querelle des anciens et des modernes hin untersuchte. Dabei stellte er zwar einzelne rezipierte Elemente fest, kam jedoch zu dem Schluss, dass es sich nicht um eine Prinzipienauseinandersetzung handelte, sondern um Eitelkeits- und Deutungskontroversen. Eine Form der theologischen Streitführung referierte CHRISTOPHER VOIGT-GOY (Wuppertal), wobei er die „Unschuldigen Nachrichten“ von Valentin Ernst Löscher als Abgrenzungs- und Kontrollorgan innerhalb der lutherischen Kirche interpretierte, das durch seine Rezensionen die orthodoxe Lehrmeinung subkutan tradierte. LUTZ DANNEBERG (Berlin/Freiburg im Breisgau) wählte mit dem Deutungsproblem der Einsetzungsworte Jesu ein Exempel aus dem religiösen Bereich, an dem er Strategien, die Dissens lösen sollten und dabei selbst Dissens schafften, beispielhaft vorstellte. Signifikant war die Erkenntnis, dass die Diskussionen von Anfang an nicht ergebnisoffen geführt wurden, sondern schon die Beweisführung Teil der Polemik war. Zu einem analogen Ergebnis kam auch THOMAS HABEL (Göttingen) in seinem anschaulichen Vortrag über den Streit um den ‚Tonnaischen Elefanten’, der bis heute als eine Geburtsstunde der Paläontologie gilt. Der medial vielfältig geführte Streit fand in seiner Zeit weit über die Grenzen Sachsens Beachtung.

CORNELIS MENKE (Bielefeld) rekonstruierte im Anschluss den Beginn der Wissenschaftstheorie in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, um die der Tagung zugrunde liegende Frage, inwieweit Kontroversen als Motor der Wissenschaft begriffen werden können, theoretisch zu fundieren. Ein Modell für die linguistisch-pragmatische Kontroversenforschung entwickelte THOMAS GLONING (Gießen), das als Ergänzung oder sogar als Gegenmodell zur Typologie der Kontroversenklassifikation von Dascal fungieren könnte. Über den Rückgriff auf zentrale Parameter der Textkonstitution stellte Gloning Aspekte der dynamischen Konfliktverschärfung bei Leibnizens Streit mit dem hannoverschen Bergbauamt heraus. Zuletzt sprach IRIS BONS (Gießen) über Kontroversen in der Medizin im 17. und speziell im 18. Jahrhundert, wobei sie sowohl auf die Orte der Kritik wie auch auf die kommunikative Aufgaben des Streits einging.

In der Abschlussdiskussion machten unter anderem die Beiträge von GERD FRITZ (Gießen) und STEFFEN MARTUS (Kiel) deutlich, dass das Thema einer weiteren, eingehenden Bearbeitung bedarf, wofür ein interdisziplinärer vernetzter Ansatz die Grundlage bilden sollte. Es wurde vereinbart, ein Forschungsnetzwerk zum untersuchten Gegenstand zu gründen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch Horst Carl (GCSC) und Uwe Wirth (IfG)
Einführung in den Untersuchungsgegenstand
Kai Bremer und Carlos Spoerhase

Panel 1: Kulturhistorische Perspektiven der Kontroversenforschung
Moderation: Steffen Martus

Markus Friedrich:
Pascals Zorn. Eine Skizze zur (legitimen?) Rolle von Gefühlen im Theologenstreit an Hand der Briefe in die Provinz

Caspar Hirschi:
Ideale des Man of Letters und Formen der Selbstinszenierung in englischen und französischen Gelehrtenkonflikten, ca. 1720-1770

Marcelo Dascal:
Towards a typology of debates: Expanding the original framework.
Einführung und Moderation:
Gerd Fritz

Panel 2: Philologische und ideenhistorische Perspektiven der Kontroversenforschung
Moderation: Kai Bremer

Klara Vanek:
Epistemologische Strategien in Debatten in der Geschichte der Sprachwissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert

Alexander Nebrig:
Die Querelle des anciens et des modernes im literarischen Konfliktfeld der deutschen Aufklärung

Panel 3: Wissenschaftshistorische und theologische Perspektiven der Kontroversenforschung
Moderation: Carlos Spoerhase

Christopher Voigt-Goy:
Valentin Ernst Loeschers Unschuldige Nachrichten als Institution im Konflikt mit Pietismus und Frühaufklärung

Lutz Danneberg:
Von der interpretatio vera zur veritas hermeneutica und zur auctoritas als judex controversiarum theologicarum

Thomas Habel:
Paläontologische Kontroversen im Umfeld der Monatlichen Unterredungen

Cornelis Menke:
Die Entstehung des Neuen und der Konsens-Dissens-Streit

Panel 4: Linguistische Perspektiven der Kontroversenforschung
Moderation: Gerd Fritz

Thomas Gloning:
Linguistische Perspektiven auf die Kontroverse Leibniz vs. Bergamt über Windenergie

Iris Bons:
Kontroversen und Kritik in der
Medizin des 17. und 18. Jahrhunderts. Eine Bestandsaufnahme aus linguistischer Sicht

Arbeitsgespräch: Perspektiven interdisziplinärer Kontroversenforschung
Statements von Kai Bremer und Carlos Spoerhase
Diskussionsleitung: Steffen Martus

Kontakt

Michael Weise,
Institut für Germanistik,
Justus-Liebig-Universität Gießen, Otto-Behaghel-Str. 10 b,
35394 Gießen;
E-Mail: michael.r.weise@germanistik.uni-giessen.de


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